Reinhard Döhl: Friedrich Sieber in Waldenburg (7.6.1986)



Bei meinem Versuch, zu erklären, was mich an den Arbeiten Friedrich Siebens von Anfang an fasziniert hat darf ich mit einer Anekdote beginnen, die scheinbar gar nichts, in Wirklichkeit aber eine ganze Menge mit Friedrich Siebers Malerei zu tun hat.

Es war im April 1965 - Friedrich Sieber und ich mußten nach Berlin fliegen, wo er in der Galerie am Abend eine Ausstellung hatte, die ich mit einer Lesung eröffnen sollte. Über den Fildern spannte sich ein Himmel, wie es ihn eigentlich nur im April gibt: mit dem schnellen Wechsel von Wolken und Bläue, von Schnee- oder Regenschauern und Sonnenschein, von Helle und Zwielichtigkeit. Es war ein Himmel, dem man ansah, daß man während des ganzen Fluges angeschnallt sitzen würden.

Wir hatten unsere Plätze im Flugzeug eingenommen, Friedrich Sieber am Gang, ich besser postiert am Fenster. Die Maschine startete und stieg durch eine gerade mal wieder stärkere Wolkendecke. Schon während ihre Grautöne am Fenster vorbeifetzten, wurde Friedrich Sieber sichtlich nervös. Er beugte sich zum Fenster und drückte mich in den Sitz zurück. Dabei nestelte er am Gurt, den er - wie sich dann zeigte - sogar öffnete. Und als wir schließlich durch die Wolkendecke hindurchstießen und nun oberhalb von ihr - zwischen Wolkentürmen hindurch - unterhalb eines zweiten, stark zerrissenen Wolkenfeldes dahinflogen, da hielt es ihn nicht mehr auf seinem Sitz. Er sprang auf, hing am Fenster und sagte: Mensch, sieh mal, dieses Licht, diese Farben!

Natürlich sah ich das auch - soweit er mir überhaupt Sicht ließ. Oder genauer: physikalisch sah ich dasselbe wie er. Nur: was ich sah, das erlebte er. Er war nach dem Durchstoßen der Wolkendecke mit ihren vielfältigen Grautönen in eine Welt der Farben und Farbereignisse vorgestoßen.. In - und damit bin ich jetzt auch beim Thema - seine Welt der Farben, in seine Welt aus Farbe. Und dies in einer Dimensionierung, die ich im folgenden etwas skizzieren möchte.

Vielleicht erinnert sich der eine oder andere von Ihnen noch der Kunstszene Ende der 50er Jahre. Damals machte eine Gruppe von Malern international, in Brüssel, Rom und London von sich reden, die sich "Gruppe 11" nannte und zu der die Maler Atila Biro, Günther C. Kirchberger (der hier schon ausgestellt hat), Georg Karl Pfahler und Friedrich Sieber zählten. Sie alle hatten sich der Tradition des damals aktuellen Tachismus angeschlossen, lassen sich aber auch in der Nachfolge Kandinskys verstehen, insofern sie ausgesprochen farbmaterial dachten, die Selbständigkeit der Farben insbesondere ihr Programm war.

Von dieser Gruppe, die sich, wie es sich für eine richtige Künstlergruppe denn auch gehört, bereits um 1960 in alle Winde zerstreut hatte, ist Friedrich Sieber derjenige, der am meisten bei sich selbst, der seiner radikalen Entscheidung, die Welt als Farbe zu sehen, beharrlich treu geblieben ist. Angefangen bei einem Natur- und zugleich Schlüsselerlebnis der Eigengesetzlichkeit und Eigendynamik der Farben, Mitte der 50er Jahre, bis zu den Arbeiten der 80er Jahre, deren einigen er den etwas rätselhaften Titel "Naturform Farbe" gegeben hat

Was Siebens umfangreiches Werk ohne Entwicklungsbrüche und modische Allüren insgesamt charakterisiert, ist, wenn ich es richtig sehe, dreierlei:

1. Die radikale Entscheidung für eine Welt aus Farben, die nioht a priori vorhanden ist, also nur abgebildet werden muß, sondern eine Farbwelt ist, die sich in der Auseinander-, Gegeneinander- und Zueinandersetzung der Farben erst herstellt.

2. ist das Werk Friedrich Siebers geprägt von dem Wissen, daß jedes gemalte Bild nur eine Annäherung an diese Welt aus Farben sein kann, nur eine Teilordnung dieser Welt aus Farben zeigt.

