Stuttgart - Japan und zurück oder Ein japanisch-deutscher
Literatur- und Schriftwechsel
von Reinhard Döhl / Hiroo Kamimura
1. Schrift Bilder Bild Schrift [1993]
2. weißes quadrat darin weißes quadrat [1994]
3. Stuttgart - Tokyo und zurück
4. Fußnote zu einer poetischen Korrespondenz [1995]
1. Schrift Bilder Bild Schrift [Galerie Buch Julius, 1993]
Wie Leipzig eine Seestadt, ist Stuttgart der Möchtegernpartner
der Welt, mit Partnerstädten in Indien, der Tschechischen Republik,
in Wales, Ägypten, Polen, Tunesien, Rußland, England, Frankreich
und den USA. Es ist dies eine Weltläufigkeit, von der in Stuttgart
wenig zu merken ist. [Wir haben schließlich andere Probleme!]
Erst recht bleibt in Stuttgart unbemerkt, was es historisch und aktuell
an wirklichen internationalen Partnerschaften gegeben hat und gibt.
Von einer dieser Partnerschaften ist im Folgenden die Rede, einer mir
auch persönlich wichtigen Partnerschaft zwischen Stuttgart und
Japan, einem kulturellen Dialog seit über dreißig Jahren:
literarisch, in der bildenden Kunst und im Bereiche der Wissenschaft.
Von der Musik rede ich nicht, obwohl auch hier Einschlägiges durchaus
anzumerken wäre. Und ich konzentriere mich zunächst auf die
Ausstellung "Schrift Bilder Bild Schrift" [1993], die diesen Dialog
dokumentieren soll, wobei ich im Vorbeigehen erwähne, daß
einer der Aussteller seit Jahren zu den Künstlern der Stuttgarter
Galerie Folkmar von Kolczynski gehört, andere bereits in den 60er
Jahren in der von Max Bense geleiteten legendären Studiengalerie
der damals noch Technischen Hochschule Stuttgart ausgestellt, in der
von Elisabeth Walther und Bense herausgegebenen Reihe "rot", der von
Hansjörg Mayer edierten "futura"-Folge publiziert haben, ein weiterer
zum wissenschaftlichen Beirat der von Max Bense, Gérard Deledalle
und Elisabeth Walther begründeten "Internationalen Zeitschrift
für Semiotik und Ästhetik", "Semiosis", gehört. Nicht
unerwähnt soll schließlich bleiben, daß Wil Frenken
1980 in seiner "Werkstatt Breitenbrunn" ebenfalls japanische Konkrete
präsentiert hatte, daß sich in seinem eigenen Werk einschlägige
Affinitäten ausmachen lassen, was in dieser Ausstellung durch zwei
Exponate wenigstens angedeutet ist.
Damit wäre ich denn auch bei der Ausstellung "Schrift Bilder Bild
Schrift" angekommen, die vor allem zweierlei leisten möchte. Zunächst
will sie natürlich und vor allem einen Eindruck vermitteln von
dem, was in der aktuellen japanischen Kunst zwischen Schriftzeichen
und Bild, zwischen Typographie und Schrift getrieben wird. Hier fächert
sie bis zu den Grenzen, an denen seit längerem die Probleme konkreter
und visueller Poesie diskutiert werden. Das ist z.B. die Grenze zur
concept art einerseits, an der ich die Arbeiten von Shohachiro Takahashi
sehe. Das ist andererseits die Grenze zur traditionellen Sho-Kunst,
an der ich z.B. die Arbeiten von Kyuyo Kajino und Kei Suzuki lese. Interessant
war uns aber beim Aufbau der Ausstellung auch die technische Breite,
in der die Künstler ihre Probleme diskutieren, angefangen mit der
traditionelen Pinselschrift über die Collage, das Foto, die Fotocollage
(Motoyuki Ito; Noboru Izumi), verschiedene Drucktechniken (etwa bei
Ryojiro Yamanaka) bis hin zu den mit dem Computer erstellten Arbeiten
Shoji Yoshizawas: dem anspielungsreichen (auch sprachspielerischen)
"Water"-Zyklus.
Auf Anspielungen wird der Betrachter überhaupt achten müssen,
z.B. bei der "Performance of Greece" Takahashis, deren scheinbar simple
Kleiderbügel-Umrisse ihre europäische Entsprechung haben in
Man Rays Obstruction 1920<, vor allem aber in Robert Fillous poetischem
Objekt "I comme dans poisson 1961", wobei ich daran erinnere, daß
Fillou in einem zenbuddhistischen Kloster gestorben ist. In diesem angedeuteten
Kontext verfolgt die Performance Takahashis den Weg von den noch ungeordneten
Wörtern (= words) auf den Seiten (= pages) zur Poesie
(= poetry), die selbst ausgespart bleibt.
Auf eines der berühmtesten europäischen Gedichte spielen (mit
einer grafischen Entsprechung) die 5 Fahnen Shutaro Mukais an, auf Rimbauds
Sonett "Voyelles" [Vokale], dessen erste Zeile bekanntlich lautet: A
noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu: voyelles. Allerdings stellt
Mukai nicht nur die Reihenfolge der Vokale um, sondern weist dem E auch
eine andere Farbe zu, was natürlich interpretatorisch ebenso von
Bedeutung ist wie der Titel der zugehörigen Grafik: "Genesis and
metamorphosis of sound images".
Andere Arbeiten zeigen andere Vielschichtigkeiten, vor allem auch sprachlicher
Art, z.B. die Triptycha Berg / Weiß / Stimme von Kajino,
oder Hiroo Kamimuras Himmel / Wolken / Zen, die sich als eine
Art Mini-Haiku lesen lassen, Denn die auf ihnen zu lesenden Wörter
sind mehrdeutig, z.B. der Text Himmel:
aoaoto
aoaoto sora
aoaoto somaru.
Wörtlich übersetzt ist ao = blau, aoaoto = ganz blau, sora =
Himmel; somaru = sich färben; lautet der Text also:
ganz blau
ganz blau der Himmel
färbt sich ganz blau.
Aber das Kanji für sora bedeutet auch: Nichts, Leere, Vergänglichkeit,
Begriffe also, die im Denken des Zen eine zentrale Rolle spielen. Und
der Kenner wird sich vielleicht zusätzlich an die berühmte Sho-Arbeit
"Yün ch'ü-lai" (japanisch: Un kyroai) des zen-buddhistischen
Mönchs Wu-an P'u-ning (japanisch: Gottan Funai) erinnern: Wolken
gehen und kommen.
Ein Zweites, was diese Ausstellung wenigstens andeuten soll, ist, wie
gesagt, der nun schon dreißigjährige Dialog zwischen Stuttgart
und Japan. Er deutet sich an z.B. in den Portraits, die sich auf Postkarten
Hiroo Kamimuras verstecken, etwa von Wil Frenken, Buch Julius oder mir,
in mit dem Pinsel gezogenen Gesichtskonturen, die Kamimura beim Schreiben
aus den Kanji entwickelt.
