Helmut Heißenbüttel 

Wahrscheinlich ist es in den Wind geredet
Gespräch mit Hermann Rotermund am 2. März 1984 in Borsfleth

Hermann Rotermund: Herr Heißenbüttel, es geht mir schwerpunktmäßig in diesem Gespräch um die Aufhellung der literarischen Prozesse in den fünfziger Jahren. Sie haben damals mit Alfred Andersch zusammengearbeitet, sind mit Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt, Max Bense, auch mit Ernst Jünger zusammengekommen. Nach diesen Erfahrungen möchte ich Sie gerne befragen. Mich interessieren zunächst einmal die publizistischen Bemühungen, die es in ihrem persönlichen Arbeitszusammenhang von den fünfziger Jahren bis heute gegeben hat, darunter die Rundfunkarbeit, die ja als Arbeit mit Alfred Andersch begann. Sie haben damals immer auch Bezüge ein erseits zur Gruppe 47 und andererseits zu den Konkreten, Experimentellen gehabt und seit den fünfziger Jahren so etwas wie eine Mittlerrolle gespielt.

 Helmut Heißenbüttel: Letzteres habe ich von allem Anfang an so gesehen. Ich habe dazugehört und war eher mit den sogenannten Konkreten befreundet, aber ich hab auf beiden Seiten neugierig mitgeguckt, nicht? Die Neugier war eigentlich das Ausschlaggebende für mich. Und wie weit ich irgendwo zugehört habe, ist eine ganz andere Frage. Jetzt zum Anfang zurück: Publizistische Bemühungen, meinen Sie meine eigenen?
 
 

Ja – ich meine damit vor allem Literaturvermittlungsbemühungen, also Zeitschriften- und Rundfunkarbeit, aber natürlich auch diese informellen Verbindungen über Freundschaften, Vermittlung von Kontakten, also genau das, was heute nicht mehr erkennbar ist, was zugedeckt ist.

 Meine persönlichen Bemühungen fingen ja schon während des Krieges an, ich hab einmal Gedichte an den Suhrkamp-Verlag geschickt und damals einen Antwortbrief gekriegt mit einer Unterschrift, die ich zu der Zeit nicht identifizieren konnte, die aber „Hermann Kasack“ hieß, und das war der Anknüpfungspunkt später, deshalb hat Kasack später das Nachwort geschrieben für die „Kombinationen“. Und ein für ihn peinlicher Punkt war der, daß er diesen Brief mit „Heil Hitler!“ unterschrieben hatte. Den hatte ich aufbewahrt, das war so ein Unikum für mich. Meine Beziehungen auf der einen Seite waren so wie überall, daß ich gelesen habe, was ich an Zeitschriften kriegen konnte in der Zeit, und das war ja nicht so sehr viel. Zuerst veröffentlicht, ich weiß nicht, ob Sie das wissen, ist was in der „Deutschen Rundschau“, das ging über einen krummen Weg über den alten Pechel noch damals, das war 1953, wenn ich mich recht erinnere, hatte aber überhaupt keine Folgen. Und – das andere ergab sich, aus verschiedenen Dingen. Zunächst war für mich literarische Öffentlichkeit – das ging über die Uni, nicht? Und das, was ich da so gesehen hab, das lag an den Leuten, die auch literaturinteressiert waren, und ein bißchen auch daran, daß in Hamburg eine bestimmte Gruppierung – Boehlich, Wapnewski, Siegfried Lenz und so – war, die da studierten. Und dann auch dieser Brief von Kasack, den ich eines Tages wiederfand. Das fiel in dieselbe Zeit, wo Kasack im Oberseminar von Pyritz in Hamburg als Gast war und wir mit ihm reden konnten. Das war für mich so ein Zufall, und daraufhin hab ich ihm das geschickt, und wieder neue Gedichte hinge-schickt, und das kam dann an den Süddeutschen Rundfunk, zu Schwedhelm, von da zum Bechtle-Verlag, zu Leonhard, und dort hat das Manuskript dann Peter Härtling, der damals bei der Zeitung war, in Heidenheim, glaube ich, gelesen, und der kam dann nach Hamburg. Das führte dann wieder dazu, daß auch Kurt Leonhard nach Hamburg kam und wir darüber gesprochen haben, daß ich Weyrauch kennenlernte, und dies führte dann eben zu dem ersten Band und 1955 dann zur Einladung zur Gruppe 47. Das war für mich sozusagen die erste Begegnung mit Literatur überhaupt, also mit lebendiger Literatur. Die entsprach überhaupt nicht dem, was ich mir selber unter Literatur vorstellte. In einer Weise war ich in der Zeit von der kritischen Seite her viel rigoroser als heute, – also Ingeborg Bachmann, das war so eine Art Idol in der Zeit, und das war überhaupt die stärkste Enttäuschung, als ich dahin kam und die persönlich sah, daß das irgend so ein ganz normales Mädchen, so wie Tausende von Studentinnen war, etwas albern und affektiert, aber überhaupt nichts sonst. Was mich beeindruckt hat, war äußerlich: die fuhren alle mit Taxis und im Flugzeug, und ich dachte, die deutschen Schriftsteller müssen also wahnsinnig viel Geld haben. Der einzige, der auch kein Geld hatte, mit dem ich mit dem Autobus zurückfuhr 1955, war Walter Mannzen. Von dieser Fahrt an bin ich immer mit Mannzen freundschaftlich verbunden gewesen, der aber eigentlich kein Literat war, sondern Jurist und eher für konservatives Marxistisches sich interessierte. Der also so bestimmte Autoren kannte, – aber auch den alten Hentig, der so Phänomenologien geschrieben hat, den heute glaube ich kein Mensch mehr kennt, der Onkel von Hartmut von Hentig.
 