3. erklärt sich die Konstanz des Sieberschen Werkes wesentlich aus der Überzeugung, daß den im Bild gewonnenen Teilordnungen Gesetzmäßigkeiten entsprechen, die Friedrich Sieb er in der Natur vorgegeben findet als - wie er es nennt - "gewachsenes Gesetz".

Das alles klingt etwas komplizierter, als es in Wirklichkeit ist. Ich werde es deshalb ein wenig ausführen und darf zunächst wiederholen: das zentrale Charakteristikum der Sieberschen Malerei ist die Entscheidung, Welt als Farbe zu sehen. Diese Entscheidung resultiert aus einem Natur- und Schlüsselerlebnis, auf das Friedrich Sieber in einen umfangreicheren, in der Edition Waldenburg verlegten Publikation wie folgt bezieht:

"Eines Tages hatte ich im Wald ein starkes, mich wandelndes Erlebnis. Ich sah, daß Kiefern und Birken, die eigentliche Bauform außer acht lassend, farbigen Gesetzen folgten. Die Welt bestand damals für mich in Strukturen, die sich in einer ganz bestimmten Form meinen Augen darboten. Die Einzelform spielte plötzlich keine Rolle mehr. Mir fiel auf, daß Farben in ihrer Eigendynamik (meist Übergänge) für mich wirksam waren. Ich bin bis heute der Meinung, dieses Erlebnis war das das bedeutendste für mein Leben."

Was Friedrich Sieber hier schon ein wenig abstrahiert erinnert, hat Wilhelm Gall vor einigen Jahren in einem Katalog noch so zitiert:

"Ganz spontan waren einige weiße Birken in einem dunkel-vielfarbigen Walde nicht statistische Anteile der Farbe innerhalb eines Gesamteindrucks, sondern zuckende Elemente, die ihr spezifisches Eigenleben hatten und für das Seherlebnis dynamisch waren."

Dieses "Seherlebnis" führte Friedrich Sieber von einer bis zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger gegenständlichen zu einer seither gegenstandslosen Malerei. Nicht der Naturausschnitt "Weiße Birken in dunkel-vielfarbigem Wald" war wiederzugeben. Zu gestalten war vielmehr das Wechselspiel zwischen dem Weiß der Birken und dem borkigen Braun der Kiefern, zwischen den unterschiedlichen Grüntönen der Blätter und Nadeln im Kontext, vor dem Hintergrund der dunklen Vielfarbigkeit des Waldes. Nicht um Abbildung ging es also, sondern um Darstellung farblicher Spannungen und Schwingungen, um die Eigenwelt der Farben.

Konkret hieß dies, daß Friedrich Sieber sich in der folgenden Zeit von den Farben führen ließ, zunächst zu flachen, später stärkeren Farbgefällen (vgl. zum Beispiel die Lithografien), dann zu den farbigen Randumläufen, den Farbformabläufen der 60er Jahre. Wenn Friedrich Sieber 1965 eine Mappe mit Serigrafien syntatkisch mehrdeutig "impulse formen bilder" überschrieb, wollte dies besagen, daß erst die von den Farben ausgehenden Impulse letztlich zu Bildern führen, daß erst die Anordnung der Farbe(n) zur Form das Bild entstehen läßt.

Die auf den Bildern Friedrich Siebers erkennbaren/wahrnehmbaren Formen sind in ihrer Form also nicht von Anfang in der Absicht des Malers, nicht der angestrebte Bildgegenstand, dem Farben zugeordnet werden. Sie sind vielmehr das Ergebnis eines farbmaterialen Prozesses, der Interaktion von Farben.

Ich verwende diesen bei Josef Albers entlehnten Begriff gezielt, nachdem Friedrich Sieber seit Ende der 6cer Jahre Arbeiten wiederholt "Bild Bilder" genannt, in einer "Bild Bild braun-blau" getitelten Arbeit aus dem Jahre 1967 selbst auf Albers verwiesen hat. In dieser Arbeit hat Sieber ein braunes und ein blaues Albers-Quadrat ineinander gesetzt und im unteren Teil der Bildfläche durch eine Farbskala ergänzt, die von hellblau bis violett fächert. Und er hat mit dieser Bildlösung zugleich auf einen bedeutenden Unterschied verwiesen. Denn sowohl die Ineinanderschachtelung zweier Albersquadrate als auch der Zusatz einer Farbskala korrigieren das Zitat. Wollte Albers die systematische Demonstration farbiger Interaktionen im Rahmen einer vorgegebenen Form, zielt Sieber auf die Entwicklung von Formen aus farbiger Interaktion. Und dies nicht methodisch systematisch, sondern von Fall zu Fall. Das erklärt auch die zunächst vielleicht verwirrende formale Heterogenität der Sieberschen Bilder.

