Den Zeitraum, den vorzustellen ich leichtsinnigerweise übernommen
habe, sind die sechziger Jahre in Stuttgart. Und seine Vorstellung wäre,
würde ich mich auf all das einlassen, was damals die Stuttgarter
Szene konturierte, mehr als semesterfüllend. Ich beschränke
mich deshalb, zumal die Vorträge HansJürgen Müllers und
Anton Stankowskis die 60er Jahre bereits angesprochen haben, auf einige,
auch andere Akzente und mir bedeutend scheinende Verbindungslinien,
indem ich mein Augenmerk vor allem auf jene Kunstproduktion richte,
die Günther Wirth in seiner Bestandsaufnahme der "Kunst im deutschen
Südwesten" die "materialen und formalen Grenzbereiche" genannt
hat, mich also neben der bildenden Kunst für die Grenzverwischungen
zwischen bildender Kunst und Literatur, Literatur und Musik, Musik und
bildender Kunst interessiere. Und dies nicht zuletzt aus dem leicht
nachprüfbaren Grund, daß es gerade diese "materialen und
formalen Grenzbereiche", diese Grenzüberschreitungen waren, die
aus Stuttgart damals international hinausgewirkt haben.
1
Wie kaum anders zu erwarten, muß ich dabei in den 50er Jahren
beginnen, die Fäden aufzunehmen, die sich in den 60er Jahren in
Stuttgart dann miteinander verknüpften und verwirrten. Und der
erste dieser Fäden ist sogar eher literarischer Natur. 1955 erschienen
zwei Zeitschriften geringer Auflage, aber umso größerer Bedeutung.
Das war erstens die "literarische Zeitschrift" "Texte und Zeichen",
die von Alfred Andersch herausgegeben wurde, der damals Leiter des Radio-Essays
am Süddeutschen Rundfunk war. Das war zweitens der von Max Bense,
Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Technischen
Hochschule Stuttgart, herausgegebene "Augenblick", eine Zeitschrift,
deren Untertitel zunächst "Aesthetica, Philosophica, Polemica",
dann "Zeitschrift für aktuelle Philosophie, Ästhetik, Polemik"
und schließlich "Zeitschrift für Tendenz und Experiment"
lautete. Beide Zeitschriften waren nicht langlebig. "Texte und Zeichen"
erschienen von 1955 bis 1957 und brachten es auf insgesamt 16 Hefte.
Der "Augenblick" erschien mit Unterbrechungen von 1955 bis 1961 und
brachte es auf insgesamt 22 Hefte. Es geht mir hier nicht um eine Analyse
ihres Programms, sondern eher um signifikante Äußerlichkeiten.
Und zu ihnen rechne ich erstens, daß beide Zeitschriften zwar
in Stuttgart redigiert wurden aber außerhalb Stuttgarts erschienen:
"Texte und Zeichen" im Luchterhand-Verlag in Berlin/Neuwied der "Augenblick"
zunächst im Agis-Verlag in Krefeld, der auch die damals wichtige
Zeitschrift "Das Kunstwerk" herausgab, dann im Bläschke-Verlag,
Darmstadt, schließlich im Eigenverlag in Siegen. Ein Zweites,
das festgehalten werden muß, war dem Programm von "Texte und Zeichen"
implizit, dem Zweittitel des "Augenblick" bereits explizit und programmatisch
abzulesen: die Einbindung der ästhetischen Diskussion in einen
philosophischen Zusammenhang und die Verbindung von Tendenz und Experiment.
Was beide Zeitschriften drittens schon äußerlich verband,
war die Gemeinsamkeit einiger ihrer Autoren. So schrieb Andersch im
"Augenblick", Bense in "Texte und Zeichen", veröffentlichten Helmut
Heißenbüttel, der 1957 nach Stuttgart kam, Arno Schmidt und
andere in beiden Organen. Aber es gab auch Korrespondenzen im Bereich
der bildenden Kunst, die von beiden Zeitschriften auffällig berücksichtigt
wurde. So bildete "Texte und Zeichen" 1956 vier Arbeiten Alberto Giacommettis
ab, nachdem der "Augenblick" sein erstes Heft mit der Abbildung einer
Giacommetti-Skulptur eröffnet hatte, der ein Aufsatz Francis Ponges
und eine Replik Benses folgten. 1955 gaben "Texte und Zeichen" zwei
Holzschnitte Hans Arps wieder, während der "Augenblick" ein Gedicht
Arps über Josef Albers abdruckte. Max Bill, der von 1950 bis 1957
Direktor der Ulmer "Hochschule für Gestaltung" war, zwischen der
und Stuttgart eine Reihe nicht zu unterschätzender Wechselbeziehungen
spielten, war in beiden Zeitschriften vertreten. Abbildung, zumindest
mehrfache Erwähnung fanden ferner K.R.H. Sonderborg in "Texte und
Zeichen", mit einem begleitenden Text von Heißenbüttel, im
"Augenblick" Henri Michaux, Pablo Picasso, Fridel Vordemberge-Gildewart,
Georges Braque, Reinhold Koehler, Eugene de Kermadec, Emil Schumacher
und Georg Karl Pfahler. Diese Liste ist unvollständig, aber durchaus
schon geeignet, das Panorama anzudeuten, vor dem die ästhetische
Diskussion Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre geführt wurde.
Und zwar unter zwei Aspekten. Erstens einem historischen, indem man
sich zentraler Tendenzen und Traditionen des Kubismus, Konstruktivismus,
Dadaismus zu vergewissern versuchte, den durch den Nationalsozialismus
unterbrochenen Anschluß wiederherstellen wollte an die Errungenschaften
der Kulturrevolution zu Beginn des Jahrhunderts. Wobei es sicherlich
kein Zufall war, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung
mit dem Dadaismus, mit den Werken Arps und Schwitters' wesentlich zunächst
von Stuttgart ausging. Zweitens war die ästhetische Auseinandersetzung
mit der aktuellen Kunst nicht einseitig, wie gelegentlich zu lesen ist,
sondern umfassend. Denn zur Diskussion standen nicht nur die Tendenzen
der Hochschule für Gestaltung, also die konkrete Kunst, sondern
in gleichem Maße, wie die Namen Schumacher, Sonderborg, Pfahler
belegen, der Tachismus, die Kunst des Informel. So daß sich neben
"Tendenz und Experiment" als zweites Begriffspaar konkret und informell
stellte und, in der weiteren Entwicklung, das Dokumentarische neben
das Gegenstandlos- Konstruktive, der Neue Realismus neben das Hard edge,
die Collage neben den Purismus traten. Und noch ein Drittes ist bereits
bei oberflächlicher Musterung der beiden genannten Zeitschriften
auffällig: daß nämlich die den Abbildungen zugesetzten
Texte von Francis Ponge, Bense, Heißenbüttel, mir und anderen
den Künstler oder eine seiner Arbeiten oft nicht diskursiv beschrieben,
sondern daß sie zum Teil versuchten, sich ihnen ästhetisch
zu nähern. Arps Text zu Albers war ein Gedicht, mein Text zu Pfahler
nannte sich gezielt "Context", was heißen sollte, daß der
Text in seinen Strukturen etwas dem Bild, seiner Malerei Adäquates
an die Seite stellen wollte. Wie Kunst stets aus Kunst und Bücher
aus Büchern entstehen, war auch dies in der Kunstrevolution vorbereitet
in Texturen der Dadaisten oder - und dies speziell - Gertrude Steins,
deren "Vollendetes Portrait von Picasso" bekanntlich schließt:
"Schlösser schliessen und öffnen sich wie Königinnen
es tun. Schlösser schliessen und Schlösser und so schliessen
Schlösser und Schlösser und so und so Schlösser, und
so schliessen
Schlösser und so schliessen Schlösser und Schlösser und
so. Und so schliessen Schlösser und so und also. Und also und so
und so und also. Lassen Sie mich erzählen was Geschichte
lehrt, Geschichte lehrt."
[Vgl. auch Döhl: Gertrude Stein und Stuttgart.]
Wer sich für solche Kontexte interessiert, sei unter anderem auf
Helmut Heißenbüttels "Gelegenheitsgedichte und Klappentexte"
(1973) oder meine "Prosa zum Beispiel" (1965) verwiesen, die eine größere
Menge hier einschlägiger Beispiele versammeln. Im Rahmen eines
Vortrags muß das Gesagte und Zitierte ausreichen als Beleg für
eine erneute Annäherung von Literatur und bildender Kunst Ende
der 50er/Anfang der 60er Jahre.
2
Mit Pfahler ist zugleich der Name eines Künstlers gefallen, der
zu einem zweiten Ansatzpunkt führt. 1954 mieteten die Stuttgarter
Maler Günther C. Kirchberger, Pfahler, Hans Schreiner und Friedrich
Sieber gemeinsam eine Lithografie- Werkstatt in der Olgastraße
70A. Zu ihnen gesellte sich kurze Zeit später der Architekt und
Maler Atila Biro und kurzfristig auch der Grafiker Günter Schöllkopf.