Konkret soll die im Keller in einer Auswahl gezeigte mail art aber den
Betrachter auch direkt teilhaben lassen an diesem deutsch/japanischen
Dialog, an den in ihm gestellten künstlerischen Fragen und vorgeschlagenen
Antworten. Dem aufmerksamen Betrachter werden dabei sicherlich manche
Korrespondenzen deutlich werden, etwa zwischen drei Postkartencollagen
und dem handgearbeiteten "Mondmädchen" Yasuko Kamimuras, der Heldin
eines bittermelancholischen japanischen Märchens.
Zu diesem Dialog gehören schließlich Gemeinschaftsarbeiten,
u.a. mit Hiroo Kamimura und Kei Suzuki, gehört eine Vorstellung Wolfgang
Ehehalts in der Zeitschrift "Schiff" der Gruppe "Realität" ebenso
wie der "Rettich" (daikon) Kei Suzukis in Ehehalts Küche, sowie ein
Renshi, das via mail art entstanden ist, zu Teilen im Rahmen einer Ausstellung
des Japan-Dichterclubs in Tokyo gezeigt und vorgestellt wurde, und aus
dem ich abschließend eine Sequenz zitieren möchte. Das Renshi
ist, dem Eingangs-Tanka entsprechend, "Das weiße Schiff" getitelt.
Den Schritt verhaltend
im raschelnden Laub, schwarze
Kiefernadelschrift
in grauen Himmel geritzt:
Wolken gehen und kommen.
[Reinhard]
Den von von der Kiefer-
nadel gefallenen Tau
kann ich nicht finden,
weil ringsum mit Schnee bedeckt
das Land und alles weiß ist.
[Syun]
Im Wintermondlicht
gleiten die scharfen Nadel-
schatten der Kiefer
leicht über die Fußstapfen
des trunkenen Heimkehrers.
[Reinhard]
Heimkehrer kommen
auf dem Bahnsteig und gehen.
Ein betrunkener
Dichter liegt auf einer Bank
von einem Frühling träumend.
[Syun]
Von Frühlingsblumen
singt betrunken der Dichter
und weißen Sternen.
Gegen die Kälte der Nacht
hüllt der Mantel aus Schnee.
[Reinhard]
Es handelt sich nicht
um die Kälte dieser Nacht.
Geistiger Hunger,
der plötzlich in ihm aufsteigt,
läßt ihn weinen und zittern.
[Syun]
Ein Hungerleider,
mit der Spitze des Pinsels
schreibt er Nichts, Leere.
Absichtslosigkeit, schreibt er,
folgend der Spur der Wolken.
[Reinhard]
Absichtslosigkeit
in Ruhe hat einen Nabel:
leaves leave in
spring and leave in autumn.
Nichts schöner als das Leben!
[Syun]
Gestern noch hat es
geregnet, heute morgen,
mit Sonnenaufgang
reibe ich die Tusche an,
den Frühling zu begrüßen.
[Reinhard]
Von außen herein-
geflogene Kirschblüten
auf meiner Tinte.
Ich konnte nicht anreiben,
ich konnte nur anschauen.
[Syun]
Wieder heimgekehrt,
lese ich von Kirschblüten.Mit den Tropfen des
Regens reibe ich Tinte,
dieses Tanka zu schreiben.
[Reinhard]
Nur in kurzem Traum
blühen die Frühlingsblumen.
Nur einen Augen-
blick und man sieht die Wiese
schon bereift wie im Winter.
[Syun]
Vor ein paar Tagen
brach plötzlich der Sommer aus.
Wo blieb der Frühling
in diesem Jahr, wo blieben
die Apfelblüten im Garten.
[Reinhard]
Wer hat nur diesen
schmalen Gang durch den Apfel-
garten angelegt?
Dein Wort ist mir am schönsten,
daraus kommt meine Liebe.
[Syun]
Wie weiß waren die
Blüten in diesem Frühjahr,
und wie klein sind noch
die Äpfel. Behutsam will
ich sie pflücken, wenn Herbst ist
[Reinhard]
2. weißes quadrat darin weißes quadrat [Stadtbücherei
im Wilhelmspalais, 1994]
Mein Gegenstand sind die Wechselwirkungen, der Dialog zwischen Stuttgart,
präziser der Stuttgarter Schule/Gruppe und Japan auf den verschiedensten
Ebenen. Dazu ist ein exkursorischer Umweg über die japanische konkrete
visuelle und akustische Poesie im internationalen Kontext hilfreich, wie
sie Hiroo Kamimura in "Aktuelle konkrete und visuelle Poesie aus Japan",
Siegen 1986, erstmals skizziert hat. Ich folge seiner Skizze, um daran
anschließend einige Beispiele vorzustellen, die sich in diesem Kontext
zwischen Japan und Stuttgart / Stuttgart und Japan ergeben haben und bis
heute produktiv geblieben sind.
Die Vorgeschichte und Geschichte der japanischen konkreten Poesie reicht
ähnlich wie in Europa weiter zurück. Da wir wenig von der japanischen
Avantgarde wissen, erwähne ich, daß es auch in Japan zum Beispiel
eine dadaistische Bewegung gegeben hat, auf die vor ein paar Jahren ein
Aufsatz von Fumio Oki in der Sindelfinger Kunstzeitschrift "Zyma" aufmerksam
machte. Der turbulenten Kunstentwicklung der 50er Jahre in Europa lassen
sich die Arbeiten der inzwischen legendären japanischen "Gutai"-Gruppe
vergleichen, die 1991 auf der Darmstädter Mathildenhöhe ausgestellt
und damit vielen deutschen und europäischen Besuchern erstmals bekannt
wurden.
Im Falle der konkreten Poesie wäre als erster der japanische Dichter
Katue Kitasono (1902-1978) zu nennen. Kitasono hatte bereits 1935 die
Gruppe "Vou" gegründet und seither eine Zeitschrift gleichen Titels
herausgegeben, die es bis 1978 auf insgesamt 160 Nummern brachte und als
eine der bedeutendsten avantgardistischen Zeitschriften Japans angesprochen
werden muß. Diese Zeitschrift, die anfänglich deutlich von
der modernen europäischen Lyrik beeinflußt war, interessiert
im augenblicklichen Zusammenhang allerdings weniger als einige Überlegungen
Kitasonos, die er dort Anfang der 50er Jahre veröffentlichte.
Ein literarischer Text solle, schrieb er dort, auf Allegorie, Symbol,
Metapher verzichten, er diene nicht dem Transport von Bedeutungen, allenfalls
stelle der Text Bedeutungen her. Der Dichter stelle das Wort lediglich
als Zeichen für Farbe, Linie und Punkt zur Verfügung.
