Die heutige Ausstellung präsentiert das Werk des Malers Atila auf mehrfache Weise. Zum einen stellt sie die von ihm bevorzugten Malweisen der Zeichnung, des Aquarells, des großen Ölbildes in einer zum Verständnis seiner Malerei ausreichenden Menge vor. Zum anderen versucht sie, indem sie in einem Fall eine Zeichnung neben dem späteren themengleichen Ölbild plaziert, etwas für Atilas Arbeitsweise Bezeichnendes sichtbar zumachen, Zum dritten läßt sie - wie ich meine - auch die Thematik seines bisherigen Oeuvres hinreichend erkennen. In einer Eröffnung der Ausstellung gehalten, die Beschreibung dieses scheinbar hermetischen Werkes in wenigen Sätzen zu versuchen, wäre Folgendes herauszustellen:
1. Atila bevorzugt Malweisen der Zeichnung, des Aquarells des großformatigen Ölbilds. Diese Malweisen begegnen in seinem Werk - was ihre Inhalte betrifft - ungleichzeitig. In der Regel gehen dem Ölbild die unabhängig voneinander entstehenden zahlreichen Aquarelle und Zeichnungen oft bis zu fünf Jahre voraus. Für sich genommen selbständig, sind sie im Arbeitsprozeß des Künstlers zugleich Durchgangsstufen der malerischen Ausformulierung dessen, was Atila gezeichnetes Gedankenkonzept nennt. Als Durchgangsstufen lassen sie einen Abbau von anfänglich oft starken Gefühlswerten, eine schrittweise Zunahme an Abstraktion erkennen, wobei es bei der endgültigen Umsetzung ins Ölbild schließlich zu vor allem farblichen Verhärtungen kommt (deutlich ablesbar etwa dem Weiß der ausgestellten Arbeiten). Der Übergang zum Ölbild, das eigentlich immer das Ziel Atlas ist erfolgt in der Regel erst, wenn die Abstraktion in der Grafik nicht weitergeführt wird.
2. Die hier ausgestellten Arbeiten zeigen ein grundsätzlich dialektisches Wechselspiel von Figur und Grund. Da beide ihre Farben der in jedem Bild vorhandener Palette des Regenbogens entnehmen, kann die Figur vor den Grund und der Grund vor die Figur treten, kann die Figur Grund und der Grund Figur werden. Die Bilder erhalten dadurch eine für das Werk Atilas bezeichnende flache Scheinräumlichkeit oder besser vielleicht: Zweischichtigkeit. Das Verhältnis von Grund und Figur hält sich dabei in etwa die Waage. Diese Konstanz läßt vermuten, daß sich hier im Ansatz auch die Thematik der Atilaschen Bilder fassen läßt.
3. Der Regenbogen ist auf diesen Bildern nicht nur Farbrepertoire, er ist im Farbverlauf - Atila selbst spricht von Farbprogression - zugleich strukturierendes und inhaltliches Element der Bilder. Keinesfalls ist er in irgendeiner Form Abbild von Natur, vielmehr - wovon noch zu sprechen sein wird - Anspielung eines mythologischer Kontextes, mythologisches Zitat.
4 Ähnliches gilt für die Figuren, die sich innerhalb der Farbprogressionen, zwischen den Flächen der Farbdurchläufe andeuten, vorzeigen oder zurücknehmen. Atila hat für sie einmal vorn Aufquellen gesprochen. Eine Behelfsüberlegung kann deutlich machen, was gemeint ist, Kinder lieben es, dort, wo Farbe Tropfen bildet, mit den Fingern einzugreifen, die Farbfläche weiterzumalen. Sie versuchen dabei, die verwischte, verschmierte Farbe in etwas Erkennbares zu überführen, das sie an etwas erinnert, das sie freut, aber auch, das sie schreckt. Ähnlich könnte man auch von den Figuren Atilas als Versuchen derartiger Erinnerung sprechen. So gesehen sind Atilas Figuren keine deformierte Realitätsabbildung, Realitätsfragment wie auch immer, vielmehr Zitat von etwas fast Verlorenem, oft Zitat ferner Kulturen und Mythologien des indischen Kulturbereichs ebenso wie des indianischen. Darüber hinaus können sie angedeutetes Bildzitat sein, etwa einer Antesfigur, einer Miróform, eines Picassoauges - nicht in einem wörtlichen Sinne, vielmehr so, daß sie sich im Augenblick des Erinnerns zugleich wieder entziehen, fremd werden. Diese Beobachtung gilt eigentlich für die ganze Figürlichkeit der Atilaschen Bildwelt, wobei die erinnernd angedeuteten Figuren augenscheinlich zumeist mythologische Qualität haben.