 

Mannzen war ja im Kriegsgefangenenlager zusammen mit Richter und Andersch gewesen.

 Ja, da waren aber noch mehr, die einen merkwürdigen Altherrenclub innerhalb der Gruppe 47 bildeten, die also gesellschaftlich auftraten, für die dann, wenn das große Fest war, ne Extraloge da war, während die meisten sich ja doch eher ordinär benahmen. Dieser Kontakt war für mich zunächst einfach die Literatur, die aktuelle, in der Bundesrepublik - und zufällig kam dazu, daß ich zur gleichen Zeit die Hochschule für Gestaltung in Ulm kennenlernte, weil Leonhard mir den ersten Band Gomringer geschickt hatte und ich mit Gomringer dann Briefe gewechselt hatte und übrigens auch mit Claus Bremer – das war der andere, der mich interessierte. Ich bin auf die „fragmente“ aufmerksam geworden und hab mir dann in der Buchhandlung den Band „Poesie“ von Claus Bremer bestellt, der mich schon, würde ich heute sagen, in manchen Dingen entschieden beeinflußt hat. Und wo sich auch heute noch, würde ich sagen, was gehalten hat davon. Nur, da war es so, ich hab Claus Bremer zum ersten Mal 1957 kennengelernt, als ich in Darmstadt Arno Schmidt besucht habe – Bremer war damals Assistent bei Sellner – das war also damals eine so große Enttäuschung, daß sich das überhaupt nicht fortgesetzt hat. Ich hab mit Bremer dann nie mehr Kontakt gehabt. Mit Gomringer lief das immer so weiter – und es lief eben auf der einen Seite mit Gomringer, auf der anderen Seite mit der Gruppe 47. Ich bin auf derselben Tagung mit Grass dahin gekommen, wir waren also beide ohne Geld und ohne was hinter uns und das hat auch in einer Weise ergeben, was sich so als Kumpelei bezeichnen läßt, das hat sich auch bis heute erhalten.
 
 

Ein Punkt noch: Hatte die Beteiligung an den Tagungen der Gruppe 47, also die Reaktion auf die Einladung, außer den literarischen Reizen nicht auch so einen Reiz der Beteiligung an etwas, das auch politisch als oppositionell, politisch als aufregend empfunden wurde, weil die Gruppe 47 durch die Verdikte aus der Sieburg-Ecke ja nun ganz eindeutig schon seit Anfang der fünfziger Jahre gestempelt war.