1955 zog die Werkstatt in die Dillmannstraße 11 um. Im gleichen
Jahr kam es zur Gründung der Gruppe 11, der nurmehr Atila Biro,
Kirchberger, Pfahler und Sieber angehörten. Diese Gruppe 11 stellte
1957 gemeinsam in London, Brüssel, Rom und dann erstmals auch in
Stuttgart in der Galerie Rauls aus. Eröffner der Ausstellung war
Heißenbüttel, der seine Ausführungen mit dem Hinweis
begann, es ginge nicht nur darum, diese Maler ganz allgemein vorzustellen,
es käme vielmehr "darauf an, sie in Stuttgart und für Stuttgart
vorzustellen." "Damit soll nicht irgendeiner Art von Lokalpatriotismus
gedient werden, sondern es soll denjenigen, die sich für die Kunst
unserer Zeit interessieren, gezeigt werden, wo hier, in unmittelbarer
Nähe, lebendige Impulse gegeben werden. Es soll einer Meinung entgegengetreten
werden, die allzu leicht geneigt ist, als repräsentativ für
das Stuttgarter Kunstleben die Auktionen des Hauses Ketterer anzusehen.
Ist Stuttgart konservativ? Wohl nicht mehr als andere westdeutsche Städte
auch. Es muß jedoch gesagt werden, daß das öffentliche
Echo, auf die Versuche, Neues und Unerprobtes vorzuweisen, immer wieder
durch die Berichterstattung in höchst eigentümlicher Weise
gedämpft wird. Dabei wird weniger etwas angegriffen, als vielmehr
das, was versucht wird, mit achselzuckender Ignoranz übergangen
und nicht zur Kenntnis genommen." Kurze Zeit später löste
sich die Gruppe auf, Atila Biro lebte bereits in Paris, verlor aber
zu Lebzeiten den Kontakt mit Kirchberger, Bense und mir nie ganz, wie
eine Ausstellung in der Studien-Galerie der Universität Stuttgart
und die in den letzten Jahren bis zu Atilas Tod 1985 ausschließlich
von Bense und mir eröffneten Ausstellungen in Kornwestheim und
Sindelfingen leicht belegen. Auch Sieber schied schon damals als Künstler
aus der Galerie aus und begegnete danach in verschiedenen anderen Gruppierungen,
von denen die wichtigste wahrscheinlich die 1961 gegründete "Neue
Württembergische Gruppe" war, der neben Sieber Franz Bucher, Hal
Busse, Emil Cimiotti, Roland Dörfler, Robert Förch, Peter
Grau, Erich Hauser, Josef Kroha, Walter Rabe, Günter Schöllkopf,
Hans Schreiner und Adolf Silberberger angehörten. Ich werde mir
für den weiteren Verlauf solche Namenslisten soweit möglich
verkneifen, möchte aber die "Neue Württembergische Gruppe"
wenigstens als ein Beispiel für die zahlreicheren Gruppierungen
der 60er Jahre genannt haben, die untereinander stark fluktuierten,
bei genauerem Hinsehen aber kaum neue Namen aufwiesen. Ein gewissenhafterer
Chronist, als ich es bin, müßte jetzt im Detail auf Verbindungen
Hal Busses zu Benses "Augenblick", von Förch und Schöllkopf
zur Rössing-Schule und damit auf die Stuttgarter Akademie eingehen,
darauf, daß Schreiner 1963 das Stipendium des "Kulturkreises im
Bundesverband der Deutschen Industrie" und 1964/1965 das Stipendium
Villa Massimo zugesprochen bekam und so weiter und so fort. Ich beschränke
mich jedoch auf den Hinweis, daß Hauser kurze Zeit später
kurzfristig von der Galerie Müller vertreten wurde, und komme damit
zur Galerie Rauls zurück, die sich nach ihrem Umzug von der Rosenberg-
in die Hohenheimer Straße als Galerie Müller im Bereich der
Malerei jetzt nur noch um Kirchberger und Pfahler, im Bereich der Plastik
um Paul Reich und Kaspar Thomas Lenk kümmerte. Auch Reich verließ
nach seiner Ausstellung 1961 bald die Galerie, ebenso Kirchberger 1964,
nachdem er an die Werkkunstschule in Krefeld berufen worden war. So
daß Müller seine Galeriearbeit in der Folgezeit auf Pfahler
und Lenk konzentrieren konnte, bevor er sie Mitte der 60er Jahre der
amerikanischen Kunst öffnete. Eine Art Bestätigung und Nobilitierung
erfuhr dieses Galeriekonzept durch die 1967 im Württembergischen
Kunstverein inszenierte Ausstellung "Formen der Farbe", in der sich
die Öffnung nach Amerika mit einer Tradition traf, die Denise Rene
1964 mit ihrer legendären Pariser Ausstellung "hard-edge" gestiftet
hatte. Doch ist dies bereits Gegenstand eines Vortrags gewesen, kann
also in meinem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben. Nicht unberücksichtigt
bleiben können dagegen die Anfänge dieser Galerie, denn die
Galerie Rauls war bereits Nachfolgerin des Ateliers Rauls, das 1958
von Müller, dem Architekten Harald Rogler und dem frischgebackenen
Lehrer für Typografie an der Grafischen Fachschule Stuttgart, Klaus
Burkhardt, gegründet worden war, und seine ersten Ausstellungen
mit Arbeiten u.a. von Max Ackermann und Lothar Schall noch recht unsicher
bestritt. Bevor ich jedoch auf Burkhardt, und damit auf einen für
die 60er Jahre wichtigen Typografen und Drucker zu sprechen komme, muß
ich, die Skizze der Gruppe 11 abschließend, die relativ engen
Verbindungen zwischen ihr und der später sogenannten Stuttgarter
Gruppe/Schule, von der ebenfalls noch zu reden sein wird, wenigstens
ansprechen. Daß Heißenbüttel die erste und zugleich
letzte Stuttgarter Ausstellung dieser Gruppe eröffnete, wurde schon
gesagt, Aber auch nach Auflösung der Gruppe wurden die Einzelausstellungen
und Kataloge der Exmitglieder immer wieder einmal von Bense, Heißenbüttel
oder mir eröffnet oder eingeleitet, kam es sogar zu einigen bemerkenswerten
gemeinsamen Publikationen von Bense und Pfahler z.B. mit "reste eines
gesichts", von Pfahler und mir z.B. mit dem von Burkhardt gedruckten
"affiche 14", einem Integrationsversuch von Lithografie und Text, vor
allem aber von Kirchberger und mir bei zahlreichen "Text-Grafik-Integrationen"
und "Comic strips", für deren Verständnis nicht unwichtig
ist zu wissen, daß 1962 in Berlin "Skripturale Malerei", 1963
in Amsterdam und Baden-Baden die Ausstellung "Schrift und Bild" gezeigt
wurden - zwei für die frühen 60er Jahre besonders wichtige
Präsentationen künstlerischer Grenzerkundung.