5. Jeder Versuch, die Arbeiten Atilas einer zeitgenössischer Stilrichtung, Tendenz oder ähnlichem zuzuordnen - nahe läge bei oberflächlicher Betrachtungsweise eine Zuordnung zu einem Neusurrealismus - jeder derartige Versuch erweist sich bei genauem Hinsehen als erfolglos. Erfolgversprechender ist auch hier wieder der weitergreifende Rückblick. So erinnert mich die flache Scheinräumlichkeit der Bilder Atilas an die Zweischichtigkeit früher Renaissance-Malerei, so hat Atila den Anstoß, seine Figuren neuerdings gelegentlich bis an den Bildrand zu führen, wie er selbst schreibt, von der byzantinischen Malerei bekommen. Dabei wird man Anstoß sowohl formal als auch inhaltlich verstehen dürfen. Zahlreiche gefüllte Skizzenbücher von zahlreichen Museumsbesuchen, nicht nur in Italien, sprechen von einer für Atila symptomatischen Auseinandersetzung mit Kunst, lassen aber auch Vorlieben erkennen, vor allem für eine Malerei, die Himmel und Erde noch glaubte in Einklang bringen zu können, oder für eine Malerei, die wie der Surrealismus versuchte, die Grenzen zwischen Ding- und Traumwelt aufzuheben Sowohl die formale, wie die farbige, wie die inhaltliche Welt der Atilaschen BiIder muß also auch gesehen werden in Korrespondenz mit kunst- und kulturgeschichtlichen Bezugspunkten, kann verstanden werden auch als Niederschlag eines Dialogs mit ihnen.
6. Die Arbeiten Atilas sind aber nicht nur Dialogmalerei in diesem Sinne, mythologische Malerei, sie sind zugleich psychologische Malerei, entstanden in einer langjährigen Auseinandersetzung, auf einem Wege vom - wie Atila es sagt - Concreten zum Mythos, wobei zunehmend Außenwelt zugunsten einer Innenwelt verdrängt wird, wobei zunehmend das Bewußte immer weiter zurücktritt auf dem Rückzug in die letzten Schlupfwinkel des Unbewußten. Indem die Arbeiten Atlas diesen Weg auch spiegeln, sind sie psychologische Malerei, einsichtiger vielleicht noch, wenn man das, was Atila das Concrete, die Außenwelt nennt, mit Realität übersetzt, der sich die Bilder zunehmend zu entziehen versuchen. Tiefenpsychologisch aufschlußreich hat Atila in diesem Zusammenhang auch von der Abkapselung des Ich wie in der Gebärmutter gesprochen. Doch scheint er mir dabei weniger den Jungschen Archetypen auf der Spur als vielmehr auf der Suche nach einem, nach dem Urmythos.