Was dies in Konsequenz und Praxis meinte, dokumentiert ein vierteiliger
Text Kitasonos aus dem Jahre 1957, "tanchona kukan", was man etwa mit
"Monotoner Raum" übersetzen könnte. Ich zitiere diesen Text
zunächst vollständig in japanischer Sprache, und danach die
drei wichtigsten Teile in deutscher Übersetzung:
shiroi shikaku
no naka
no shiroi shikaku
no naka
no kuroi shikaku
no naka
no kuroi shikaku
no naka
no kiiroi shikaku
no naka
no kiiroi shikaku
no naka
no shiroi shikaku
no naka
no shiroi shikaku
:
shiro
nonaka no shiro
nonaka no kuro
nonaka no kuro
nonaka no kiiro
nonaka no kiiro
nonaka no shiro
nonaka no shiro
:
no
no sankaku
no hige
no
garas
shiro
no sankaku
no uma
no
parasoru
kuro
no sankaku
no tabako
no
birudingu
kiiro
no sankaku
no hoshi
no
hankachiifu
:
shiroi shikaku
no naka
no shiroi shikaku
no naka
no shiroi shikaku
no naka
no shiroi shikaku
no naka
no shiroi shikaku
Das Wort shikaku läßt sich mit Viereck, aber auch mit Quadrat
wiedergeben. Ich entscheide mich für letzteres und übersetze:
weißes quadrat
darin
weißes quadrat
darin
gelbes quadrat
darin
gelbes quadrat
darin
schwarzes quadrat
darin
schwarzes quadrat
darin
weißes quadrat
darin
weißes quadrat
:
weiß darin das weiß
darin das gelb
darin das gelb
darin das schwarz
darin das schwarz
darin das weiß
darin das weiß
:
weißes quadrat
darin
weißes quadrat
darin
weißes quadrat
darin
weißes quadrat
darin
weißes quadrat.
Dieses Gedicht wird in Emmett Williams berühmter "Anthology of Concrete
Poetry" als erstes konkretes Gedicht Japans bezeichnet. Wie immer dem
sei, mit ihm betritt Kitasono die internationale konkrete Bühne.
Denn entweder der brasilianische Dichter und Komponist L.C. Vinholes,
der damals Kultur-Attaché an der brasilianischen Botschaft in Tokio
war, oder der Dichter Haroldo de Campos übersetzen dieses Gedicht
ins Portugiesische, und Haroldo de Campos publiziert und kommentiert es
mit den Worten, Looking at this poem, I remember Malevich's "White on
White" painting and Albers' "Homage to the Square" series. With some hints
(part 3) of a very peculiar Japanese kind of visual surrealism. Campos
hätte sogar direkt auf die verblüffende Gleichzeitigkeit von
Kitasonos Text und Albers' "Huldigung an das Quadrat" von 1957, heute
im Carnegie Institute, Pittsburgh/Pennsylvania, verweisen können.
Die ersten internationalen Kontakte der japanischen konkreten Poesie weisen
also nach Brasilien, verknüpfen sich mit der Noigandres-Gruppe und
wirken über sie weiter.
Als zweiter gewichtiger konkreter Dichter Japans muß Seiichi Niikuni
(1925-1977) genannt werden. Auch seine Entwicklung kann zunächst
als (unbewußte) Annäherung verstanden werden, wenn er bereits
in den 50er Jahren zwischen miru-shi und kiku-shi, zwischen Seh- und Hörgedichten
unterscheidet. Auch in seinem Fall spielt L.C. Vinholes die entscheidende
Vermittlerrolle. Beeindruckt von dem 1963 erschienenen Gedichtband "Zero-On"
["Null-Laut"] empfiehlt nämlich Vinholes, den Band der Noigandres-Gruppe,
den Herausgebern der Stuttgarter "rot"-Reihe, Max Bense und Elisabeth
Walther, und Pierre Garnier, zu schicken, der damals die Zeitschrift "Les
Lettres. Poésie nouvelle. Revue du Spatialisme" redaktionell betreute.
Während der mit Stuttgart geknüpfte Kontakt zunächst vor
allem ausstellungstechnische Folgen hatte, gestaltete sich Niikunis Beziehung
zu Garnier äußerst produktiv. Einmal in einer poetischen Publikation,
einer Mappe gemeinsamer französisch-japanischer Gedichte, den "Poèmes
franco-japonais" (1963). Dann aber auch theoretisch. Denn während
1963 unter Garniers "Plan pilote fondant le Spatialisme" noch nur die
Namen Katue Kitasonos und Toshihiko Shimizus standen, wird das "Dritte
Manifest des Spatialismus / Für eine übernationale Poesie" (1965)
von Pierre Garnier und Seiichi Niikuni gemeinsam verfaßt, von Niikuni
allein 1968 das "Tokyo-Manifest für den Spatialismus".
In der Zwischenzeit hatten sich allerdings Kitasono und seine "Vou"-Gruppe
auf der einen, Niikuni und seine "ASA"-Gruppe (= Association for Study
of Arts) deutlich auseinander entwickelt. Ich kann das in diesem Zusammenhang
im Detail nicht ausführen und beschränke mich - in der Übersetzung
von Hiroo Kamimura - auf das Zitat von zwei Manifesten. Das erste stammt
von Kitasono und wurde 1966 als "Notiz über plastische Poesie" in
der Zeitschrift "Vou" veröffentlicht:
Die Geschichte der Poesie, die mit einer Gänsefeder anfing, soll
mit einem Kugelschreiber aufhören. Ob Poesie zugrunde geht oder Gelegenheit
zur neuen Entwicklung hat, das hängt davon ab, was ein Ausdrucksmittel
der gegenwärtige Dichter nach dem Kugelschreiber wählt.
Gerade in dieser Zeit gibt es so ein Werkzeug, das er wählen darf,
eine Kamera. Die Kamera vermag auch aus einer Handvoll verschriebener
Papierabfälle eines Gedichtes einen schönen Text herauszunehmen.
Sprache ist das ungenaueste Ubermittlungszeichen, das die Menschheit
je schuf. Zen-Buddhismus, Philosophie, Literatur etc. machen Sprache völlig
zur Klamotte, womit man immer weniger etwas anfangen kann. Die Vorstellung,
daß ein vom Dichter geschaffenes Gedicht für einen so antiquarischen
Geist wie Zen-Buddhismus, Philosophie usw. existiert, ist unsinnig.
Plastische Poesie ist eine Gestalt, die weder Zeilen noch Strophen
braucht und nichts als ein Gedicht ist. Sie ist eine Apparatur für
ein Gedicht, die weder Rhythmus noch Bedeutung braucht.
Der Fluß der experimentellen Dichtung, der aus Quellen des Futurismus,
Dadaismus, Kubismus floß, machte hie und da kleine Pfützen
der konkreten Poesie, die mich aber nur an einen flüchtigen Blitz
erinnern.
Dichter, bis wann willst du Beifall des Publikums für dich, einen
realen Künstler der Sprache erwarten? So ein Beifall ist niemals
zu erwarten. Ich stelle eine Poesie dar, im Sucher meiner Kamera und durch
eine Handvoll Papierabfälle, Pappe, Glasscherben. Das ist die Geburt
einer plastischen Poesie.
Während Kitasono derart die Sprache als Material der Dichtung verläßt,
um dem Gedicht eine andere Sprache zu gewinnen, beharrt Niikunis "ASA-Manifest
1973" auf der Sprache als Material der Poesie.