 Ja, das wird meistens – das verschiebt sich heute etwas: Anfangs waren ja nicht so starke Angriffe, es wurde normal kritisiert und nicht weiter beachtet, und die eigentlichen Angriffe kamen erst in dem Moment, als die Gruppe 47 anfing, so etwas wie eine öffentliche Institution zu werden, und das, würde ich sagen war eher erst ab 1960. Ich hatte einen literarisch sehr interessierten Mitstudenten, den ich heute noch kenne, der ist Gewerbelehrer in Volksdorf und in Kunstdingen ungeheuer rege, der war damals Hörspielleser - das Hörspielgeschäft hat ja immer Leute, die die Hörspiele lesen, außerhalb des Funks – und da war er einer der Eifrigsten, er war befreundet mit Siegfried Lenz, hat Siegfried Lenz für die Hörspiele viele Ratschläge gegeben, und der war bei der Niendorfer Tagung der Gruppe 47 1952 dabei, der hat mir ganze Schauergeschichten damals erzählt und das habe ich auch so in mich reingesogen. Das war aber noch so – Ernst Schnabel vom Rundfunk hatte die eingeladen, und insofern wurde das nicht so kritisch gesehen, das waren so die jungen Leute, nicht? Dasselbe hat sich dann in München nochmal wiederholt, 1956 und 1957 waren die Tagungen im Gewerkschaftsheim in Niederpöcking am Starnberger See, und da war das sozusagen von München aus gesteuert. 1956 war es, glaube ich, das erste Mal, wo eine Gesamtaufnahme der Lesungen stattfand. Davor sind es ja immer nur Bruchstücke gewesen. Und dann wurde es nach 1957 zur Gewohnheit, alles aufzunehmen. Ich erinnere mich z. B., 1963 kam Herr Gneuß vom Norddeutschen Rundfunk mit U-Wagen vom Südwestfunk nach Saulgau, und es wurde pausenlos alles mitgeschnitten. Während Fernsehen ja immer nur punktuell war, das war auch sehr spät, ich glaube 1963 zum ersten Mal. Diese publizistische Seite, die da drinsteckte, daß man dazugehörte, war für mich eine Sache, die andere Sache war für mich persönlich, daß ich dort vorlesen konnte und ich hatte die Kritiker vor mir und die mußten irgendwie drauf reagieren, und das war für mich eigentlich immer so ein wichtiger Punkt. Politisch war es in der Zeit so, daß ich überzeugt war, daß man gegen diese ganze Adenauer-Geschichte nichts machen kann und daß es das Beste ist, sich vollkommen zu isolieren – „ohne mich“. Wenn ich das jetzt rückwärts überlege, würde ich sagen: Dieser „Ohne-mich-Standpunkt“ wurde in den Anfangsjahren, also in den fünfziger Jahren auf jeden Fall politisch für mich am ehesten von der Gruppe 47 bestätigt. Von dem war auch damals zum Beispiel Heinrich Böll nicht so weit entfernt. Und Böll war in der Zeit so eine stehende Figur, und Günter Eich wurde das ja noch mehr, den ich ja als Person sehr verehrt habe, während mit den Hörspielen ging es immer so hin und her: Bei den „Träumen“ damals - die fand ich sehr gut, und dann gab es wieder was, was ich nicht so fand – aber es war für mich eine Figur, das war damals von der älteren Generation eigentlich für mich die entscheidende Figur.
 
 

Eine entscheidende Wende in Ihrem Leben hat sich durch die Begegnung mit Alfred Andersch ergeben. Wie sind Sie damals mit Alfred Andersch zusammengekommen und wie sind Sie damals in die Rundfunkarbeit hineingekommen?

 Andersch als Autor habe ich zuerst kennengelernt durch die Reihe „Studio Frankfurt“ und dann durch sein erstes Buch „Kirschen der Freiheit“. Meine damalige Reaktion war, da ist wieder eine Chance verhauen worden, das ist ja im Grunde doch am Rande des Kitschs geschrieben. Das habe ich nachher revidiert, aber nie ganz. Aber es war dann gerade auch die Vermittlerrolle, im Studio Frankfurt, wo Andersch einer der Leute war, die was neu vorgestellt haben, was für mich interessant war. Nachträglich habe ich seine Rolle im „Ruf“ realisiert. In der Zeit hatte ich nicht darauf geachtet, wer das rausgibt und so.
 
 

Also Sie haben den „Ruf“ gelesen?