7. Man muß sich in diesem Zusammenhang noch einmal an Atlas Regenbogen erinnern, daran, daß er nicht als Abbild von Natur, sondern als mythologisches Zitat verstanden werden will. Der Regenbogen spielt in zahlreichen (eigentlich in allen) Mythologien eine besondere Rolle als göttliches Zeichen. Für den christlich-abendländischen Bereich, dem ja auch der Maler Atila zugehört, begegnet er nach der Sintflut als Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen, als Symbol der Verbindung von Himmel und Erde. Er ist aber schöpfungsgeschichtlich zugleich Zeichen dieser Verbindung nach Sintflut und Sündenfall, und damit zugleich Zeichen dafür; daß die Vertreibung des Menschen nicht rückgängig zu machen ist. Ähnlich wäre die Bedeutung des Regenbogens in anderen Mythologien zu erklären. Der Regenbogen ist also, so gesehen, der äußerste Punkt, bis zudem eine Rückkehr noch möglich ist. Eine Rückkehr über den Regenbogen hinaus gibt es nicht. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß Atila parallel dazu ja auch nicht von der Abkapselung des Ichs in der Gebärmutter spricht, vielmehr von der Abkapselung des Ichs wie in der Gebärmutter, damit zugleich andeutend, daß eine konkrete Rückkehr nicht möglich ist, Der Rückzug aus der Realität ist also nicht Realitätsflucht. Die Realität, die Atila als zu hart erscheint, die er nicht verträgt, meint nicht das tagtäglich konkret Begegnende, sondern die tägliche Erfahrung eines radikalen Entfremdungsprozesses, die Erfahrung der weitesten Entfernung von einem im Mythos angenommenen paradiesischen Urzustand. Atilas Bilder könnte man seit spätestens 1964 entsprechend als immer deutlichere Versuche verstehen, malerisch diesen Entfremdungsprozeß bis an die Grenze des Regenbogens aufzuheben. So würden diese Bilder letztlich ihre Spannung auch daraus beziehen, daß sie das Unerreichbare wollen, aber nur den Regenbogen erreichen.
[Galerie Geiger, Kornwestheim 7.5.1996]
Vom Mythos zur Science Ficion
Das Werk Atilas ist vielschichtig in mehrfacher Hinsicht Seine Wurzeln reichen zurück in die 50er Jahre, wo sich erste Spuren in einem durch die Namen Baumeister; Bense, Debus gebildeten Dreieck und in der Lithografie-Werkstatt der Stuttgarter Gruppe 11 ausmachen lassen, in der Atila Farben auf Lithosteinen verrieb und ersatzweise mit einer Farbigkeit zu spielen begann, die seine Arbeiten bis heute charakterisiert. Daß und warum ihn dann seine Entwicklung die Ende der 50er; Anfang der 60er Jahre durch eine schwere Krise unterbrochen wurde, von einer scheinbar konstruktiven zu einer vitalen, von einer spekulativen zu einer intuitiven Malweise führte, wird abschließend zu beantworten sein.
Das Werk Atilas ist zweitens vielschichtig, weil es neben Zeichnungen, Aquarellen und Olbildem durchaus gieichgewichtg lntegrationsversuche von Kunst und Architektur umfaßt die sich in Form von Mosaiken, Wandmalereien, Beton-Environments, Keramiken und Platten mit Emailmalerei realisieren. Hier ist Atila einer der wenigen Maler, für die Kunst-am-Bau nicht ein zusätzliches aber lukratives Geschäft darstellt, bei dem Bild- und Atelierprobleme mehr oder meist weniger glücklich für ein anders geartetes Medium adaptiert werden. Bei Atila ergänzen sich vielmehr architeltonisches Wissen und künstlerische Intention des Malers auf fruchtbare Weise, erweist sich, daß Kunst auch Architektur sein kann, daß Architektur nicht ohne Kunst sein sollte. Erfolgreiche lntegrationsversuche Atilas resultieren dabei nicht nur aus dem Wie, sondern auch aus dem Was, aus der inhaltlichen Vielschichtgkeit und Spannung der Atilaschen Kunst.