1. Ein Gedicht ist an und für sich ein Ding.
2. Ein Gedicht soll eine Betonung aufs Poetische legen.
3. Ein Gedicht soll eine Betonung aufs Design legen.
4. Ein Gedicht soll auf Schöpfung der spracheigenen Schönheit
gerichtet sein.
5. Poesie soll übernational sein.
6. Poesie soll auf eine organische Beziehung zwischen Struktur und
Funktion der Sprache gerichtet sein.
7. Ein Gedicht soll ein visuell-akustisch-semantisches Wesen sein.
8. Ein Gedicht soll durch Wörter oder Wort-Elemente einen Kern
visueller oder akustischer Energie enthalten.
9. Ein Gedicht wird von Phonemen oder Wortklängen gemacht.
10. Ein Gedicht ist eine Kommunikationsweise des augenblicklichen Verstehens.
11. Ein Gedicht soll der Natur einer ideographischen oder hieroglyphischen
Schrift entsprechen.
12. Poesie ist keine hybride Kunst.
13. Poesie ist als Mittel der Umweltgestaltung produziert worden.
14. Das Weltbild, das jedes Gedicht erzeugt, wird von der Sprache,
die wir benutzen, kontrolliert.
15. Poesie muß sich unserer universalen Existenzen im Weltraumzeitalter
bewußt werden.
Das ist so deutlich, daß es kaum der Erklärung bedarf. Ein
paar Anmerkungen sind dennoch angebracht. Zunächst einmal ist es
ein relativ spätes Manifest konkreter Literatur. Hiroo Kamimura hat
zurecht darauf hingewiesen, daß es für Niikuni um eine theoretische
Zusammenfassung der vergangenen Resultate und zugleich [um] ein Grundprinzip
für die Weiterentwicklung gegangen sei zu einer Zeit, da die konkrete
Poesie mit den großen Ausstellungen in Zürich und Amsterdam
- auf sie werde ich noch einmal zu sprechen kommen - ihre strenge und
enge Phase abgeschlossen hatte. Als zweites möchte ich Hiroo Kamimura
zustimmen, daß dieses Manifest Niikunis theoretische Stichworte
von [...] Pierre Garnier, Eugen Gomringer, Max Bense und der Noigandres-Gruppe
aufgenommen hatte und damit auf Internationalität ausgerichtet war.
Die dritte Anmerkung betrifft die Verfasserfrage. Veröffentlicht
und entworfen ist das Manifest von Niikuni, aber seine endgültige
Fassung erfuhr es infolge eines Briefwechsels zwischen Niikuni und Kamimura.
Was mich zugleich zu einem weiteren Aspekt führt: dem Dialog zwischen
3. Stuttgart - Tokyo und zurück [Stadtbücherei im Wilhelmspalais,
1994]
Die Anfänge dieses Dialoges sind auf der Hochschule für Gestaltung
in Ulm auszumachen, also im Umfeld von Max Bill und Eugen Gomringer
(der damals Sekretär Max Bills war). An dieser Hochschule unterrichtete
auch Max Bense. Sie war der Ort, über den erstmals im deutschsprachigen
Raum Arbeiten und Künstler der brasilianischen Noigrandres-Gruppe
bekannt wurden, einem der Stuttgarter Gruppe um Max Bense, dem Spatialismus
Pierre Garniers vergleichbares brasilianischen Unternehmen. An dieser
Hochschule studierte aber auch Shutaro Mukai, der heute zum wissenschaftliche
Beirat der Zeitschrift "Semiosis" gehört. Neben Ubersetzungen Hiroo
Kamimuras sind es vor allem Arbeiten Mukais, die Benses exakte Ästhetik
und Benses Zeichentheorie in Japan bekannt machten, nicht zuletzt in
dem 1982 in Tokyo erschienenen Aufsatzband "Kunst als Zeichen".
Über Haroldo de Campos, der Ende der 50er Jahre Ulm und 1964 Stuttgart
besuchte, über die Noigandres-Gruppe und ihre Beziehungen zu Stuttgart
hat Elisabeth Walther an anderer Stelle veröffentlicht ["Die Beziehung
von Haroldo de Campos zur deutschen konkreten Poesie, insbesondere zu
Max Bense"], das muß nicht wiederholt werden. Eine Kleinigkeit
jedoch möchte ich ergänzen, die zu meinem Thema gehört.
Haroldo de Campos verdanke zumindestens ich die Kenntnis eines wichtigen
Essays: Ernest Fenelosa's "Das chinesische Schriftzeichen als poetisches
Medium". Dieser Essay war 1920 von Ezra Pound herausgegeben worden und
fast in Vergessenheit geraten, bis L.C. Vinholes ihn den Brasilianern
bekannt machte und er auf diesem Wege in die internationale Diskussion
um die konkrete Poesie eingeführt wurde. Ein Essay, hier so wichtig
wie Worringers "Abstraktion und Einfühlung" für die Entwicklung
der modernen Malerei.
Der in den USA geborene Fenelosa, Professor an verschiedenen japanischen
Universitäten, u.a. der Kunstakademie Tokyos, ist in Japan mehrfach
ausgezeichnet worden. Als sein Standardwerk gilt heute eine zweibändige
Geschichte der chinesischen und japanischen Kunst. Hier interessiert
er jedoch ausschließlich wegen des genannten Essays, mit dem er
der konkreten Poesie das japanische Virus einimpfte in einer Artenvielfalt,
die einmal einer gründlicheren Untersuchung bedürfte.
Außer der Hochschule für Gestaltung in Ulm für das Verhältnis
Stuttgart-Japan von einleitender Bedeutung sind ferner zwei Ausstellungen.
Das ist zunächst die Darmstädter Ausstellung "Sinn und Zeichen.
Kalligraphien japanischer Meister" aus dem Jahre 1962, die in Deutschland
erstmals mit radikal moderner Sho-Kunst bekannt machte, dann die 1963
von Amsterdam nach Baden-Baden gewanderte Ausstellung "Schrift und Bild".
Wann sich die ersten direkten Kontakte zwischen Stuttgart und Japan
angesponnen haben, konnte ich genau nicht herausfinden. Mit Sicherheit
waren, nachdem 1961 noch ausschließlich Arbeiten der "Noigrandres"-Gruppe
in Tokyo gezeigt wurden, 1964 auf der Ausstellung "poema concreta /
konkrete poesie", die vom Sogetsu Kunstzentrum unter Mitarbeit der brasilianischen
Botschaft und des deutschen Kulturinstituts veranstaltet wurde, neben
japanischen und brasilianischen auch Arbeiten von Pierre Garnier aus
Paris und aus Stuttgart von Elisabeth Walther, Max Bense, Helmut Heißenbüttel
und mir gezeigt wurden. Spätestens seit dieser Zeit datieren auch
immer intensivere persönliche Kontakte, zunächst zur "ASA"-Gruppe
um Seichii Niikuni, nach seinem Tode zur "Shi Shi"-Gruppe. Kontakte,
die neben einer umfassenderen Korrespondenz vor allem einen Schriftenaustausch
einschließen. Wie intensiv letzterer war, belegt der Nachlaß
Niikunis in der Bibliothek der Kunstakademie Tokyo, der Arbeiten der
Ulmer Hochschule für Gestaltung und der Stuttgarter Schule/Gruppe
in einer Vollständigkeit umfaßt, die wir hier wahrscheinlich
nicht mehr zusammenbrächten.