 „Ruf“ habe ich gelesen, aber eben nur so, wie ich ihn kriegen konnte, und das war sehr bruchstückhaft. Dann kam 1952 diese Zeitung der Gruppe 47, „Die Literatur“, die habe ich ganz gelesen, hab ich, soviel ich mich erinnere, alle Hefte gekriegt, die wurde ja eigentlich gemacht von Hans Georg Brenner, der mir dann auch ein Begriff wurde. Dann habe ich Andersch gesehen bei der Gruppe 47. Im Herbst 55 habe ich ihn persönlich kennengelernt. Aber auch eher flüchtig. Da hab ich „Die schwarze Gerade und der rote Fleck“ vorgelesen, was zum Beispiel Hans Friedrich das Entsetzlichste fand, was er je gehört hatte bei den Tagungen, aber Andersch war davon irgendwie beeindruckt und fand das ganz gut. Er hatte seine eigene Lesung, dies hörspielartige Ding, „San Gaetano“, und wollte von uns dann wissen, ob wir das nicht für ein Gedicht hielten. Ich hielt das für ein rhythmisiertes Hörspiel und fand eigentlich seine Frage absurd. Dann wurde ich auf derselben Tagung von Brenner angesprochen, was ich so beruflich mache und kriegte dann ein Engagement bei Claassen. Die Tagung war im Oktober, und im November war ich bei Claassen angestellt, 1. November 1955. Dort war noch die 2. Auflage der „Kirschen der Freiheit“, und Andersch wollte nicht bei Claassen bleiben; Brenner wollte aber diese Sache nicht mit Andersch diskutieren, infolgedessen mußte ich mit Andersch verhandeln und hab also da - für mich spielte es ja keine Rolle – diese Abwicklungsvorgänge mit ihm durchgesprochen, er war freundlich, etwas herablassend. Während der gleichen Tagung hatte er mit dem Süddeutschen Rundfunk eine Abendveranstallung oder einen ganzen Tag, wobei die Gruppe-47-Autoren fürs Fernsehen gewonnen werden sollten. Auf dem Killesberg in Stuttgart. Da hab ich auch kurz mit ihm gesprochen, und er hat da die These vertreten, daß der Rundfunk der heutige Mäzen für die Schriftsteller wäre; daß die Schriftsteller für den Rundfunk arbeiteten, hinge nur damit zusammen, daß sie da am besten Geld verdienen könnten, was dem Intendanten überhaupt nicht paßte, der war also ganz ärgerlich über das Wort Mäzen. Aber auch das war eigentlich nur so am Rande. Ich bin dann aber auch 1956 noch mit Bense zusammengekommen. Das muß von München aus gewesen sein, wo wir in Urlaub waren. Und da kam Andersch dazu. Ich hatte auf der Rückfahrt von der Gruppe 47 meinen ersten Text über die Gruppe 47 gemacht. tiber den war Frau Andersch dann besonders begeistert und sagte, daß sie das doch sofort in „Texte und Zeichen“ drucken sollten. Ist ja dann auch da gedruckt worden. Und Bense sagte dann, das hätte er auch für den „augenblick“ natürlich gerne gehabt. Für mich war das so eine Zwischenlage. Meine Sympathie war eigentlich mehr bei Bense und beim „augenblick“. Dazu muß ich auch noch sagen, ich hatte „Texte und Zeichen“ gesehen und hatte was geschickt und hatte das mit vorgedrucktem Schemabrief zurückgekriegt. Das hab ich Andersch dann auch gesagt, das war ihm etwas peinlich, und er fragte mich eben dann bei Bense in der Wohnung, ob ich unter Umständen auch Funk machen würde. Ich hab gesagt, ich mach alles, wenn ich nur da bei Claassen wegkomme, das kann ich nicht mehr aushalten. Das führte zu dem Angebot, am 1. April 1957 nach Stuttgart zu kommen. Enzensberger wollte weg, das Verhältnis Andersch / Enzensberger war auch irgendwie gestört, und er wollte an sich jemand anders haben. Er hatte zuerst Schnurre gefragt, der hatte auch zugesagt, das war also Anderschs Favorit zu der Zeit. Der wollte aber nicht aus Berlin weg und konnte sich auch nicht vorstellen, im Büro zu arbeiten. Der zweite war Schonauer, der wollte zuviel Geld haben, der war damals bei Klett angestellt, im Schulbuchverlag. Dann kriegte ich dieses Angebot und bin im Januar 57 in Stuttgart gewesen. Ich bin nachts gefahren und kam früh in Stuttgart an, hab gefrühstückt und bin dann zu Fuß zum Funk gegangen. Andersch war noch nicht da. Hab ich zuerst Zeitung gelesen und dann gab die zweite Sekretärin mir ein Manuskript, sagte, das ist unser allerneuestes. Das war „Moral und Masche eines Magazins“ von Enzensberger. Das hab ich gelesen und hab mich damals auch drüber geärgert, weil ich fand, es war etwas oberflächlich geschrieben, ich fand, daß man die Analyse in der Zeit hätte etwas schärfer und tiefer legen können. Heute würde ich sagen, wahrscheinlich war es doch schon das Maximum, was er da hat machen können. Dann wäre es irgendwie wissenschaftlich oder philosophisch gewesen, da hätte kein Mensch mehr drauf gehört. Ja, und dann hab ich mich vorgestellt. Ich habe mit Andersch geredet, und Andersch hat mich im Geschwindtempo durch das ganze Haus geführt, von der Honorarabteilung bis zum Programmdirektor und zum Intendanten. Der Intendant hatte meine beiden Gedichtbändchen vor sich auf dem Tisch liegen und blätterte da beim Gespräch drin herum; und als wir schon fertig waren, machte er eine Pause und sagte: Aber das wollen Sie nicht machen bei uns, nicht? Da hab ich gesagt, nein, das ist ja nun mein Privatding, ich mach hier Rundfunk, ich weiß, ich hab keine Ahnung, bin Rundfunkhörer, aber weiß noch nicht, wie es von innen aussieht und muß mich dran gewöhnen. Dann waren wir bei Andersch in der Wohnung, da waren auch noch andere. Ich war völlig überrascht, wie glatt das gegangen war, das war für mich fast schon märchenhaft, und im Hotel, im Hotel Ketterer, da wachte ich nachts auf, so um Drei, mit dem Gedanken, das war alles falsch, überhaupt die falsche Entscheidung meines Lebens. Dann bin ich lange wachgelegen, bin erst gegen Morgen wieder eingeschlafen. Würde heute sagen, ich weiß es immer noch nicht, obs nicht die falsche Entscheidung war. Nur die hat alles dann bestimmt. 