Welcher Art diese Vielschichtigkeit drittens ist, läßt eine Radierung von 1975 in einer ersten Annäherung ablesen. Dem Betrachter erkennbar sind - von unten nach oben - ein tierähnliches Wesen mit menschlichen Extremitäten, das in auffälliger Weise auf dem Boden sitzt. Auf ihm hockend ein menschliches Wesen, auf dessen Kopf sich ein hutähnliches Gebilde befindet, das zugleich als Propeller angesehen werden muß, Das tierähnliche Wesen hat eine Schlange im Maul, die - wenn auch nicht mehr eindeutig als Schlange erkennbar - auf der linken Seite der Zeichnung zweimal repetiert ist, wobei einmal eine Verbindung von dem menschen- zum tierähnlichen Wesen hergestellt wird, undzwar zwischen dem (verdeckten) Mund des menschen- zur nach oben aufgehaltenen Hand des tierähnlichen Wesens. Im dritten Fall schlängelt die Schlange aus der nach oben aufgehaltenen Hand nach unten. Tier- und menschenähnliches Wesen wenden dem Betrachter den Rücken Die Köpfe sind jeweils Im Seitenprofil gegeben.
Bereits dies würde vordergrünndig Sinn
ergeben. Die Schlange als ein Tier; das kriechend der Erde verhaftet ist;
das tierähnliche Wesen, das sich dank seiner Extremitäten von
der Erde erheben kann; das menschenähnliche Wesen, das - ebenfalls
der Erde verhaftet - sich das tierähnliche Wesen untertan gemacht
hat und sich, dank seiner technischen Intelligenz, den uralten Traum vom
Fliegen erfül!en, also zeitweilig von der Erde abheben kann: der Mensch
zwischen Tier und Technik, zwischen Himmel und Erde. Nur - das hätte
man auch ganz anders darstellen können Und - Atilas Radierung will
das auch gar nicht zeigen.
Bereits die auffällige Dreigliederung - 3 Schlangen
/ 3blättriger Propeller / Tier Mensch Flugzeug / kriechen sitzen fliegen
- deutet auf Hintergründiges. Und die auffällige Sitz- bzw. Hockweise
des tier- bzw menschenähnlichen Wesens weist die Richtung. Das links
angezogene Bein bei beiden, beim tierähnlichen Wesen das rechts abgewinkelte
Bein, wobei der Unterschenkel weit zurückgebogen ist, der Fuß
das Gesäß berührt, das nach oben ausgestreckte rechte Bein
des menschenähnlichen Wesens, die Handhaltung des tierähnlichen
Wesens - all dies deutet auf Indien, wobei man beim menschenähnlichen
Wesen an erotische Zeichnungen und Miniaturen, beim tierähnlichen
Wesen nicht nur an mythologische lkonographie denken mag.
Damit stößt der Betrachter beinahe schon
an die Grenze des mit dem Auge Wahrnehmbaren, wird aber ohne der Spekulation
zu verfallen - noch nach der Spezies des tierähnlichen Wesens fragen
dürfen, dessen Kopfform auf Rind oder Stier verweist (besonders, wenn
man sich die Schlange aus dem Maul fort auf den Schädel verpflanzt
vorstellt). Die menschlichen Extremitäten ordnen dieses rind- oder
stierähnliche Wesen dem Bereich der Mythologie zu. Und ein abendländischer
Betrachter ird vieleicht als erstes an den Minotaurus denken. Doch ist
der Minotaurus so abendländisch garnicht und hat im Nandi, dem Reittier
des Gottes Shiva, einen indischen Verwandten. Dieser titanische Stier gilt
als Sinnbild der männlichen Zeugungskraft, durch die das Dasein
der Erde (indisch Go Kuh genannt!) immer wieder neu erschaffen
werde Derselbe Nandi wird gelegentlich auch als stämmiger Mann
mit einem Stierkopf dargestellt. (1)