3
Und noch eine weitere Verbindunglinie läßt sich über
die Gruppe 11 aufnehmen. 1957 stellte nämlich außer ihr auch
der Italiener Luciano Lattanzi in der Londoner New Vision Gallery aus
und veröffentlichte bei dieser Gelegenheit ein "Manifest of Semantic
Painting". 1969 präsentierte sich die Gruppe 11 in der Drian Gallery,
Lattanzi ebendort ein Jahr später, wobei er den gleichzeitig in
der Woodstock Gallery ausstellenden Werner Schreib kennenlernte. Aus
dieser zufälligen Konstellation entwickelte sich ein längerfristiger
Kontakt zwischen vor allem Werner Schreib und Stuttgarter Künstlern,
aber auch Galerien. Im Oktober 1960 widmete Klaus Burkhardt das "affiche
7" ausschließlich Schreib. 1961 zitierte ein "semantisches Bild"
Schreibs Sonderborg herbei, 1962 stellten Lattanzi und Schreib in der
Galerie Lutz & Meyer unter dem Titel "sema" semantische Malerei
und Zeichnung aus, kam es zu einem theoretischen Zusammenstoß
mit der Bense-Schule, die den Begriff des Semantischen (an Frege, Morris
und Peirce orientiert) natürlich anders faßte und den um
Einverständnis bemühten Künstlern die Berechtigung ihrer
Begrifflichkeit überhaupt bestritt, was der Freundschaft ansonsten
keinen Abbruch tat. Denn noch in Schreibs nachgelassener "Roman-Assemblage",
"Das Tribunal", hat Bense das letzte Wort. Ein gemeinsames Interesse
an Dadaismus, an Hugo Ball, Arp, Schwitters und Max Ernst verbanden
Werner Schreib mit Stuttgart ebenso wie gemeinsame Auftritte mit Stuttgarter
Künstlern. Und wenn sich auch nicht alle Publikationspläne,
zunächst mit Klaus Burkhardt, dann mit Hansjörg Mayer, realisierten,
wenn auch Schreib nicht seine gewünschte Einzelausstellung in der
Galerie Hansjörg Mayers, die 1969 schloß, bekam, im März
1972 fand sie doch noch, wenn auch posthum, in der Galerie Folkmar von
Kolczynski statt. Um so ärgerlicher war es, daß sich, trotz
dieser zeitweilig engen Bindung des Künstlers an Stuttgart, 1987
keine Möglichkeit fand, die große Werner-Schreib-Retrospektive
auch in Stuttgart zu zeigen. Sie mußte im Ludwigsburger Kunstverein
Station machen, wo sich dann - wie so oft - Stuttgarter Künstler
außerhalb ihrer Stadt treffen konnten. [Vgl. auch Döhl:
Werner Schreib und Stuttgart. Eine Spurensicherung.] Schreib war
nicht der einzige auswärtige Künstler, der in den 60er Jahren
mit der Stuttgarter Kunstszene enger verbunden war. Einen zweiten Namen,
Reinhold Koehler, habe ich bereits genannt. Daß Atila Biro, der
sich jetzt nur noch Atila nannte, trotz seines Umzugs nach Paris mit
Stuttgart verbunden blieb, habe ich erwähnt. Oft waren es Publikationen,
vor allem aber Ausstellungen z.B. in der von Bense geleiteten Studien-Galerie
der Technischen Hochschule/dann Universität, später der Galerie
Hansjörg Mayers, in den letzten Jahren in der Galerie Buch Julius,
die diese Verbundenheit bis heute dokumentieren. Ich kann das hier im
einzelnen nicht ausfalten, werde aber einige der hier wichtigen Namen
noch nennen, begnüge mich ansonsten mit dem stellvertretend gemeinten
Hinweis auf Schreib. Nicht nur wegen der Schreib/Lattanzi-Ausstellung
von 1962 muß in einer Bestandsaufnahme der 60er Jahre die Galerie
Lutz & Meyer erwähnt werden. Zwar beendete sie 1963 nach dem
Tode von Lutz ihre für Stuttgart bedeutende Vermittlertätigkeit.
Aber bis dahin hatte sie zwei wesentliche Aufgaben wahrgenommen. Vor
allem war sie es, die in den ausgehenden 50er und frühen 60er Jahren
die Erinnerung an die großen Stuttgarter Willi Baumeister und
Oskar Schlemmer wachhielt, auf das Werk Walter Wörns verwies und
Adolf Fleischmann, nach seiner späten Rückkehr aus der Emigration,
die meines Wissens erste Nachkriegsausstellung in der Bundesrepublik
einrichtete. Gleichzeitig galt ihr Bemühen in den letzten Jahren
auch der jüngsten Kunst, speziell Grieshaber-Schülern, oder
allgemeiner gesprochen einer gelegentlich auch sogenannten Karlsruher
Schule, wobei ich mich vor allem an eine Ausstellung Walter Störers
und einen durch sie ausgelösten heftigen Streit erinnere. Doch
richtete sich das Augenmerk der Galerie nicht ausschließlich auf
die Akademie in Karlsruhe, was - im Vorbeigehen gesagt - auch signalisiert,
daß von der Stuttgarter Akademie damals entscheidende Impulse
kaum ausgingen. Mit Ausstellungen von Lattanzi/Schreib und 1960 von
Heinz Hirscher deutete sie zugleich an, daß sie gewillt war, ihr
Angebot offen zu halten für interessante Künstler in und außerhalb
Stuttgarts. Anläßlich der Ausstellung Hirschers erschien
übrigens ein "affiche" Burkhardts, das Hirscher nicht nur als Collagisten,
sondern auch als Autor präsentierte:
"Morgens wenn ich im Bad bin
treffe ich mich mit der Königin von Saba.
Das ist wie schon der Name sagt, eine Rasierklinge.
Salomonischer Weisheiten voll
schabt sie mein Kinn.
Wir hören jetzt überall
solch gekürztes Wissen der Neuzeit
und es gibt einen Gustav Schwab,
der über die klassischen Sagen
der Wirtschaft verfügt.
Wissen sie, ich bin aus dem Lande
der Dichter und Denker,
Schwabe, da muß ich ja wissen
wie sich verwandtschaftlich alles verflicht.
Vielleicht bin ich eines Mörike eines Hölderlin Vetter
wer weiß, wo der Genius
im Blut mir erstarb! [...]"
[Vgl. auch Döhl: Et in Arcadia (n)ego oder
Einige Vermutungen zur Poesie der Materialkunst.]
4
Texte dieser Art waren es allerdings nicht, die damals von Max Benses
"Texttheorie", von den Autoren einer sogenannten Stuttgarter Gruppe/Schule
gefordert und geschrieben wurden. Die waren radikaler, ebenso wie Benses
ästhetische Theorien, die er bereits in der zweiten Hälfte
der 50er Jahre vorlegte, 1960 mit der "Programmierung des Schönen"
abschloß und zu einer umfassenden "Aesthetica" (1965) zusammenfaßte.
Max Bense war durch seine zahlreichen Aktivitäten seit Mitte/Ende
der 50er Jahre ein entscheidender Impulsgenerator für die Stuttgarter
Szene und drüber hinaus. Zwar hatte er außerhalb seiner Forschung
und Lehre nicht eigentlich Schüler, die seine Ideen fortsetzten.
Aber als Anreger, auch durch den Widerspruch, den er provozierte, wirkte
er umfassender, als man oft annimmt. Zwar gab es kaum jemand, der nach
seinen Regeln schrieb, malte, komponierte, wohl aber gab es eine Vielzahl
Künstler, die, von ihm - bewußt oder unbewußt - angeregt
oder provoziert, diese Anregungen, diese Provokationen in einen jeweils
eigenen Stil, eine jeweils eigene Handschrift umsetzten. Zu Benses zahlreichen
Aktivitäten zählte natürlich in erster Linie die eigene
Produktion, die neben seiner wissenschaftlichen Arbeit vor allem ein
literarisches Werk zeitigte, darunter auch konkrete Texturen an der
Grenze zu einer visuellen Poesie. Ich nenne zwei Beispiele, erstens
den "jetzt"-Text, den Bense im Rahmen einer Veranstaltung in der Kunstakademie
anläßlich seines 75. Geburtstages selbst interpretierte und
unter anderem - wen wundert's - von Hegel herleitete. Zweitens die "Textselektion"
"Rosenschuttplatz", die 1964 von Hansjörg Mayer typografisch umgesetzt
wurde in eine Partitur, die dann von der Schola cantorum unter Clytus
Gottwald ihre akustische Realisierung erfuhr. Es ist dies, stellvertretend,
auch ein Beleg für zahlreiche weitere Versuche der damaligen Zeit,
die Grenze zwischen Text und Musik fließend zu halten, was die
sehr intensive Hörspielarbeit in der zweiten Hälfte der 60er
Jahre mit erklärt, obwohl die damals entstehenden Arbeiten nicht
vom Süddeutschen Rundfunk, sondern zunächst vom Saarländischen,
später und vor allem vom Westdeutschen Rundfunk realisiert wurden
in einer Entwicklung, die im Laufe der Jahre zu einer Ars acustica führte,
die 1987 auf der documenta umfassend vertreten war - mit Stuttgarter
Beiträgen. Hansjörg Mayers Umsetzung des Benseschen "Rosenschuttplatz[es]"
interessiert aber noch aus einem zweiten Grunde. Mayer hatte nämlich
den ersten Zustand der Textpartitur durch weitere Druckgänge zunehmend
der Lesbarkeit entzogen und in eine Typografik überführt.
"Kunst, gemaakt met behulp van grafische technieken" bezeichnete 1967
eine Ausstellung des Stedelijk van Abbemuseums in Eindhoven, an der
auch Stuttgarter Künstler beteiligt waren, diese Art von Typografik
wohl am zutreffendsten. Die zweite Aktivität, mit der Bense anregend
tätig wurde, war die schon genannte Herausgabe der Zeitschrift
"Augenblick" als Publikationsforum junger Autoren, als Diskussionspodium
für ästhetische Fragen und hier speziell einer sich entwikelnden
konkreten Poesie mit ihren vielfältigen Spielformen. Als 1961 der
"Augenblick" wegen "materieller Schwierigkeiten" sein Erscheinen einstellen
mußte, lagen bereits die ersten Hefte der Publikationsfolge "rot"
vor, die es im Laufe der Jahre auf über 50 Nummern brachte und
zwischen Philosophie, ästhetischer Theorie, Literatur und bildender
Kunst praktisch das ganze Spektrum Benseschen Interesses absteckte.