Ich bin dann hingegangen, 1. April 1957. Andersch hat mich gleich voll eingesetzt, er war dann verreist. Wir haben eine Fahrt nach Heidelberg gemacht, ein Gespräche aufgenommen mit SchulzeWenninghausen und Sellner. Anschließend sind wir nach Darmstadt gefahren, da hatte es ein Preisausschreiben mit „Texte und Zeichen“ gegeben, da hatte er Material geliefert. Dann hat er mich in Darmstadt gelassen, und ich mußte Arno Schmidt besuchen am andern Tag, das ging auch alles ganz reibungslos. Dann wollte er eine Sendung mit Stockhausen machen. Zu diesem Zweck wurde ich nach Köln geschickt. Ich bin nach Köln gefahren und habe Stockhausen besucht. Ging auch – am Anfang war es schwierig, weil er aggressiv war, und am Ende haben wir uns fast verbrüdert. Das ist aber die einzige Begegnung mit Stockhausen, die ich je gehabt habe so direkt; nachher habe ich ihn schonmal gesehen... So kam ich da rein und lernte dann eigentlich die Rundfunk-arbeit kennen von innen und speziell was Andersch betraf. Bei Andersch war es immer so, daß er eine Mischung von Prominenz und noch nicht bekannten Namen wollte. Die weniger bekannten waren aber eigentlich persönliche Vorlieben von ihm, manche auch von der Sache her, aber ich würde sagen, das Persönliche überwog bei ihm, das persönliche Verhältnis. Bei persönlichen Beurteilungen spielte Frau Andersch auch immer eine Rolle. Wenn sie jemanden nett fand, dann ging es leichter. Sonst hatte Andersch eben so ein paar Ideen, das eine war eben Koeppen, das andere war Schmidt. Aber auch Bense hat er miteingesetzt. Dann hat er Friedrich Heer in Wien und Adorno mit nachgezogen. Obwohl, die Verhandlungen mit Adorno habe alle ich geführt. Ich bin auch noch 1957 in Frankfurt gewesen. Habe Adorno besucht im Institut, und der stand am Fenster. Der hatte diese, was man so in Büchern liest, diese Uberraschungsmomente, guckte aus den Fenster und drehte sich dann plötzlich um, so daß man ihn nur so im Umriß sehen konnte, und sagte dann irgendwas Uberraschendes. In diesem Fall sagte er: Ich muß übrigens jetzt bestimmten, wer den Goethe-Preis kriegen soll in diesem Jahr. Machen Sie mal einen Vorschlag. Dann habe ich einen Augenblick überlegt und gesagt: Warum schlagen Sie nicht Alfred Andersch vor? Das war viel zu überraschend für Adorno und viel zu riskant für ihn. Das war irgendwo abgesichert und abgedeckt. Ich kann mich nicht erinnern, daß Andersch dann selber noch Adorno getroffen hat – da spielte dieser Bildungskomplex, den er hatte, eine gewissen Rolle, weil er nicht sicher genug war. Dann überließ er mir das lieber, weil er die Idee hatte, daß ich mich da philosophischer unterhalten könnte mit Adorno. Was aber im Gespräch bei Adorno keine Rolle spielte. Adorno war ja nun selbst fachphilosophisch nicht so besonders beschlagen, das waren mehr Zitatgebäude, die ihn andere rausgesucht hatten. Also überhaupt nicht so wie Horkheimer. Horkheimer, würde ich sagen, war philosophisch viel gebildeter, hatte alles mögliche gelesen, ein außerordentlicher Kant-Kenner, Schopenhauer-Kenner und so.