Einmal auf diesem Wege, sind ergänzende und weiterführende Anmerkungen möglich. So ist mir ein Relief bekannt, auf dem Shivas Gattin Kali auf einem Stier stehend dargestellt ist, auch wird Shiva gelegentlich, von wilden Gestalten umgeben, unter seiner Gattin Kali liegend abgebildet. Zu den Shiva umgebenden, mit ihm in Beziehung stehenden Tieren zählt neben dem Stier; neben Löwe und Tiger auch die Schlange. Noch einen Schritt weiter kommt man, denkt man noch einmal an Kreta zurück. Minotaurus, der Verwandte Nandis, lebte in einem Labyrinth (2), das der sagenhafte Techniker und Architekt Daidalos gebaut hatte. Daidalos war aber nicht nur der Erbauer des Labyrinths, er konstruierte für Parsiphae, die Gattin des Minos, auch jene künstliche Kuh, in der sie sich vom Stier begatten ließ und den Minotaurus empfing. Daidalos fertigte ferner für sich und seinen Sohn Ikaros die Flügel, mit deren Hilfe sie ihre tragische Flucht nach Sizilien wagten, und gilt seither als Erfinder des menschlichen Fluges, den Atila mehrfach, unter anderem in einer in diesem Zusammenhang interessanten Radierung gestaltet hat. Derselbe Daidalos war es schließlich, der den Faden spann, den Ariadne Theseus schenkte, ihm damit die Rückkehr aus dem Labydrith ermöglichend. Dieser Faden, erklärt die Symbolforschung, verbinde esoterische Technik mit kosmischer Liebeskraft, die besonders im indischen Tantnsmus von zentraler Bedeutung sei. Möglicherweise sei sogar - die Verbindung mit den kretischen Mysterien weise darauf hin - mit dem Ariadnefaden die Kundalini, die aufsteigende Schlange der Lust und der Erkenntnis gemeint.
Uber diesen Umweg ließe sich auch zu der Schlange, den Schlangen auf Atilas Radierung noch etwas anmerken. Die Kundalini gilt der indischen Mythologie als Zeichen der in den unteren Regionen des Körpers gespeicherten Energie, auf der [...] die psychologische Struktur des Menschen beruhe. Sie werde durch vorbestimmte Rituale geweckt und durchlaufe die im menschlicher Körper angelegten psychischen Zentren, um bis zur höchsten spirituellen Ebene der vollkommenen Entfaltung aufzusteigen, Das eröffne dem Menschen die Möglichkeit, seine Vorstellungen bewußt zu realisieren. Ziel der vollkommenen Entfaltung sei das Wachrütteln der schlafenden Zonen des menschlichen Gehirns, das Öffnen des nur gering genutzten Speichers von Gedanken und Bildern. Der Prozeß des Aufstiegs vollziehe sich durch asana, die Vereinigung von Mann und Frau. Ihre sexuelle Kraft werde in einen Strom umgewandelt, der kosmisches Bewußtsein entstehen lasse; das Dritte Auge werde geöffnet. Symbolisch werde die Kundalini als Feuerschlange dargestellt, welche im Normalfall unaufgerojlt in den unteren Regionen des Körpers verharre. Einen Vergleich mit dem Phallus oder Lingam (3) herzustellen sei nicht schwer.
Für den Betrachter der Atilaschen Radierung ist es jetzt möglich, ausgehend von diesem Vorwissen, eine Verbindung zu den Schlangen, dem phallusähnlichen Gebilde am Gesäß des tierähnlichen Wesens, zur Empfängnishaltung der frauenähnlichen Gestalt herzustellen. Um nicht mißverstanden zu werden: ich will mit dem zu dieser Radierung Gesagten nicht behaupten, sie oder andere Arbeiten Atilas ließen sich so ohne weiteres in mythologischer Allegorese Strich um Strich, Figur um Figur auslegen. Hier müßte manches unerklärt bleiben, so bereits, daß Atilas Schlangen nicht aufsteigen, sondern sich diagonal nach unten bewegen Dennoch ist in seine Radierung (vor allem durch das untere tierähniche Wesen) soviel mythologische Anspielung eingelegt, daß sich folgern läßt: die künstlerische Produktion Atilas bezieht wesentliche Energien aus der mytholgischen Anspielung, die zugleich eine wesentliche Bildschicht ist.