Daß in dieser Reihe unter anderem Bense, Döhl, Heißenbüttel,
Harig, Ernst Jandl, der in Stuttgart entdeckt wurde [vgl. auch Döhl:
Ernst Jandl und Stuttgart.], ferner Franz Mon, die brasilianische Noigandresgruppe
und Diter Rot veröffentlichten, ist im Rahmen meines Vortrags weniger
bedeutend als die Tatsache, daß einzelne "rot"-Hefte lediglich
durch den Umschlag 'getarnte', geringfügig erweiterte Kataloge
von Ausstellungen waren, die Bense seit Ende der 50er Jahre in der schon
erwähnten StudienGalerie organisierte. Sie wäre in meiner
Aufzählung zugleich die dritte Aktivität Benses. Bense hat
anläßlich einer Retrospektive die Intensionen dieser 1957
eröffneten Studien-Galerie skizziert, darauf hingewiesen, daß
und wie auch die Arbeit dieser Galerie eingebunden war in die wissenschaftlichen
Interessen seines Instituts. Keine Verkaufs-, vielmehr eine "Versuchs-
und Diskussionsgalerie" wollte sie sein und war sie in den 60er Jahren
in der Tat. Ausgestellt wurden unter anderem in der Reihenfolge des
Alphabets Atila, Burkhardt, Lygia Clark, Bruno Giorgi, Kermadec, Koehler,
Harry Kramer, Aloisio Magalhaes Almir da Silva Mavignier, Hansjörg
Mayer, Francois Morellet, Günter Neusel, Mira Schendel, Timm Ulrichs,
Ulrich Zeh. Bereits diese sehr unvollständige Liste besetzt durch
den Bill-Schüler Mavignier und durch Morellet als einen Interessenschwerpunkt
die konkrete oder konstruktive Kunst, die wohl auch am ehesten und stärksten
durch Bense direkte Impulse empfing. Die sehr unvollständige Liste
belegt zweitens durch die Namen Clark, Giorgi, Magalhaes ein in den
60er Jahren starkes Interesse Benses an Brasilianischer Literatur, Kunst
und Architektur. Sie signalisiert drittens mit den Namen Kermadec und
Koehler, was ich im Falle Schreibs stellvertretend ausführte, eine
in den 60er Jahren oft intensive Bindung auswärtiger Künstler
an Stuttgart, denn Arbeiten sowohl Kermadecs wie Koehlers waren bereits
relativ früh im "Augenblick" publiziert, dann auch ausgestellt
worden. Über Kermadec lief ferner eine Verbindungslinie zu Daniel
Henry Kahnweiler: einer der zahlreichen Kontakte mit Frankreich, darunter
auch zum Club d'Essai oder zum Collegium Pataphysicum in Paris. Und
Reinhold Koehler, für den damals mehrfach Texte von Bense, Heißenbüttel
und mir entstanden, wurde bald ein zweites Mal in der Galerie Hansjörg
Mayer ausgestellt. [Zu Koehler vgl. auch Döhl:
Contrecollages & Décollages-Imprimes] Die unvollständige
Ausstellungsliste belegt drittens, daß nicht zuletzt Stuttgarter
Künstler (Burkhardt, Mayer, Neusel, Zeh) zur Diskussion standen,
Neusel sicherlich auch im Kontext des Interesses an konkret-konstruktiver
Kunst, Burkhardt und Mayer sicherlich auch infolge der Affinität
von konkret visuellem Text und Typografie; Ulrich Zeh schließlich
wegen eines dennoch offen gehaltenen Galeriekonzepts, denn mit ihm,
mit Wolfgang Ehehalt und Uwe Ernst kamen um 1970 neue und andere Aspekte
in die Stuttgarter Szene. Doch ist dies eine weitere Geschichte, über
die ich hier nicht zu referieren habe.
5
Zwei Ausstellungen blieben bisher in meiner unvollständigen Liste
ausgespart. Es sind die vielleicht wichtigsten Ausstellungen der Studien-Galerie,
in jedem Fall aber diejenigen, die die meiste Diskussion auslösten.
Das ist einmal die im Wintersemester 1959/1960 veranstaltete erste Ausstellung
konkreter Poesie, die in ihrer Entwicklung, ihren Ausformungen, im Übergang
zur visuellen Poesie (und von dort weiter zur Collage) zu einem Wasserzeichen
der Stuttgarter Schule wie allgemein der 60er Jahre wurde. Dieser ersten
Ausstellung 1959/1960 und den sich ihr anschließenden, z. T. sehr
intensiven Diskussionen, unter anderem mit Haroldo de Campos, dem Wortführer
der brasilianischen Noigandres-Gruppe, folgten in den Jahren 1965 mit
"Konkrete Poesie international" und 1970 mit "Konkrete Poesie international
2" noch zwei weitere Ausstellungen, wobei schon sehr bald Hansjörg
Mayer der zuständige Drucker und bald auch Verleger wurde. Mit
Ausstellungsfolgen, so daß man festhalten darf, daß sich
Stuttgart in den 60er Jahren zu einem der Dreh- und Angelpunkte dieser
zwischen Literatur und bildender Kunst schwankenden Poesie mauserte.
Beispiele: Die jährlichen Ausstellungen im Rahmen der "Tage für
neue Literatur" in Hof 1966-1970 wurden in Stuttgart geplant und zusammengestellt.
Eine Wanderausstellung "texto letras imagines" für Barcelona und
Madrid mit Arbeiten von Claus Bremer, Burkhardt, Siegfried Cremer, Kirchberger,
Ferdinand Kriwet, Hansjörg Mayer, Franz Mon, Wolfgang Schmidt und
mir wurde 1967 in Stuttgart aufgebaut, der Katalog in Stuttgart gedruckt.
Die Zürcher Ausstellung "Text Buchstabe Bild" (1970) entstand in
Zusammenarbeit von Felix Andreas Baumann und mir, ebenfalls der umfassende
Katalog, und an Konzept, Katalog und Aufbau der großen Amsterdamer
Ausstellung "klankteksten / ? konkrete poezie / visuele teksten" waren
wiederum Stuttgarter maßgeblich beteiligt. Wobei anzumerken wäre,
daß diese Ausstellung die konkrete Poesie bereits mit einem Fragezeichen
versah. Da diese Ausstellung, die über Antwerpen, Nürnberg,
Liver-pool nach Oxford wanderte, 1971 auch im Württembergischen
Kunstverein mit umfassendem Rahmenprogramm Station machte, war den Stuttgartern
immerhin die Möglichkeit geboten, zu besichtigen, was im Laufe
eines guten Jahrzehnts in einem internationalen Kontext auch in ihrer
Stadt geleistet worden war. Gleichzeitig signalisierte diese Ausstellung,
daß künstlerische Entwicklungen auf diesem Gebiet kaum mehr
möglich schienen. Und in der Tat hatte sich, wie die Geschichte
der Galerie Hansjörg Mayer noch zeigen wird, anderes bereits angebahnt.
Konkrete und visuelle Poesie in der damaligen Form war Kunstgeschichte
und museal geworden, wie noch einmal eine Ausstellung der Staatlichen
Museen Preußischer Kulturbesitz bestätigte, die 1987 mit
einem umfangreichen Katalog "buchstäblich wörtlich / wörtlich
buchstäblich" wanderte. Eine Ausstellung, deren Katalog eine Londoner
Sammlung aufarbeitete, die als Folge der Ausstellung "Between Poetry
and Painting" des Institute of Contemporary Arts, 1965, angelegt worden
war, die seinerzeit wiederum mit Stuttgarter Unterstützung zustande
gekommen war. Was nicht zum letzten Mal für die 60er Jahre Stuttgart
ins Spiel bringt, den Ort, an dem, wenn die Amsterdamer Ausstellung
der Abgesang war, eine 1967 von der Buchhandlung Niedlich im Landesgewerbemuseum
inszenierte Mammutlesung den Schwanengesang angestimmt hatte. Ihn intonierten,
in überfülltem Raum und mit Lautsprechern nach außen
übertragen, Bense, Döhl, Gomringer, Harig, Heißenbüttel,
Jandl, Kriwet, Mon, Rot, Gerhard Rühm (auch er damals wie Jandl
ein häufigerer Gast), Konrad Balder Schäufelen und Wolfgang
Schmidt. Und hätte Niedlich, der damals die Lesung auf Band aufzeichnete,
die Bänder nicht verschlampert, wären sie sicherlich heute
ein recht aufschlußreiches Dokument. 6
Um den Charakter einer Diskussions-Galerie stärker zur Geltung
zu bringen, hatte Bense ein "Ästhetisches Kolloquium" eingerichtet,
in dem "bestimmte ästhetische Probleme, die durch die Ausstellungen
der Studien-Galerie vermittelt worden waren, zur Diskussion standen".
Gemeinsam in Funktion traten Ausstellung und Kolloquium 1965 bei einer
Ausstellung von "Computer-Grafik", der ersten dieser Art überhaupt.