Von Marbach rede ich gar nicht erst, wohl aber davon, daß neben
den gemeinsamen Arbeiten von Garnier und Niikuni jetzt weitere gemeinsame
bzw. dialogische Arbeiten entstehen, so von Hiroo Kamimura und mir.
Hiroo Kamimura hat 1966/67 ein Studienjahr in Stuttgart an der damals
noch Technischen Hochschule, aber auch im Umkreis Max Benses verbracht.
Ein Gästebucheintrag von ihm ist auch die erste nachweisbare japanische
Spur dieses Dialogs in Stuttgart. Einige seiner damals entstandenen
konkreten Gedichte, "5 Vokaltexte", erschienen 1967 in der inzwischen
legendären Reihe "futura", die Hansjörg Mayer herausgab. Ich
habe diese Gedichte damals fortgesetzt, wie wir das nannten,
zu "laut. gedichte nach dem japanischen des hiroo kamimura", und diese
Fortsetzungen in das Projekt "wie man so sagt / wie man so liest
/ wie man so hört" eingerückt. Ich beschränke mich auf
das zwei Beispiele:
1. Hiroo Kamimura:
aka
akaza
akagawa
akadama
akabara
akabana
akahara
akahada
akahata
aa amatana
aka
akaga
akaaka
Reinhard Döhl:
akaza
abra ka dabra
akaza
abra ka dabra
akaza
abra ka dabra
akaza
abra ka dabra
akaza
abra ka dabra
akaza
abra ka dabra
akababara
abra ka dabra
akabara
abra ka dabra
akabara
abra ka dabra
akabara
abra ka dabra
akabara
abra ka dabra
akabara
abra ka dabra
akabara
abra ka dabra
akahata
abrakadabra
akahata
abrakadabra
akahata
abrakadabra
akahata
abrakadabra
akahata
abrakadabra
akahata
abrakadabra
akaza
2. Hiroo Kamimura:
ku
umu ku
uzuku ku
tsuzuku ku
uuuuuuuuuuuuu
Reinhard Döhl:
ku
klux
ku
klux
ku
klux
ku
klux
ku
klux
ku
klux
ku ku
klux
ku ku
klux
ku ku
klux
ku ku
klux
ku ku
klux
ku ku
klux
uzuku
klux
uzuku
klux
uzuku
klux
uzuku
klux
uzuku
klux
uzuku
klux
uzuku
klux
uzuku ku
klux
uzuku ku
klux
uzuku ku
klux
uzuku ku
klux
uzuku ku
klux
uzuku ku
klux
tsuzuku ku
klux klan
tsuzuku ku
klux klan
tsuzuku ku
klux klan
tsuzuku ku
klux klan
tsuzuku ku
klux klan
tsuzuku ku
klux klan
tsuzuku
klux
uzuku
klux
kuk
kuck
Diese "laut. gedichte nach dem japanischen des hiroo kamimura" waren
eine erste dialogische Arbeit, der weitere mit Kamimura, dann mit dem
Sho-Meister Kei und dem Schrifsteller und Ubersetzer Syun Suzuki folgen
sollten. Ich komme darauf noch einmal zurück und fahre zunächst
in der Chronologie fort. 1970 veranstaltet die "ASA"-Gruppe eine umfassende
"Exhibition of contemporary concrete poetry", bei der sich zu den schon
genannten Stuttgartern jetzt auch Hansjörg Mayer gesellt und auf
japanischer Seite neben Niikuni noch Shohachiro Takahashi und Shoji Yoshizawa
hinzukommen.
Umgekehrt nehmen Felix Andreas Baumann und ich 1970 in die Zürcher
Ausstellung "text buchstabe bild" japanische konkrete Dichter nicht nur
der "ASA"-Gruppe auf, in der Reihenfolge des Kataloges: Katue Kitasono,
Seiichi Niikuni, Toshihiko Shimizu, Yasuo Fujitomi, Shoji Soshizawa, Shutaro
Mukai, Jutaka Ishii, Hiroo Kamimura, Ryojiro Jamanaka. Und auch auf der
großen Amsterdamer Retrospektive 1970/1971, "klankteksten / ?konkrete
poezie / visuelle teksten", deren japanischen Part ich zu verantworten
hatte, sind unsere japanischen Kollegen Yasuo Fujitomi, Yutaka Ishii,
Kyuyo Kajino, Hiroo Kamimura, Katue Kitasono, Miyo Kawashima, Seiichi
Niikuni, Toshihiko Shimizu, Shohachiro Takahashi, Ryojiro Yamanaka, Shoji
Yoshizawa umfassend vertreten, was besagen will, daß spätestens
seit 1971 Kontakte zu den meisten der Künstler bestanden, die 1993
der Einladung zur Ausstellung "Schrift Bilder Bild Schrift" freundschaftlich
gefolgt sind.
[Übrigens konnten Arbeiten der meisten von ihnen bereits 1972 in
Stuttgart besichtigt werden, als die Amsterdamer Wanderausstellung auch
im Kunstverein Station machte. Im gleichen Jahr reisten andere Arbeiten
der genannten Künstler im Rahmen der von der Staatsgalerie in Zusammenarbeit
mit Herbert W. Franke, Erhard Karkoschka und mir erarbeiteten Ausstellung
"Grenzgebiete der bildenden Kunst" sogar durchs Ländle.]
Daß sich in Laufe der Jahre und bis heute immer mal wieder japanische
Künstlerkollegen für kürzere oder längere Zeit in
Stuttgart aufgehalten haben und aufhalten, versteht sich von selbst. Ich
nenne hier vor allem Hiroo Kamimura, mit dem bei einem solchen Aufenthalt
eine größere gemeinsame Pinselarbeit für das Chlebnikov-Projekt
der Buchhandlung Julius entstanden ist, ich nenne den Sho-Meister Kei
Suzuki, mit dem ich zusammen gearbeitet und sowohl in Tokoy wie in Stuttgart
in der Galerie Folkmar von Kolczynski, im Treffpunkt Rotebühlplatz
wiederholt ausgestellt habe, und seinen Bruder, den Schriftsteller und
Übersetzer Syun Suzuki, mit dem ich in den Jahren 1992-1994 gemeinsam
"Das weiße Schiff" geschrieben habe. Ich nenne noch einmal Shutaro
Mukai und Fumio Oki, der vor einigen Jahren bei mir studierte und der
1993 in Japan eine umfassendere Arbeit über die Stuttgarter Gruppe/Schule
publizierte. Daß umgekehrt Max Bense und ich auf Vortragsreisen
in Japan und dort auch an weiteren Ausstellungen beteiligt waren, sei
der Vollständigkeit halber nachgetragen. Angemerkt aber auch, daß
die im Mai und Juni 1993 in der Galerie Buch Julius unter dem Titel "Schrift
Bilder Bild Schrift" gezeigte Ausstellung mit Arbeiten von 15 japanischen
Künstlern die Literatur- und Kunstbeziehungen zu Japan zwar umfassend
dokumentierte, von der Stuttgarter Öffentlichkeit und Presse jedoch
nicht wahrgenommen wurde. Die einzige Besprechung erschien am 2.7.1993
in der "Esslinger Zeitung".