 Dann stellte sich schon im Jahr 1957 heraus, daß Andersch gar nicht dableiben wollte und daß ich eigentlich nur als jemand, der treu genug aussieht, daß er die Stelle übernehmen kann, gewählt worden war. Er suchte jemanden, der nicht mehr zu jung war, also nicht bloß so Versuche, suchte auch jemand, der nicht zu eingefahren war, wie sein früherer zweiter Mann Friedrichs, sowas wollte er nicht haben. Er suchte aber jemand, der eventuell der Leitung vertrauenswürdig genug war, um die Stellung zu übernehmen, und dahinter steckte eigentllch eine geschäftliche Kalkulation, er war nie angestellt, er hat angefangen mit Einjahresverträgen, hat dann den Intendanten überredet, Zwei-, Dreijahresverträge zu machen und ist im 1. Jahr des Vertrags rausgegangen, ins Ausland gegangen, wo er nicht belangt werden konnte, es sei denn, sie hätten einen öffentlichen Prozeß gemacht, und dazu war in der Zeit niemand bereit, soviel Aufsehen zu erregen. Währenddessen sollte ich dableiben. Er hat mir – aber eher halbherzig – geraten, keine Anstellung zu machen, und als es dann soweit kam, Ende 1958, wurde ich vor die Alternative gestellt, ich kriege diesen Posten, muß mich aber anstellen lassen. Da hab ich erst gedacht, nein, später hat sich dann herausgestellt, daß es natürlich viel besser war, angestellt zu sein. Und so hab ich eben eindreiviertel Jahre auf Vertragsbasis das gemacht und ab 1. Januar 1959 bin ich dann angestellt worden. Andersch hat mir dann sozusagen das Ganze übergeben, schon im März 1958. Er war dann längere Zeit nur im Sommer 58, als wir im Urlaub waren, nochmal da. Sonst nur auf Besuch.

 Und zur Methode noch eines. Er hat mir das dann immer erzählt, man muß prominente Leute bringen und dann aber auch jüngere, was man vertreten kann. Wir hatten noch so eine Buchbesprechungsreihe, die wollte er nur mit Prominenz besetzen. Ich bin nach Sinnbuch rausgepilgert, auf Wunsch von Andersch, um Herrn Mehnert zu beknien, für uns zu schreiben, was vollkommen sinnlos war. Und dann hab ich gerade die Buchbesprechungsreihe für die Jahre benutzt als Ausprobierfeld, wo ich vollkommen unbekannte Rezensenten eingesetzt habe. Von da an, von der Viertelstunde an, konnte man leichter übergehen zu größeren Sendungen.
 
 

Das heißt, Sie haben dann die Funktion, die Sie hatten, letztlich dazu benutzt, einigermaßen subversiv -

 Ein bißchen, ja, ja -
 
 

die Leute einzuführen, die aus der experimentellen Ecke kamen?