Sie zeigte Arbeiten von Georg Nees, der im Rahmen des Kolloquiums gleichzeitig
einen Vortrag zur Sache hielt. Eingeladen waren dazu einige Maler und
Kritiker, die sich jedoch angesichts dieser kybernetischen Kunstproduktion,
angesichts dieser von Bense sogenannten "künstlichen Kunst" ziemlich
ereiferten, zum Teil auch empört und protestierend das Kolloquium
verließen. Dabei kamen Ausstellung und Diskussion nicht einmal
überraschend, denn mit "künstlicher Poesie", also von Großrechenanlagen
hergestellten Texten arbeiteten Autoren im Umkreis von Bense schon seit
1960, nachdem Theo Lutz Ende 1959 im "Augenblick" über die Herstellung
"Stochastischer Texte" berichtet und Texte dieser Art vorgestellt hatte.
Wie überhaupt technische Neuerungen häufiger Anlaß für
Experimente boten, sei es mit neuen Aufzeichnungstechniken in Richtung
einer musique concrete, sei es nach Einführung des Lichtsatzes.
Hier wäre vor allem Burkhardt zu nennen, dessen "Coldttypestructures"
zunächst in der Studien-Galerie ausgestellt, von Hansjörg
Mayer dann als Mappe verlegt und noch einmal 1966 als erste Ausstellung
seiner Galerie präsentiert wurden. Daß dieses Experimentieren
mit dem Lichtsatz, seinen Montagemöglichkeiten sehr schnell auch
Autoren anregen würde, war zu erwarten und geschah denn auch ebenfalls
noch 1966. Gezeigt wurden diese "poem structures" noch im gleichen Jahr
in der Galerie Hansjörg Mayer, später an anderen Stellen und
schließlich auch in der großen Amsterdamer Retrospektive.
Die subsumierte sie und die anderen aus Stuttgart angelieferten Exponate
unter der Überschrift "Stuttgarter Gruppe" und folgte damit dem
Wunsch der Betroffenen, die eine solche Bezeichnung der damals geläufigeren
Etikettierung als Stuttgarter Schule vorzogen. Kunst, so waren sie überzeugt,
lasse sich nicht auf einer Schule lehren und lernen, sondern sie entwickle
sich allenfalls in gemeinsamer Arbeit, im Mit- und Gegeneinander. So
kam es z.B. 1966/1967 zu einer sehr engen Zusammenarbeit zwischen Mayer,
Kirchberger und mir, entstanden "Programmierte Bilder", "Programmierte
Texte", "Programmierte Typografik", darunter die seinerzeit mehrfach
ausgestellte Mappe "Typografie 2", in der sich Kirchberger auch als
Erfinder konkreter Texturen vorstellte. Ich muß mich noch einen
Moment beim Begriff Stuttgarter Schule aufhalten. Umstritten ist heute,
wie in solchen Fällen oft, wer diesen Begriff geprägt und/oder
erstmals benutzt hat. Erstmalig benutzt wurde er auf einem ästhetischen
Kolloquium auf Schloß Morsbroich, und zwar infolge eines Vortrags,
bei dem Bense den akademischen Plural auctoritatis verwandt, also von
"wir in Stuttgart" gesprochen hatte, was bei den von Benses ästhetischen
Ideen und Thesen aufgeschreckten Zuhörern die Vorstellung eines
ästhetisch konspirativen Stuttgarter Unternehmens, eben einer Stuttgarter
Schule weckte. Wobei diese Bezeichnung in der Diskussion kritisch und
eher abwertend gegen die aus Stuttgart kommenden Ideen gewendet wurde.
Inhaltlich anders füllte sich der Begriff ein Jahr später.
Auf einer Tagung der Tel-Quel-Gruppe und der italienischen Gruppe 63
benutzten ihn Manfred Esser und Ludwig Harig zur Charakterisierung einer
im Umkreis Benses entstandenen und entstehenden Literatur. In diesem
Sinne verwandte ihn auch im Herbst 1963 die Pariser Kritik, als im Rahmen
der Biennale am 19. Oktober, eingeleitet von Esser, Heißenbüttel,
Harig und ich multilingual und -medial agierten, Typografik und einen
Film Georg Benses nach einem Text von Claus Bremer zeigten, während
Bazon Brock sich selbst, Kriwet und Mon beisteuerte, wie Essers eigenwillige
Chronologie der 60er Jahre, "unter aller kritik der kritik", festgehalten
hat. Eine inhaltliche Erweiterung erfuhr dieser Begriffsgebrauch spätestens
Mitte der 60er Jahre, indem man die in diesem Umfeld entstehende Typografik
und bildende Kunst unter Stuttgarter Schule mit subsumierte. Wie immer
dem sei; Stuttgarter Schule bezeichnete entweder die ästhetische
Diskussion oder die Produktion, kaum je beides. So daß es in jedem
Fall sinnvoller ist, ihn für die Produktion und die künstlerischen
Hervorbringungen durch Stuttgarter Gruppe zu ersetzen, falls man nicht
ganz darauf verzichten will, Denn eine im soziologischen Sinne abgeschlossene
Gruppe, wie die Wiener Gruppe zeitweilig, ist die Stuttgarter Gruppe
nie gewesen. Auch hat sie während der ganzen 60er Jahre fluktuiert.
Zahlreiche Künstler von außerhalb wären ihr zuzurechnen,
andere, auch Stuttgarter Künst-ler, haben ihrerseits diese Firmierung
stets abgelehnt. Auch ein hierher zu zählendes Manifest von Max
Bense und mir, das März 1965 in der Stuttgart-Nummer der Grazer
"manuskripte" erschien, vermied diese Etikettierung und war einfach
"Zur Lage" überschrieben. Es ist notwendig, festzuhalten, daß
dies die einzige manifeste Verlautbarung der Stuttgarter Gruppe/Schule
blieb und der von Manfred Esser in seiner postdadaistischen Revue der
60er Jahre erwähnte, von mir 1962 anläßlich einer Calenderblättermatinee
verlesene gemeinsame Text alles Mögliche, keinesfalls aber ein
Manifest war. Da der Text nur in einem einzigen, von Burkhardt auf der
Handpresse gedruckten Exemplar und einem Andruck existiert, sei er hier
zitiert:
stuttgart inform
auf dem nenner
auf dem laufen
den welche form
dran ist heißt
bestehn die 60er
die laufen ständig
& stuttgarter heißen
die 60er jahre namens
7
Ein weiterer Ort, an dem Ideen, Texte und Arbeiten der Stuttgarter Gruppe
umgesetzt wurden, war Niedlichs Bücherdienst Eggert, wie er ursprünglich
hieß. Als Wendelin Niedlich 1960 von Fritz Eggert den Bücherdienst
übernahm, war dieser allenfalls ein Umschlagplatz für bibliophile
Druke, illustrierte Bücher, zu dessen Kundschaft auch Hanns Sohm
zählte, bevor er begann, seine gewichtige Fluxus- und Happening-Samm-lung
aufzubauen. Niedlich hatte sehr schnell den räumlich beschränkten
Bücherdienst in eine Galerie umimprovisiert, allerdings nie ein
eigenes Galeriekonzept entwickelt. Dennoch sind neben regelmäßigen
Lesungen von Autoren zunächst vor allem der Stuttgarter Gruppe,
neben Innovationen wie den Schaufensterkritiken, die von eben denselben
Autoren verfaßt wurden, einige der Ausstellungen erwähnenswert,
vor allem dann, wenn sie sich mit dem bisher Aufgezählten verbinden
lassen. Eine der ersten Ausstellungen war eine Ausstellung Roland Dörflers.
Es folgen mehrere Ausstellungen Josua Reicharts, dessen Typografie und
Drucke wie die Burkhardts, der ebenfalls dort ausstellte, sowohl auf
Grieshaber wie, in einer weiteren Tradition, auf den Holländer
Hendrik Nikolaas Werkman zurückwiesen. Eine mir vorliegende Fotografie
zeigt, alles verbindend, Burkhardt und Grieshaber anläßlich
der Baden-Badener "Hommage a Werkman" gemeinsam an der Handpresse. Des
weiteren präsentierte Niedlichs Galerie frühe Lithografien
Paul Wunderlichs, die auch, mit einem Text Benses, in der Reihe "rot"
publiziert wurden. Es folgten Arbeiten Janssens, für den sich Niedlich
wiederholt engagierte. Daß sich Niedlich in einer Ein-Tages-Ausstellung
für die erotischen Aquarelle Hermann Finsterlins einsetzte, hat
eher anekdotischen Wert, zeigt aber zugleich, daß Niedlich in
seiner buchhändlerischen und Galerie-Arbeit heiße Eisen ungern
vermied. Erwähnenswert sind weiter eine frühe Ausstellung
von Serigrafien Vaserelys, eine Ausstellung mit sehr reduzierten Zeichnungen
Fritz Ruoffs, eine Ausstellung mit Objekten Bruno Demattios, sowie die
ersten Ausstellungen der Kreidezeichnungen von Uwe Ernst. Dazwischen
und ansonsten ergänzte Niedlich in seiner Galeriearbeit mit Ausstellungen
Kriwets, Mayers, Burkhardts, von Computer-Grafik und konkreter Literatur
die Arbeit der Studien-Galerie und wirkte so gleichsam als Multiplikator
in die Stuttgarter Öffentlichkeit hinein, die die Vorgänge
innerhalb der Universität ja kaum wahrnahm. Ein Künstler muß
abschließend noch einmal genannt werden, der für die Gestaltung
der Werbeeinfälle Niedlichs, für die Typografie der beiden
"Kritischen Jahrbücher" der Buchhandlung verantwortliche, dem Buchhändler
über alle Jahre freundschaftlich verbundene Frankfurter Wolfgang
Schmidt, der aber auch bei Hansjörg Mayer ausstellte, verlegte
und in Amsterdam wie anderen Orts oft mit von der Partie war.