4. Fußnote zu einer poetischen Korrespondenz [Treffpunkt Rotebühlplatz,
1995]
Als im Frühjahr 1995 die Poetische Korrespondenz "Auf der
nämlichen Erde" geplant wurde, ging es nicht um eine Transplantation
des japanischen tanka und seiner Großform, des renga.
Beide sind in ihrer Entstehung, Ausformung und Wirkung an die Struktur
der japanischen Sprache, ästhetische Vorstellungen und kulturelle
Ansprüche Japans gebunden und schon deshalb nicht übertragbar.
Was bei westlichen Versuchen, den Tee-Weg, Sho-Kunst, Ikebana,
die Gedichtformen und Varianten des tanka oder haiku zu
übertragen, herauskommt, selbst wenn dies unter Anleitung von Meistern
geschieht, ist in der Regel Imitation und im Grunde ästhetisch
unfruchtbar. Jahrhundertealte sprachliche und ästhetische Traditionen
einer Kultur lassen sich nicht, ohne ihres Wesens verlustig zu gehen,
in andere Kulturen umpflanzen, es sei denn, sie gewinnen in der Berührung
mit der fremden Kultur ein neues Eigenleben, können eigenständige
neue Formen und Traditionen ausprägen.
Damit ist das Problem bezeichnet, vor dem die Poetische Korrespondenz
"Auf der nämlichen Erde" auch gelesen werden muß, ihr Verhältnis
zu Form, Gattung und Tradition des renga genannten japanischen
Kettengedichts, die deshalb zunächst skizziert werden müssen.
Ein renga setzt sich aus einer Folge von tankas zusammen,
die nach bestimmten Regeln geschrieben sind. Formal besteht ein tanka
oder waka aus einer Abfolge von 5 / 7 / 5 / 7 / 7 Silben, was
die möglichen Inhalte sehr einzuschränken scheint. Tatsächlich
hat man aber das waka als eine Gedicht-Kunst zu betrachten, die verhältnismäßig
stark den semantischen und nicht so sehr den syntaktischen Aspekt der
Sprache betont, in hohem Maße durch diesen bedingt ist und ihn
bis zur äußersten Grenze des Möglichen erschließt.
Die möglichen Techniken, von denen der Dichter dabei Gebrauch machen
kann, müssen hier nicht beschrieben werden, da sie die Stuttgarter
Poetische Korrespondenz kaum betreffen. Von Bedeutung ist dagegen
die recht frühe Entdeckung, daß sich das fünfzeilige
tanka oder waka auch von zwei Dichtern verfassen läßt.
Dabei schreibt ein erster die ersten drei Zeilen aus 5 / 7 / 5 Silben
als Ober- bzw. Anfangsstrophe (kami-no-ku bzw. hokku),
auf die ein zweiter mit der Unter- bzw. Schlußstrophe (shimo-no-ku
bzw. matsu-no-ku) zu 7 / 7 Silben antwortet. Ein solches gemeinsam
geschriebenes tanka bzw. waka wird tan-renga, Kurzketten-,
gelegentlich auch Antwortgedicht genannt.
In der höfischen Geselligkeit des alten Japan entwickelte sich
daraus alsbald eine Art Spiel. Ein Teilnehmer einer Gesellschaft improvisierte
die ersten 3 Zeilen, ein zweiter nahm sie auf und schloß das tanka
bzw. waka. Ein dritter formulierte erneut drei einleitende Zeilen,
die ein vierter abschloß undsoweiter, wobei darauf zu achten war,
daß die tankas bzw. wakas sinnvoll aneinander anschlossen.
Solche haikai-renga (Scherz-Kettengedichte) waren vor allem in
der heian-Periode als gesellschaftlich poetisches Spiel sehr
beliebt.
Erst im 14. Jahrhundert entwickelte sich dann auch eine ernsthafte Variante
der renga-Dichtung, die als Gattung mit festen Regeln anerkannt
wurde, wobei zunächst die hundertgliedrige Kette dominierte, der
sich später der sechsunddreißiggliedrige kasen zugesellte.
Grundlegend sei, faßt Eduard Klopfenstein die Bedingungen zusammen,
daß wichtige Motive wie Mond, Kirschblüten oder Liebe in
bestimmten Abständen wiederkehren sollten und daß Anspielungen
an die Jahreszeiten eingefügt werden mußten. Auch sollte
ein ständiges Weiterschreiten stattfinden, indem man nur auf das
letzte und nicht auf weiter zurückliegende Glieder Bezug nehmen
durfte. Gleiche oder ähnliche Motive konnten also nur nach einer
beträchtlichen Zahl von Zwischenstufen wieder vorkommen. Sinn dieser
Regeln sei es offenbar gewesen, dem ganzen langen Gebilde eine gewisse
Ordnung und Struktur zu geben, also die Gefahr einer willkürlichen
Aneinanderreihung zu vermeiden und eine allzu aufdringliche thematische
Eintönigkeit, eine Häufung von verwandten Bildern und Assoziationen,
wie sie die damalige Tanka-Tradition bereit hielt, auszuschließen.
Da ohne Bedeutung für die Stuttgarter Poetische Korrespondenz,
kann eine Skizze der Höhen und Tiefen, der klassischen und manieristischen
Phasen der renga-Dichtung bis ins ausgehende 19. Jahrhundert
entfallen. Damals disqualifizierte Shiki Masaoka im Rahmen seiner Versuche,
das waka und haiku zu erneuern, das renga so nachdrücklich,
daß es in der japanischen Literatur bis weit ins 20. Jahrhundert
praktisch keine Rolle mehr spielte.
Überraschenderweise fanden Wiederbelebungsversuche dieser altehrwürdigen
Gattung dann fast gleichzeitig sowohl im Westen wie im Osten statt.