 Ich hab die alle versucht miteinzubeziehen, und das lief nicht regelmäßig, aber doch so allmählich lief das an mit Harig zum Beispiel, mit Jandl, den ich aber zu der Zeit noch gar nicht kannte, mit Mon war es anfangs sehr schwierig. Aber wir haben ja eine große Sendung gemacht über akustische Poesie mit Beteiligung von allen möglichen Leuten, die Mon zusammen gestellt hat, die ganz zu Anfang der sechziger Jahre schon gelaufen ist. Das war damals ein Unikum, ein völliges Unikum. Vielleicht zur Charakteristik kann man noch eins sagen. Ich war in Verbindung gekommen mit einem Mann, der heute unbekannt ist, mit Dieter Wüst, der damals unter den jungen Lyrikern lief, der aber eigentlich Psychiater ist und heute, glaube ich, nichts mehr schreibt. Das war damals die Zeit, wo dieser Sade-Prozeß lief gegen den Prevert-Verlag. Der machte mir den Vorschlag, das man das doch mal unter diesen Voraussetzungen im Funk darstellen könnte. Das war so eine Sache, die mir gefiel. Warum nicht jetzt im Süddeutschen Rundfunk Sade senden. Das hatten wir als Feature gemacht und Gerichtsverhandlung und Biographie, die Briefe waren damals erschienen, das war alles ganz harmlos. Es war nur innerhalb dieser Gerichtsverhandlung eine Inhaltsangabe von „Juliette“; von heute aus würde ich sagen völlig harmlos. Dieses Manuskript hatte ich gekriegt, kurz bevor ich in Urlaub fuhr 1958 und hatte es bei Andersch auf den Tisch gelegt, weil ich das jetzt ohne ihn, da er ja nominell verantwortlich war, nicht machen konnte. Und als ich zurückkam, fand ich es auf meinem Tisch wieder mit der Bemerkung: Dies kann so nicht in die Sendung gehen, ich möchte nicht wegen Herrn Sade in den Knast gehen – so ungefähr. Dann hab ich mit ihm darüber telefoniert und er sagte: Nein, das ist unmöglich. Dann hab ich gefragt, was, und dann störte ihn die Inhaltsangabe von „Juliette“. Und dann hab ich gesagt, die können wir ja weglassen, wir verfeaturen das noch weiter, lassen den Sprecher, der jetzt die Inhaltsangabe für das Protokoll macht, sprechen und dann kommt ein anderer Sprecher und sagt: Meine Damen und Herren, wegen der Obszönität des Gegenstandes bitten wir das Publikum, den Saal zu verlassen und dann gibts Rummel-rummel-rummel und dann wird ausgeblendet, und es kommen nur zwei Sätze von dem. So ist es dann aufgenommen und gesendet worden. Mein damaliger Kollege in Baden-Baden war Horst Krüger, der gelegentlich kam und sagte, das ist ja unglaublich, sie senden Sade! Unser Intendant ist in Ohnmacht gefallen fast, als er das gesehen hat. War nur der Titel, nicht? Das war nicht zu diskutieren. Später wurde ja so ein Studio für Literatur eingerichtet in den sechziger Jahren, um 1965. Da war eine der ersten Sendungen vom Herrn Glaser, der damals in Stuttgart war, heute in Essen, über Sade und Burroughs. Und das war auch inhaltlich viel schärfer, wurde auch beanstandet vom Programmdirektor, aber formal, nicht inhaltlich. Und ich hab immer gesagt, finden Sie das zu unanständig, sollte ich solche Themen nicht behandeln – dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn sie mir kurze Anweisungen geben, damit ich das beachten kann. Das war immer das Schema mit der Programm direktion, daß ich mich immer auf logische Gesichtspunkte zurückgezogen habe und gesagt, das spielt heute eine Rolle, ist in der Literatur gar nicht wegzudenken, Burroughs hat ungeheuer Einfluß und Sade indirekt auch, man muß das diskutieren können in einem Studio für neue Literatur. Ja, da habe ich nichts dagegen, aber es ist unfunkisch, da wurde dann mit der abstrakten, mit Jargon undsoweiter abgelehnt. Was die Frage der Mitarbeiter im Rundfunk angeht, dann hat sich das so in Wellen entwickelt. 