8
Damit komme ich, meinen Ausflug in die Stuttgarter 60er Jahre abschließend,
zum Drucker, Editor und Galeristen Hansjörg Mayer, bzw. zunächst
etwas allgemeiner zu den Druckern und Typografen der 60er Jahre. Josua
Reichert, dessen Arbeiten von Niedlich in den ersten Jahren seiner Galerie-Tätigkeit
mehrfach ausgestellt waren, wird von der Stuttgarter Gruppe/Schule zwar
anregend wahrgenommen, spielt aber weder als Drucker von Texten noch
in eigener Sache eine integrierte Rolle. Immerhin ist es sein Verdienst
mit, daß die Typografik als Kunst auch in Deutschland akzeptiert
wurde, was bisher - Werkman hin, dadaistische Typografie her - keinesfalls
der Fall war. Ich spiele hier an auf jenen Kunstpreis der Jugend, der
1963 an Reichert verliehen wird, wobei er mit wenigen Stimmen vor Johannes
Schreiter durchs Ziel ging. Damals waren es nicht zuletzt die Typografen
und Drucker, die uns legitimierten, der späteren Müllerschen
Formel, daß Kunst nicht von Können komme, die andere Formel
"Kunst Handwerk Kunst" entgegenzuhalten, eine Formel, zu der ich übrigens
und nachdrücklich immer noch stehe. Die Entdeckung eines Putzlappens
ist noch keine Erfindung von Stil, und wer, wie berechtigt auch immer,
den Kunstbegriff erweitern will, muß eventuell auch den Austritt
aus der Kunst als Preis in Kauf nehmen. Im übrigen empfiehlt es
sich hier wie in anderen Notfällen einmal bei Schwitters nachzuschlagen,
der schon Anfang der 20er Jahre allen Kunstbegriffserweiterern ins Stammbuch
schrieb: "Im übrigen wissen wir, daß wir den Begriff 'Kunst'
erst los werden müssen, um zur 'Kunst' zu gelangen." Ende der Abschweifung.
Wichtiger als Reichert war für die Kunstszene Anfang der 60er Jahre
Burkhardt, den ich bereits als Galerie-Mitbegründer und Drucker
nannte. Er war wichtig in einer dreifachen Funktion. Zunächst als
Setzer und Drucker, der zum Beispiel für die Galerie Müller
heute gesuchte Bücher mit Originalgrafik druckte: Bense/Pfahlers
schon erwähnte "reste eines gesichts", ferner Karl Fred Dahmen/Döhls
"so etwas wie eine geschichte von etwas", Karl Otto Götz/Franz
Mons "verläufe" oder Theodor Wiesengrund Adorno/Thomas Lenks "Nachbilder
zu Mahler". Ferner gab Burkhardt 1960/1961 22 und 1 "affiche" heraus,
was schon vom Titel her die Nachbarschaft zu Galerie und Ausstellung
betonte. Die Schreib, Pfahler, Hirscher gewidmeten "affiches" wurden
bereits genannt. Daß Grieshaber ein Affiche mit Originalholzschnitt
gewidmet bekam, verstand sich von selbst. Gleichzeitig verwiesen andere
Namen, die in der Reihe der "affiches" begegnen, Mario Persico. Ibrahim
Kodra und Hsiao Chin, auf die Arbeit einer weiteren Galerie, die in
einem Überblick über die 60er Jahre in Stuttgart ebenfalls
erwähnt werden muß: die Galerie Senatore. Sie war es, die
damals den Interessierten mit der aktuellen Kunst Italiens bekannt machte,
erstmalig Arbeiten von Fontana und Manzoni in Deutschland zeigte, aber
auch Künstler im Vorfeld der Arte povera vorstellte. Daß
diese Vermittlungsarbeit keinesfalls exotisch war, sondern einer Interessenlage
wenigstens der jungen Künstler entsprach, ließe sich mit
einem Seitenblick auf die Ausstellungen der Galerie Müller belegen,
die mit dem Maler Canonico und dem Plastiker San Gregorio kurzfristig
ebenfalls zwei, allerdings weniger aufregende Italiener im Programm
hatte. Die dritte Funktion Burkhardts war seine Drucken in eigener Sache,
womit ich nicht seine Texte und Postkarten meine, sondern seine "Druck
& Buchstabenbilder", die er mit beweglichen, oft jugendstilnahen
Holzlettern druckte, zum Teil auf schon bedruckte Papiere. Ihnen gesellten
sich nach ersten Experimenten mit dem Lichtsatz, die sogenannten "Coldtypestructures".
Daß Burkhardt mit diesen zwei Werkphasen außerhalb Stuttgarts
und im Ausland (mit den "Druck&Buchstabenbildern" z.B. in Stockholm,
mit den "Coldtypestructures" vor allem in Holland) erfolgreicher als
in Stuttgart war, muß kaum betont werden.
9
Als Drucker nach Burkhardt war schließlich Hansjörg Mayer
von noch größerer Bedeutung. Auch er wiederum in einer Mehrfachfunktion,
als Drucker und Herausgeber von Mappenwerken und Büchern, zunächst
vor allem im Umfeld der konkreten Literatur; ferner als Herausgeber
und Drucker der in mehrfacher Hinsicht programmatischen Faltblattreihe
"futura", die es - dem Alphabet entsprechend - in den Jahren 1965 bis
1968 auf 26 Nummern brachte. Mit Mayers Entscheidung für die Futura
als Schrift wurde - was man bisher übersehen hat - eine Anregung
des als Typograf noch zu entdeckenden Kurt Schwitters aufgegriffen,
der bereits 1925 die Futura als "die geeignete Schrift" proklamiert
hatte, mit dem Begründung: "Nicht das kleine a unterscheidet die
Futura wesentlich, sondern ihre Gestalt, ihr Reichtum, ihre Durcharbeit".
Wenn ich bisher eher allgemein angemerkt hatte, daß die Auseinandersetzung
mit der Kunstrevolution, speziell mit dem Dadaismus einen eigenen Aspekt
der 60er Jahre darstellt, muß ich dies jetzt ein wenig präzisieren.
1965 schloß ich selbst nach längeren Vorarbeiten eine umfassende
Darstellung des literarischen Werkes von Hans Arp, den ich noch persönlich
kennen lernte, ab. Burkhardt war seinerseits mit Raoul Hausmann bekannt
und publizierte von und für ihn ein eigenes "affiche", veröffentlichte
in der von ihm herausgegebenen, noch nicht erwähnten Publikationsfolge
"Feuilleton" zwei Hausmannsche Manifeste und druckte 1961 den Handpressendruck
"Siebensachen" mit drei Holzschnitten Hausmanns. Vor allem Schwitters
aber, der zu Lebzeiten ja mehrfach in Stuttgart war, im Süddeutschen
Rundfunk sein berühmtes "An Anna Blume" und seine "Ursonate" aufgenommen
und zur Weißenhofsiedlung einige despektierliche Bemerkungen gemacht
hatte - vor allem Schwitters war wiederholt Gegenstand des Interesses.
Sei es, daß Hansjörg Mayer - bewußt oder unbewußt
- mit der für unsere damaligen Publikationen fast ausschließlich
verwandten Futura auf den Vor-Konkreten Schwitters zurückgriff.
Sei es, daß Hirscher anläßlich des 80. Geburtstages
von Schwitters den später auch gedruckten Radio-Essay "Der Merzkünstler
Kurt Schwitters und sein Materialbild" schrieb, während ich für
die Stuttgarter Zeitung eine ganz Seite gestalten konnte, - so etwas
war damals gelegentlich möglich, - auf der neben einem Essay auch
ein bis dato in Deutschland unbekanntes Feuilleton Schwitters aus der
Prager Presse veröffentlicht wurde. Bei den Vorüberlegungen
mit dabei war ein weiteres mal Schreib, der im gleichen Jahr in einer
Aktion vorschlug, England in Kurt-Schwitters-Land, Hannover in Kurt-Schwitters-
Stadt und die Waldhausen- in eine Anna-Blume-Straße umzutaufen.