1969 setzten sich in Paris der experimentierfreudige Mexikaner Octavio
Paz, von dem auch der Plan stammte, der Italiener Edoardo Sanguineti,
der Engländer Charles Tomlinson und der Franzose Jacques Roubaud,
der das Programm entwarf, zu gemeinsamem Dichten zusammen. Dieses Experiment,
dessen Ergebnisse 1971 selbständig in Paris erschienen und 1983
in der Übersetzung durch Eugen Helmlé auch in den Akzenten
veröffentlicht wurden, war schon formal ein Kuriosum, weil die
Beteiligten die 5zeilige japanische waka-Strophe durch das 4strophige
europäische Sonett ersetzten, das sie nach einem vorgegebenen Permutationssystem
füllten. Hier mußte bereits die europäische Gedichtform
mit ihren spezifischen Bedingungen den Plan Octavio Paz' unterlaufen,
eine alte, fernöstliche literarische Form nach Europa zu verpflanzen,
sie neu zu beleben. Hinzu kam, daß schon während der
Verpflanzung [...] die literarischen und mythologischen Phantome des
Abendlandes auftauchten. Dennoch war dieses Unterfangen, ein
Renga zu schreiben, ohne den Gewinn von Jahrhunderten buddhistischer
Selbstverleugnung hinter sich zu haben, dieses Experiment, das Tomlinson
auf den ersten Blick bereits ein anfechtbares Abenteuer
schien, von historischer Bedeutung, denn es markierte den Beginn weiterer
Versuche.
Etwa gleichzeitig wurden auch in Japan Schritte unternommen, das renga,
zunächst in seiner klassischen Form, zu erneuern. Von diesen formkonservativen
Versuchen setzte sich der Dichter- und Freundeskreis um die Literaturzeitschrift
kai ab, der, von Makato Ooka angeregt, zwischen 1971 und 1977
unterschiedlich erfolgreich mit renga-Dichtungen auf der Basis
moderner Lyrik experimentierte. Die kai-Gruppe war es auch, die
den traditionellen Gattungsnamen durch den neugeprägten Begriff
renshi ersetzte, wobei shi die formal ungebundene Lyrik im
westlichen Stil bezeichnet.
Angeregt durch diese Experimente wurde Makato Ooka in der Folgezeit
so etwas wie der Motor bei den Erneuerungsbemühungen um die renga-Dichtung,
denn bei den meisten Versuchen der 80er Jahre trifft man auch auf seinen
Namen.
1982 schrieb und veröffentlichte er zusammen mit dem Amerikaner
Thomas Fitzsimmons das Kettengedicht "Rocking Mirror Daybreak".
Im Juni 1985 dichteten Ooka und der ebenfalls der kai-Gruppe
zugehörende Hiroshi Kawasaki zusammen mit Karin Kiwus und Guntram
Vesper im Rahmen des "3. [Berliner] Festivals der Weltkulturen" ein
renshi, bei dessen Zustandekommen Taeko Matsushita und Eduard
Klopfenstein als Übersetzer mitarbeiteten.
Ferner hat Ooka mitgewirkt an einem renshi, das beim Dichtertreffen
"Poetry International '85" in Rotterdam Autoren aus Europa, Südamerika
und Japan an einen Tisch brachte.
Es ist wichtig, zu sehen, daß es bei diesen Versuchen der renga-Erneuerung
bzw. Adaption nicht um die Übernahme und Wiederbelebung einer Form
und ihrer traditionellen Regeln ging, sondern um die Suche nach Entsprechungen.
Ich stelle, formulierte Octavio Paz den westlichen Standpunkt,
zwei Arten von Affinitäten fest: die erste ist das kombinatorische
Element, das das Renga beherrscht, ein Element, das mit einem der Hauptanliegen
des modernen Denkens koinzidiert, von den logischen Spekulationen bis
hin zu den künstlerischen Experimenten; die zweite, der kollektive
Charakter des Spiels, entspricht der augenblicklichen Krise vom Begriff
des Autors und dem Streben nach einer kollektiven Dichtung.
Das aber wies zurück, machte wieder aufmerksam auf vergleichbare
Ansätze der Surrealisten wie allgemein der Kulturrevolution zu
Beginn des Jahrhunderts. So zielte denn auch Makato Ooka in seinem übergreifenden
ostwestlichen Ansatz genau auf diese Wurzeln mit der Begründung,
daß die Ismen je von ihren Standpunkten, Ansprüchen und
methodischen Ansätzen her bestätigt hätten, daß
der seit dem frühen 19. Jahrhundert herrschende Ich-Kult am Rande
des Bankerotts angelangt war. Daß sich die Künstler deshalb
abgemüht hätten auf der Suche nach etwas, das an seine
Stelle treten könne. Das brennende Interesse am Traum und
am kollektiven Unbewußten, die Entdeckung neuer künstlerischer
Techniken wie die des papier collé, der Collage oder der Objektkunst,
das unsichere Tasten nach einer kollektivistischen Kunsttheorie und
Klassengesellschaft, die Darstellung der existentialistischen Ich-Demontage,
das auflebende Interesse an Mythologie und Kulturanthropologie,
- all dies, ist Makato Ooka überzeugt, sei unzweifelhaft der
Ausdruck einer solchen Suche gewesen.
In der heutigen Welt nun der Hochtechnologie einerseits, die versessen
sei auf das Vermessen der Wirklichkeit und die Vorausberechnung der
Zukunft, der unerwarteten kriegerischen Zusammenstöße
und plötzliche[n] Katastrophen andererseits, müsse
man mit anderen Mitteln erneut menschliche Begegnungen herbeizuführen
versuchen, müsse man Wege zu einer wechselseitigen Verständigung
ausfindig machen, die an die Stelle der Ichbezogenheit treten könnten.
Das sei mit der Grund, warum heute die literarische Gemeinschaftsproduktion
[und nicht nur die, R.D.] als eine Gelegenheit des nichtquantifizierbaren,
freien, kreativen Austauschs neuen Sinn erhalte und neu bewertet
werden müsse. Es gehe, wenn man so wolle, auch um eine Wiederentdeckung
der Welt des Homo ludens, der ja kreative Impulse und spielerischen
Geist untrennbar in sich vereinige.
Innerhalb solcher Überlegungen hat auch die anläßlich
des Stuttgarter Japan Festivals entstandene Poetische Korrespondenz
ihren Platz, ist ihr, nicht wegen seiner ästhetischen Qualität,
über die man streiten kann, sondern wegen seiner Aussage ein waka
Onoe Saishûs als Motto vorangestellt worden:
Auf der nämlichen Erde
stehen die nämlichen Bäume zusammen.
Und auch am heutigen Tag
schlagen die nämlichen Blätter
raschelnd zusammen.
Die Frage, warum im Umfeld der recht intensiven künstlerischen Wechselbeziehungen
zwischen Stuttgart, Paris und Japan, zwischen Pierre Garnier und Seiichi
Niikuni oder Hiroo Kamimura und mir, zwischen Stuttgart, Paris und Prag,
zwischen Bohumila Grögerová, Josef Hiršal, Ilse und Pierre
Garnier, Yüksel Pazarkaya und mir seit den 60er Jahren die Idee eines
gemeinsamen Kettengedichts zunächst nicht diskutiert wurde, beantwortet
sich vor allem wohl aus der internationalen Ausrichtung der konkreten
Poesie, die den Dialog in den unterschiedlichsten Formen von vornherein
einschloß. Entsprechend stehen alle Autoren der vorliegenden Poetischen
Korrespondenz mit Ausnahme Syun Suzukis, der durch die Vermittlung Hiroo
Kamimuras erst später dazustieß, seit den 6Oer Jahren in einem
z.T. regen künstlerischen Dialog, der gemeinsames Übersetzen
und Schreiben, gemeinsame bildkünstlerische Arbeiten und mail art,
gemeinsame Projekte (wie in letzter Zeit das Mallarmé-, das Chlebnikov-
oder das ELS-Projekt) u.a. umfaßt.