"Ich kann", hat er schon 1959 für einen Katalog einer Londoner Ausstellung festgehalten, "Farben nicht in streng begrenzten Formen sehen. Farben verändern sich, während ich male. Ich wünsche, diesen Prozeß sehbar zu machen."

Sehhilfen geben wollen auch die gelegentlich und zunächst oft seltsam anmutenden Bildtitel, die so etwas wie Arbeitstitel sind. "Impulsform weiß-grün", "Bildimpuls Blauskala-braun" "Formtendenz schwarz-grau", "Stufung braun-grün", "Faltung gelb-braun", "Drehverwindung weiß" - das Werkverzeichnis in der genannten Waldenburger Edition besteht aus weiten Teilen, ja fast ausschließlich aus solchen Titeln, wobei Friedrich Sieber mit zunehmender Flächigkeit seiner Farben seit etwa Mitte der 60er Jahre frühere Bezeichnungen wie "Stauung", "Ballung", "Dehnung" und "Quetschung" endgültig aufgibt.

Diese Bildtitel (so auch auf der Einladungskarte "grau gegen rot-rosa") werden in der Regel erst formuliert, wenn das Bild fertig ist, oft sogar erst, bevor es in die Ausstellung kommt, und verdienen einige Aufmerksamkeit. Sie bezeichnen entweder den Ausgangspunkt. Das kann durch bloße Nennung der Ausgangsfarben geschehen, also "blau violett", "gelb-grau" undsoweiter, was im Sinne Siebers als "blau gegen violett", "gelb gegen grau" zu lesen ist Gelegentlich macht, wie auf der Einladungskarte, ein Pfeil dies deutlich. Oft erfolgt noch der Zusatz "Impulsform" "Bildimpuls". Siebers Bilätitel signalisieren dem Betrachter also entweder den Ausgangspunkt. Oder sie verweisen auf den Bildprozeß selbst, auf die Interaktion. In diesem Fall lauten die Zusätze zum Beispiel "Faltung", "Drehverwindung", "Stufung", je nach Art der Interaktion.

Um dies ein wenig zu illustrieren, nehme ich ein Bild an, dessen Ausgangsfarben braun und beige sind, dessen Ausgangssituation braun gegen beige ist. Wollte Sieber dieses betonen, würde sein Titel "braun-beige", "Impulsform braun-beige" oder "Bildimpuls braun-beige" lauten. Nun könnte sich während des Malprozesses als Problem/als Frage ergeben: was passiert, wenn ich jetzt Weiß hineingehe? Was einmal gegen die beiden Ausgangsfarben eine dritte Farbe setzt, der zweitens dann die Aufgabe zukäme, die beiden Ausgangsfarben im gewählten Bildformat (einer weiteren Determinante) im Gleichgewicht zu halten, ohne die zwischen ihnen bestehende Spannung aufzuheben. Um dies zu erreichen, muß das Weiß auf die beiden Ausgangsfarben hin unterschiedlich abgeschattet werden, entsteht zum Beispiel der Eindruck eine Faltung und mit ihm die Form, die den Betrachter des Bildes schließlich wahrnimmt. Soll dies betont werden, würde der Bildtitel "Weißfaltung braun-beige" lauten.

So einfach ist das also im Grunde genommen, wenn man sich einmal klar gemacht hat, in welchem Maße Bildtitel bei Friedrich Sieher Verständnishilfe gehen, signalisieren, auf welche Phase des zum Bild erstarrten Malprozesses sich das Auge des Betrachters zunächst richten soll, ohne es damit bereits festlegen zu wollen.