Ohne Erfolg, wie ich zuverlässig versichern kann. Will man das
Programm der Edition und der Galerie Hansjörg Mayer zum Zweck eines
Vortrags überschaubar machen, wäre zunächst festzuhalten,
daß ihre Arbeit einsetzt, als konkrete Literatur und Kunst ihren
Zenith überschritten hatten. Hansjörg Mayers Aktivitäten
im Herbst einer konkreten Poesie und Kunst wären dann der Druck
der Reihe "rot" seit 1964, und zwar beginnend mit der Nummer 13, der
Mappen "13 visuelle texte", "konkrete poesie international" und "concrete
poetry britain canada united states" und vieler - nicht aller - Nummern
der Faltblattfolge "futura", schließlich, gemeinsam mit der Something-Else-Press,
New York, 1967 die Herausgabe der "anthology of concrete poetry". Ein
eigenes Gesicht gewannen Edition und Galerie in diesem Kontext durch
die radikale Reduktion auf das Alphabet als eines Ensembles materialer
Zeichen, mit denen der Autor, Setzer, Drucker, aber auch der bildende
Künstler komponierend verfuhr. Das schon genannte "rot 13" ist
von Mayer selbst und bezeichnenderweise ein "alphabet". Mayer hat diese
Arbeit mit dem Alphabet fortgesetzt in der Mappe des "alphabetenquadratbuches",
mit "alphabetenquadratbildern", den "typoaktionen", die es in einer
Buch- und einer Mappenversion gibt, sowie einigen "typoems". Doch haben
auch andere Künstler damals mit dem Alphabet gearbeitet, ihre Ergebnisse
veröffentlicht und ausgestellt. Da wäre zum einen Burkhardt
mit seinen Lichtsatzexperimenten, den schon genannten "Coldetypestructures".
Da wäre ferner Siegfried Cremer, der 1964 nach Stuttgart kam und
schnell Anschluß nicht nur an die Galerie und Edition Mayer fand.
Cremer entwarf ein sehr reduziertes eigenes Alphabet, das ebenfalls
als Mappe gedruckt und in der Galerie ausgestellt wurde. Aber er stellte
mit Hilfe dieses Alphabets auch Textstreifen, vor allem aber Portraits
her, die jede Tradition des Portraits konterkarierten. [Zu den folgenden
Werkgruppen Cremers vgl. Döhl: xyz-i].
Außerdem wären zu nennen die Ringbücher "bedepequ" und
Mons programmatisch so genanntes "ainmal nur das alphabet gebrauchen",
das allerdings zusätzlich Momente der Collage nutzte. Wozu ich
anmerken möchte, daß nicht nur Hirscher, dessen Werk ja im
Wesentlichen sich aus Collagen und Objektkästen zusammensetzt,
in den 60er Jahren Collagen und Assemblagen schuf, sondern auch andere
Künstler damals, wenn auch zeitweilig von der konstruktiven Malerei
und Typografie dominiert, gleichzeitig collagiert haben, z.B. der ebenfalls
mit Stuttgart verbundene Prager Jí_i Kolá_. Vieles davon
ist bis heute fast unbekannt, z.B. mein "SpiegelFragmentBilderBuch"
(1959-1962) oder die "Catalogues" (1967/68), manches sicherlich noch
zu entdecken. Vor allem vor 1965 umfaßte das Programm der Edition
auch Radierungen von Hans Brög [vgl. dazu auch Döhl: Genesis]
mit Texten u.a. des gelegentlich zur Stuttgarter Gruppe gerechneten,
inzwischen verstorbenen Helmut Mader, Serigrafien von Jörg Dietrich
und Friedrich Sieber. 1966 verlegte Mayer zusammen mit dem Siebdrucker
Domberger eine zumindest für die damalige Stuttgarter Szene wichtige
Mappe mit dem Titel "16 4 66", was aus dem Stenogramm übersetzt
heißen sollte, daß sie von 16 Stuttgarter Künstlern
jeweils vier Arbeiten aus dem Jahr 1966 enthielt. Diese Mappe verband
in bezeichnender Weise Arbeiten von Schriftstellern, Typografen, bildenden
Künstlern und einem Musiker und betonte auf diese Weise die Gemeinsamkeit
aller Kunstarten. Zugleich zeigte sie das von mir schon angedeutete
Nebeneinander oder Miteinander von konkret, konstruktiv und informell.
Die Künstler, die in ihr für das Jahr 1966 gleichsam als Stuttgarter
Querschnitt versammelt wurden, waren Bense, Burkhardt, Cremer, Döhl,
Hein Gravenhorst, Heißenbüttel, Rudolf Hoflehner, Herbert
W. Kapitzki, Erhard Karkoschka (mit einer Partitur), Kirchberger, Hansjörg
Mayer, Frieder Nake (mit Computer-Grafik), Neusel, Yüksel Pazarkaya,
Diter Rot und Sonderborg, der 1965 an die Kunstakademie berufen worden
war. Ausgehend von diesen 16 Beiträgern ließen sich leicht
viele der Fäden wieder zurückspulen, die ich im Laufe des
Vortrages aufgenommen habe. Aber sie lassen sich von dieser Mappe aus
auch weiterspinnen. Das gilt einmal für den Beitrag Karkoschkas,
der ein weiteres Mal belegt, daß in der kulturellen Szene der
60er Jahre in Stuttgart auch die Musik ihren Part spielte. Erstens als
musikalische Grafik, wie der von Karkoschka verantwortete und im Katalog
kommentierte Ausstellungsteil der von der Staatsgalerie 1972 zusammengestellten
"Grenzgebiete der bildenden Kunst" dokumentierte. [Für die "Computerkunst"
und den Teil "Bild Text Textbilder" waren Herbert W. Franke und ich
zuständig.] Zweitens und wie schon ausgeführt mit fließenden
Übergängen zum Hörspiel. Drittens konzertant mit in der
musikalischen Praxis sonst unüblichen Geräuschquellen. Ein
solches Konzert veranstaltete z.B. 1966 anläßlich einer Cremer-Ausstellung
Friedhelm Döhl mit einem der ausgestellten Objekte unter Zuhilfenahme
von Tonbändern. [Vgl. die "Gong"-Sequenz in Döhl: ein spiel
das beginnen kann und aufhört]. Ein anderer Faden, der sich, von
"16 4 66" ausgehend, weiterspinnen ließe, ist mit Diter Rot verbunden.
Spult man ihn rückwärts, käme man auf der einen Seite
zum Darmstädter Kreis um Claus Bremer, Daniel Spoerri, die Ende
der 50er Jahre am Landestheater Darmstadt arbeiteten, und Emmet Williams,
sowie Diter Rot und Andre Thomkins. Sie schufen in der Publikationsfolge
"material" ein erstes Forum konkreter Literatur. Auf der anderen Seite
käme man zu der von Mon 1960 herausgegebenen Anthologie "movens",
die Arbeiten dieser Autoren durch Textabdrucke Gertrude Steins, Kurt
Schwitters' und Hans Arps' gleichsam historisch fundierte. Parallelen
zu den Stuttgarter Aktivitäten lagen auf der Hand. Und so war es
kaum überraschend, daß diese Namen bald auch, die Stuttgarter
Szenerie komplettierend, im Programm von Edition und Galerie Hansjörg
Mayer auftauchten: Emmet Williams als Herausgeber der "Anthology of
Concrete Poetry" als Autor von "futura 12" und dem Buch "sweathearts",
Claus Bremer als Autor von "futura 8", dessen "engagierende texte" zugleich
die "Augenblick"-Formel "Tendenz und Experiment" illustrierten. Natürlich
waren beide Autoren auch in der "Anthology of Concrete Poetry" vertreten,
ebenso Spoerri, der zusammen mit Karl Gerstner, André Thomkins
und Diter Rot 1969 das Düsseldorfer Ausstellungsquartett "freunde,
friend, fruend, freunde" bildete, dem Hansjörg Mayer wiederum das
gleichnamige Buch druckte. Andre Thomkins war ferner Autor von "futura
25" und stellte 1967 in der Galerie Hansjörg Mayer aus. [Vgl. auch
Döhl: STRATEGY: GET ARTS!.] Hinzukamen
als Aussteller und Autoren Ji_í Kolá_, Herman de Vries,
Robert Filliou, Georges Brecht sowie der Kopenhagener Künstler
und Galerist Addi Koepke, über dessen Galerie sich wiederum weitere
Fäden und Verbindungslinien vor allem in die Welt des Fluxus und
der Happenings aufnehmen ließen, in einer Fülle, die mich
provoziert, doch einmal festzuschreiben, daß Stuttgart in den
60er Jahren ganz nahe dran war, wirklich "Partner der Welt", wenn auch
nur der Welt der Künste zu sein. Der Künstler aber, der am
intensivsten und bis zu ihrer Schließung mit der Galerie und Edition
Mayer verbunden blieb, war Diter Rot. Mayer war der Verleger seiner
zahlreichen Publikationen und Bücher, der Verleger der Gesammelten
Werke, er stellte Diter Rot erstmals 1968 in Stuttgart aus: nicht wohlgeordnet
und im Rahmen, wie spätere Museumspräsentationen, sondern
chaotisch, die Arbeiten mit Reißzweken und Stecknadeln an den
Wänden befestigt. Ende 1968 bekam Hansjörg Mayer in Haags
Gemeentemuseum eine umfassende Ausstellung: "publikaties van de edition
en werk van hansjörg mayer". Zu dieser Ausstellung erschien ein
umfassender, 194 Seiten starker Katalog, der nicht nur die ganze bisherige
Arbeit in Text und Abbildung dokumentierte, sondern im Mittelteil auch
Beiträge abbildete, die die Künstler der Edition und Galerie
beigesteuert hatten. Sie allein wären bereits eine Ausstellung
wert gewesen. Doch wurden sie, wie auch die Ausstellung insgesamt, in
Stuttgart nicht mehr wahrgenommen, in der Tagespresse mit nicht einer
Zeile erwähnt. Hansjörg Mayer hat 1969 seine Galerie geschlossen
und ist nach England gegangen. Den Sitz seiner Edition hat er noch für
einige Jahre in Stuttgart belassen. Finden wird man seine Bücher
und Mappenwerke in Stuttgart vielleicht bei Niedlich oder Buch Julius,
mit Sicherheit in der Buchhandlung König in Köln und anderwärts.