Eher zufällig entstand aus dem Briefwechsel zwischen Syun Suzuki
und mir 1992 ein Austausch von Kurzgedichten, die die Korrespondenz auf
einer anderen Ebene fortsetzten. Zwar entsprachen diese Kurzgedichte der
31-Silben-Vorschrift des
waka, aber seine sonstigen Regeln erfüllten
sie allenfalls oberflächlich. Und vom traditionellen
renga
unterschied sich der Austausch deutlich, indem er erstens die Kurzgedichte
durchaus auch für private Mitteilungen nutzte, zweitens nicht Ober-
und Unterstrophe, sondern
waka mit
waka korrespondieren
ließ. Drittens wurden die Kurzgedichte nicht, der Vorschrift des
renga entsprechend, an einem gemeinsamen sondern an getrennten
Orten geschrieben, nicht in einem überschaubaren Zeitraum, sondern
gleichsam als
work in progress, weshalb die Verfasser ihre Gedichtfolge
auch eher als eine
Poetische Korrespondenz denn als
renga
oder
renshi in engeren Sinne verstanden wissen wollten. Diese auf
dem Stuttgarter
Japan Festival erstmals öffentlich vorgestellte
Gemeinschaftdichtung "Das weiße Schiff" gab im Vorfeld des
Festivals
den Anstoß zu einer umfassenderen
Poetischen Korrespondenz.
Anfang April 1995 wurden von Stuttgart aus an die Autoren Ilse und Pierre
Garnier (Amiens/Frankreich), Bohumila Grögerová und Josef
Hiršal (Prag), Hiroo Kamimura und Syun Suzuki (Japan), den in Bergisch-Gladbach
lebenden türkischen Autor Yüksel Pazarkaya Briefe geschickt,
in denen 8 Ketten so festgelegt waren, daß jeder der Beteiligten
eine der Ketten beginnen, eine zweite schließen und daß, im
Umlauf der Ketten, jeder auf jeden Korrespondenten einmal reagieren mußte.
Am 31. Mai 1995 war die letzte der acht Ketten geschlossen. Für eine
abschließende 9. Kette wurden dann 5 weitere Kurzgedichte in Ober-
und Unterstrophe getrennt und zur Vervollständigung so verteilt,
daß jede der beteiligten Sprachen mit jeder anderen einmal in einem
Kurzgedicht zusammenklingen mußte. Musikalisch gesprochen besteht
also die vorliegende
Poetische Korrespondenz aus acht (thematischen)
Durchführungen und einer Engführung.
Ausgangspunkt für jede Kette war das als Motto vorgegebene
waka
Onoe Saishûs. Auf dieses war also zunächst zu reagieren, wobei
das erste Gedicht einer Kette in der Regel das Thema der Kette anschlug.
Um möglichst viel Eigenes in die Beiträge einfließen zu
lassen, waren die Korrespondenten angehalten, ihre Beiträge in ihrer
eigenen Sprache zu schreiben (und mit einer Rohübersetzung zu versehen).
Diese Bedingung schien auch deshalb geraten, weil es so möglich wurde,
die unterschiedlichen Sprachstrukturen des Japanischen, Türkischen,
Tschechischen, Französischen und Deutschen mit- und gegeneinander
zum Klingen zu bringen.
Um dabei innerhalb der Ketten ein Mindestmaß an Ordnung zu garantieren
und zu wahren, wurde die Fünfzeiligkeit des
waka zugrunde
gelegt, bei allerdings freigestellter Silbenzahl. Andere Regeln und Techniken
der
waka- und
renga-Dichtung mußten hingegen nicht
beachtet werden, ausgenommen die, daß jeder Beitrag an den voranstehenden
anschließen sollte, wobei folgende Anschlußmöglichkeiten
zur Wahl standen: direkter Bezug, gegensätzlicher Anschluß,
Aufgreifen eines einzelnen Wortes oder Motivs, Zitat oder literarische
Anspielung bzw. Reaktion darauf, sprachspielerischer Reflex oder auch
nur das Fortführen einer Stimmung. Voraussetzung blieb in jedem Fall
ein intensives Sicheinlassen auf den voranstehenden Beitrag.
Die im Verlag in der Villa erschienene Buchfassung bietet die neun Ketten
dieser
Poetischen Korrespondenz in der originalen Form und einer
durch die Beiträger autorisierten deutschsprachigen Fassung, und
damit das Kettengedicht in der Gestalt, in der es am 17. Juni 1995 in
Stuttgart vorgetragen wurde. Aus Gründen des Umfangs nicht mit aufgenommen
werden konnten die subjektiven Ketten, die sich jeder der Beteiligten
aus den 64 Kurzgedichten der acht kursierenden Ketten bilden sollte, um
den Eindruck zu vertiefen, der beim Kursieren der einzelnen Ketten unter
den Beteiligten entstanden war, daß sich nämlich durch das
Aufeinandereingehen und gemeinsame Erarbeiten eines Textes zusätzliche
Querverbindungen ergaben, die die
Poetische Korrespondenz räumlich
werden ließen, einem musikalischen Gedicht-Mobile annäherten,
in dem jeder Beitrag mit jedem anderen in Verbindung treten konnte.
Wie immer dieser erneute Versuch einer Kettendichtung in der Tradition
des
renga/
renshi bewertet werden wird, für die Beteiligten
war er eine überraschende Erfahrung, ein vertieftes Kennenlernen
im poetischen Spiel und ein ästhetischer Gewinn auch der Gewißheit,
daß
auf der nämlichen Erde wirklich
die nämlichen
Bäume zusammenstehen, daß an jedem Tag
die nämlichen
Blätter raschelnd zusammenschlagen können - so man nur will.
Hibi kore ko djitsu.
[1. Galerie Buch Julius, 1993, 2./3. Wilhelmspalais, 1994, 4. Treffpunkt
Rotebühlplatz, 1995. - 1996 fand in Tokyo ein Treffen von Reinhard
Döhl, Hiroo Kamimura, Syun Suzuki mit Makato Ooka statt, das in
der Zeitschrift "Kahen", Vol 135, S. 1-8 dokumentiert ist. - 1996 kam
es an der Kansai-Universität zu einem Renku-Treffen von Stephen
Gibbs, Hiroyuki Inui (Sabaki Dairi), Scott Johnson, Hiroo Kamimura,
Iwao Morosawa (Teishu ken Shuhitsu), Tetsuo Saeki, Yukio Sakamoto (Sabaki
Dairi), Detlev F. Schauwecker, Syun Suzuki und Reinhard Döhl (Kyoku),
dessen Ergebnis u.d.T. "Gäste von weither" von der Kansai-Press,
Osaka, in Buchform publiziert wurde.]