Das war für mich dann auch gleichzeitig etwas, wo ich, was ich im Funk ja nicht konnte, wo ich außerhalb des Funks versucht habe, mich kritisch einzusetzen für neue Literatur oder was ich damals darunter verstand. Das ist zustandegekommen eigentlich auch durch persönliche Beziehungen, ein bißchen zufällig, dadurch, daß eben Peter Häriling, den ich kannte, als ich nach Stuttgart kam, im Feuilleton der „Deutschen Zeitung“ arbeitete; sein Redakteur war Herr Regner, ein konservativer Bayer, der aber immer ein bißchen was anderes machen wollte als die anderen. Da hab ich also eine Reihe von Kritiken geschrieben, und Herr Regner war begeistert davon, nicht inhaltlich, sondern weil das ein anderer Ton war. Dann bin ich mit der Deutschen Zeitung, wie die nach Köln ging, mitgegangen, dann waren meine Gesprächspartner inzwischen Bender und vor allen Dingen Vormweg nachher. Und dann hab ich mit Vormweg ja eine Menge zusammen gemacht und dadurch bin ich zur regelmäßigen Mitarbeit gekommen. Meine ersten Veröffentlichungen waren in der Deutschen Rundschau, das hatte überhaupt keine Folgen, da hab ich dann in Stuttgart Harry Pross gesehen, der da das machte. Das führte aber zu nichts, während dann allmählich so Pläne mit dem Merkur kamen. Das war aber am Anfang nicht Peschke, sondern Moras, und mit Moras konnte ich auch besser als mit Peschke. Da Moras dann aber 1961 starb, hab ich dann mit Peschke zusammengearbeitet, sporadisch eher. Darunter war das Arno-Schmidt-Porträt, das Michaux-Porträt, „Literatur der Selbstentblößung“ und sowas. Härtling ging von der Deutschen Zeitung zum Monat, das führte dann dazu, daß ich im Monat wieder mitgearbeitet habe. Da ist diese Analyse des Flaubert-Briefs an Taine, das für mich ganz wichtig war, und dann war da der Herr Altmann, der die Schallplattenkolumne machte, die hab ich dann übernommen, aber ohne daß ich Schallplatten gekriegt hätte, ich hab also meine Schallplatten besprochen. Das hab ich dann eine ganze Zeit gemacht. Als die Deutsche Zeitung aufhörte, kriegte ich ein Angebot von der Welt, von Ramsegger damals, und hab dann da auch eine Weile in der Beilage „Welt der Literatur“ auch Kolumne gemacht. Das hat sich dann so fortgesetzt, da waren immer Pausen dazwischen, aber ich habe eigentlich so kontinuierlich an der oder jener Stelle was gemacht. Für die „Süddeutsche“ eine längere Zeit, auch heute ja noch für die „Süddeutsche“. Bei der „Süddeutschen“ wurde mir die Zeitschriften-Kolumne vorgeschlagen, und das hab ich gemacht, bis die sich geändert haben und dann hat es mir Schütte von der „Frankfurter Rundschau“ vorgeschlagen und jetzt mach ich es da. Dann habe ich eine Weile Schallplatten-Kolumne für „Musica“ gemacht. Ich hätte auch noch lieber zwischendurch mit Kunst was gemacht. Für mich war ein Gesichtspunkt, so zu pendeln zwischen der bildenden Kunst, Musik und Literatur. Nur ist in den Feuilletons die Kunst meistens in so festen Händen, daß man da nicht rein-kommt. Und schon bei der Musik ist es schwierig. Da muß man eingefahren sein, wo wie Norbert Miller, der ja nun auch ein vorzüglicher Musikkritiker ist, würde ich sagen, und vor allem auch Schallplattenkritiker. Da muß man sich ganz darauf einstellen. Gemacht habe ich das immer, einerseits um etwas vorzustellen, ich bin eigentlich von mir aus ein Gegner der negativen Kritik, also der Verriß-Kritik, weil ich im Grunde finde, es führt zu nichts, es ist Selbstbefriedigung, und führt auch sachlich zu nichts; meist sind die verrissenen Bücher langlebiger als die gelobten. Ich sehe Kritik eigentlich an als Vorstellung, oder Vorschlag zum Lesen. In der Regel habe ich das wohl auch durchgehalten. Der andere Gesichtspunkt für mich war eben das Ubergreifende, also die Entwicklungen, die ja nicht synchron sind, sondern verschiedene Schübe haben. Aber zu gucken, was geht in der Musik, was geht in der Literatur vor und was ist in der bildenden Kunst, oder auch so Zwischen phänomene, die dazwischenliegen. Solange noch die Lesefähigkeit da ist und die Lust, das zu formulieren, denke ich auch, mache ich das weiter.

Teil 2