10
Ich bin mit meiner Skizze wichtiger Akzente und Verbindungslinien in
der Stuttgarter Kunstszene der 60er Jahre fast am Ende. Diese Kunstszene
hatte viel aufgenommen und wurde mitgetragen von der Aufbruchsstimmung
am Ende der Adenauerschen Restaurationsepoche. Und sie hat im Verlaufe
des Jahrzehnts wiederholt Höhepunkte überschritten. So wie
die Ausstellung von Edition und Werk Hansjörg Mayers in Den Haag
Bestandsaufnahme und Abgesang zugleich war, waren dies die "Anthology
of Concrete Poetry" 1967, 1968 die von der Buchhandlung Niedlich organisierte
Mammutlesung im Landesgewerbemuseum und die Amsterdamer Wanderausstellung
"klankteksten / ? konkrete poezie / visuelle teksten" für die konkrete
Literatur mit ihren Spielformen zwischen Text und Bild, war dies die
Ausstellung "Formen der Farbe" in ihrer Bündelung von op-art, hard-edge,
minimal art und konkreter Kunst. In all diesen Ausstellungen und Veranstaltungen
waren Stuttgarter Künstler mit gewichtigen Arbeiten und umfassend
vertreten. Eine Ausstellung allerdings fehlt noch in meiner Auflistung,
und mit ihr die Namen eines Sammlers und eines Künstlers. Ich meine
die von Harald Szeemann für den Kölner Kunstverein organisierte
Ausstellung "happening. die geschichte einer bewegung". Sie machte,
auf dem Wege ins Stedelijk-Museum in Amsterdam und die Neue Gesellschaft
für bildende Kunst in Berlin, 1970 auch im Stuttgarter Kunstverein
Station. Mit gutem Recht, denn die Materialien dieser Ausstellung stammten
zu weiten Teilen aus dem Markgröninger Archiv Sohm. Bei ihrer Zusammenstellung,
bei Bibliographie, Typoskript und Chronologie war der Stuttgarter Künstler
Albrecht/d wesentlich beteiligt. Ich nenne ihn, seine Aktionen, darunter
1967 als die wohl wichtigste eine "Handlung ohne Geschehen", sowie seine
"Reflexion-Press" seit 1968 an dieser Stelle, da ich Albrecht/d's galerielose
Existenz in den bisherigen Zusammenhängen nicht unterbringen konnte,
ihn aber der Kunstszene der 60er Jahre zurechne. Wer wollte, konnte
vor einigen Jahren im Wangener Theaterhaus, in der Galerie von Kolczynski
und bei Buch Julius Albrecht/d's Stuttgarter Aktivitäten seit 1966
Revue passieren lassen. In der von ihm mit erarbeiteten, auf Beständen
des Archivs Sohm fußenden Happening-Ausstellung weitete sich für
den Interessierten über Namen, die bereits im Zusammenhang mit
der Galerie Hansjörg Mayer fielen - George Brecht, Robert Fillou,
Dick Higgens, Addi Koepcke, Daniel Spoerri, Emmet Williams - der Blick
auf weitere Künstler und Aktivitäten, die in ihrer Radikalität
in Stuttgart so wohl nie möglich gewesen wären und dennoch
indirekt über die Galerie Hansjörg Mayer oder durch persönliche
Kontakte mit Stuttgarter Künstlern in die Stuttgarter Kunstszene
der 60er Jahre partiell hineingewirkt haben. Immerhin fand in Ulm, um
Ulm und um Ulm herum (Claus Bremer war inzwischen Dramaturg am dortigen
Theater), wenigstens in Stuttgarter Nähe, wenigstens ein bedeutenderes
Happening statt, das dann auch in die einschlägige Literatur und
Dokumentation einging: Wolf Vostell hatte es 1964 für das studio
f. und das Ulmer Theater geschrieben. Man muß es schon als eine
der wenigen Stuttgarter Sternstunden bezeichnen, daß es 1987 gelungen
ist, der Sammlung Sohm als einer >Fröhlichen Wissenschaft< den
Weg in die Stuttgarter Staatsgalerie zu ebnen, wählen doch wichtige
Sammlungen in der Regel den Weg um Stuttgart herum. Eine Aufzählung
darf ich mir ersparen.
11
Ich möchte zum Schluß meiner Skizze kommen, deren Blick vor
allem auf Stuttgart gerichtet war, die dagegen kaum ausgeführt
hat, in welchem Umfang diese Stuttgarter Szene über Stuttgart hinaus
Kontakt hatte und hielt, nicht nur nach Brasilien, Frankreich und England,
sondern auch in die Vereinigten Staaten, nach Skandinavien, Italien,
die Tschechslowakische Republik und Japan. [Vgl. auch Döhl: Stuttgart
- Tokyo und zurück.] Diese vielfältigen Beziehungen im
einzelnen nachzuzeichnen wird wohl für lange Zeit noch ein Desiderat
der Stuttgarter Kulturgeschichtsschreibung, dieses Beziehungsgeflecht
einmal in einer umfassenden Ausstellung zu dokumentieren, ein in Stuttgart
unerfüllbarer Wunschtraum bleiben. Ich möchte zum Schluß
kommen, weiß aber nicht, zu welchem. Drei Schlüsse sind möglich.
Ich stelle sie zur Wahl. Erster Schluß: es ist noch gar nicht
so lange her, da war eine Ausstellung der 60er Jahre in Stuttgart geplant.
Mit einigem Entsetzen mußten damals die daran Interessierten feststellen,
daß diese Ausstellung weder ein Konzept hatte noch die für
sie Verantwortlichen überhaupt wußten, was in den 60er Jahren,
in denen Stuttgart wirklich einmal ein Partner der (Kunst)Welt war,
wirklich geschehen ist. Dieser dilettantische Ausstellungsplan ist erfreulicherweise
nicht verwirklicht worden. Im Gegensatz zu einer Ausstellung zur selben
Zeit in Köln, die exemplarisch den Anschluß Kölns an
die aktuelle Weltkunstszene vorführte: in allen Medien. Offensichtlich
haben die Kölner, was Kunst anbetrifft, erheblich weniger Berührungsängste.
Daß in ihrem Katalog auch ein paar Stuttgarter vorkommen, sei
nebenbei erwähnt. Zweiter Schluß: Hansjörg Mayer ging
1969 nach England, Heißenbüttel am Tag seiner Pensionierung
nach Borsfleth. Andere gingen anderswo hin. Bense war in Stuttgart schließlich
kaum mehr anzutreffen. Und so wird es weitergehen. Die Schlußverkäufe
sind jahreszeitlich festgelegt. Der Ausverkauf an Künstlern und
Kunst findet ganzjährig statt. Im Zweifelsfall kann man nachhelfen,
werden Künstler aus ihren Ateliers vertrieben. Ganz offiziell.
Dritter Schluß: kein Hegel- aber ein Hölderlinzitat. Erst
kürzlich überreichte der Klett-Cotta-Verlag dem Oberbürgermeister
ein historisches Stadtportrait mit einem, dem jungen Hölderlin
entlehnten Motto:
"O Fürstin der Heimath! Glükliches Stuttgart".
Vom älteren Hölderlin ist ein Fragment überliefert,
das lautet:
"Und Stuttgart, wo ich
Ein Augenblicklicher, begraben
Liegen dürfte, dort,
Wo sich die Straße
Bieget."
Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Reinhard Döhl, 1987