Nun kann es durchaus geschehen, daß der Betrachter auf diesen Bildern etwas wiederzuerkennen glaubt, das er in seinem Bewußtsein als Form gespeichert hat: Geometrisches oder Organisches, Wolken- oder Pflanzenähnliches. Dieses Problem, auf das ich in der genannten Waldenburger Edition bereits eingegangen bin, ist bei einer Farbe oder Farben in den Formschluß bringenden Malerei der Art Siebers nicht auszuschließen. Und soll wohl auch nicht ausgeschlossen werden, wie einige

Arbeiten aus den 80er Jahren vermuten lassen. Ich beziehe mich dabei auf die Blattform eines "grün gegen Grau" getitelten Bildes aus dem Jahre 1980 (in der Edition S. 97), ferner einige Farbstiftzeichnungen der 70er Jahre, einige Kleinplastiken und die von Friedrich Sieber als "Naturform Farbe" charakterisierten Bilder ("Blattform", 1977; "Pilz", "Impulspilz" und "Bovist", alle 1973). Ihnen allen gemeinsam ist, daß eine vorgefundene Naturform den Maler veranlaßt hat, die Interaktionen der Farbe(n) in Richtung dieser Form zu steuern.

Ich wiederhole: der Impuls geht von einer vorgegebenen Naturform aus. Die Ausgangsfarben sollen dann diesen Formimpuls in eine Impulsform verwandeln und nicht etwa die Ausgangsform abbildend wiederholen.

Um konkret zu reden: bei der in der genannten Edition, D. 97 abgebildeten Arbeit ging der Impuls zum Beispiel vom Blatt einer der in Siebens Wohnung zahlreicheren Pflanzen aus. Daß dieses selbst nicht zur Wiedergabe stand, zeigt sich schon daran, daß auf dem Bild alle wesentlichen Charakteristika eines Blattes ausgespart sind: der Blattstiel ebenso wie die Adern, wie seine Körperlichkeit. Um was es Friedrich Sieber stattdessen ging, war vielmehr, im Ausreizen der Ausgangsfarben grün gegen grau ein bestimmtes Grün herauszuarbeiten, das ibm so und in dieser Form bei dem konkreten Blatt auffällig geworden war. Anders als bei der Farbkonstellation einer Illustriertenvorlage, die ebenfalls Anregung für zwei Ausgangsfarben geben kann, war es in diesem Falle eine konkrete Blattform, die impulsgebend wurde.

Ich komme zum Schluß. Lediglich hinweisen möchte ich auf das Umfeld der von Friedrich Sieber aufgenommenen Naturformen, das mit Pilz, Baumschwamm, Rinde und Blatt nur einen bestimmten Teil der Natur anregend aufnimmt, was bei jeder kunstpsychologischen Erörterung der Sieberschen Arbeiten Bedeutung gewänne. Wichtiger ist mir ein Zweites, daß Friedrich Sieber vor ein paar Jahren auf die Frage, was denn das ganze Grünzeug in seiner Wohnung solle, lakonisch antwortete: das sei für ihn "gewachsenes Gesetz". Wenn - wie erörtert - Formen eines solchen "gewachsenen Gesetzes" für die Malerei Siebers punktuell impulsgebend werden, muß gefragt werden, ob nicht und wieweit zwischen der aus farblicher Interaktion gewonnenen Impulsform und der impulsgebenden gefundenen Naturform Korrespondenzen bestehen.

Diese Frage impliziert, daß es sich bei den Arbeiten Siebers keinesfalls um eine Farben-l'art-pour-l'art handelt. Man wird vielmehr vor dem Hintergrund derart als Farbform eingeschätzter Naturformen einerseits und der Beharrlichkeit der Bemühungen um Farbgesetzlichkeit andererseits - man wird vielmehr davon ausgehen müssen, daß Friedrich Sieber analog zu dem "gewachsenen Gesetz" der Naturformen auch hinter seiner Welt aus Farben ein Gesetz vermutet, dessen Paragraphen wir nicht kennen: ein definites Farb-Form-Gesetz, zu dem wir den Schlüssel verloren haben, das spekulativ auch gar nicht faßbar ist. Auf das hin sich aber ein Maler empirisch, das heißt in vielen kleinen Schritten, sprich Bildern, bewegen kann. Das er in immer neuen Interaktionen umkreisen kann, wenn auch ohne die Gewißheit, es je ganz einzukreisen, es je ganz zu fassen.

Dies wäre denn auch eine Erklärung, warum Friedrich Sieber seiner radikalen Entscheidung, die Welt als Farbe zu sehen, bis heute treu geblieben ist.