Die mythologischen Anspielungen Atilas erfolgen dabei keineswegs immer so eindeutig wie in der diskutierten Radierung. Vielmehr lassen sie sich oft nur indirekt oder auf Umwegen erschließen. Das gilt vor allem für die mythologischen Anspielungen, die auf dem Wege vom Vorbild zur Bildlösung bis ins kaum noch Erkennbare zurücktreten. Hier wäre als Exkurs einzuschalten, daß die Arbeiten Atilas keine (wie auch immer gearteten) Abbildungen von Wirklichkeit, keine - wie Atila formulieren würde - Imitation der Natur sind, daß ihre Vorbilder vielmehr oft in Museen hängen. Atila ist der besessenste Museenbesucher, den ich kenne. Zahlreiche gefüllte Skizzenbücher belegen diese Besessenheit. Und jede gewissenhafte Auseinandersetzung mit seinem künstlerischen Werk müßte diese Skizzenbücher einbeziehen. Denn nur mit ihrer Hilfe läßt sich zuverlässig ermitteln, was Atila beim jeweiligen Vorbild besonders ins Auge fiel. Nur mit ihrer Hilfe läßt sich im Enzelfall die für Atilas künstlerische Arbeit bezeichnende Bildgenese von der Skizze über das Aquarell, die Zeichnung zum endgültigen Ölbild (Emailbild oder Mosaik) studieren, ließe sich auch im Einzelfall ermitteln, welche mythologischen Anspielungen sich auf den Bildern zum Teil noch verbergen. Das gilt vor allem für diejenigen Arbeiten, deren Vorbilder im zeitlichen Umfeld der Renaissance aufzusuchen wären, einer Zeit, die die Mythen der Antike neu entdeckte und den traditionellen christlichen Bildinhalten oppositionell und austauschbar (Venus versus Madonna) an die Seite stellte. Aber auch Atilas zerstörte Madonnen- und Christusbilder wären in diesem Zusammenhang zu diskutieren.
Ein zentrales, fast allen Arbeiten Atilas gemeinsames
Zitat ist der Regenbogen, den er allerdings nicht figürlich zitiert,
wie dies zahlreiche Künstler von der Renaissance bis zur Gegenwart
mit den unterschiedlichsten Intentionen (4) taten. Atila setzt ihn vielmehr
zerbrochen in einer Doppelfunktion ein, als Farbprogression (Atila),
also konstitutive Farbstruktur des Bildes, und zusleich mythologische Anspielung.
Dabei bleibt unerheblich, daß dem Regenbogen in den unterschiedlichsten
Kulturkreisen unterschiedliche Qualitäten zugewiesen waren, die vom
Versöhnenden zum Bedrohlichen fächerten, denn spätestens
seit der Renaissance gewinnt der Regenbogen eine übertragene Qualität,
wird er Sinnbild der Kunst als Brücke zwischen Himmlischem und lrdischem
und zugleich Symbol für die Grenzen der Naturerkenntnis, aber auch
der unstillbaren Sehnsucht
des Menschen. Wenn Atila den Regenbogen als Figur
zerbricht oder auflöst, ihn scheinbar nur noch farbmaterial einsetzt,
nimmt er ihm entsprechend jeden eindeutigen mythologischen Bezug. Daneben
ist zu berücksichtigen, daß der Regenbogen außer seiner
antik-heidnischen und christlichen seit der Renaissance noch eine zusätzliche
Qualität gewonnen hat: als Wasserzeichen des melancholischen Künstlers.
Das läßt sich mit Dürers "Melencolia 1" und zahlreichen,
in der Nachfolge dieses Stichs entstandenen Arbeiten ebenso leicht belegen
wie mit den Goethe-Versen.
Zart Gedicht wie Regenbogeneine Einsicht, die Goethe so wichtig war, daß er sie gleich zweimal formulierte. prosaisch an zentraler Stelle in "Wilhelm Meisters Lehrjahren" (VII, 1), in Gedichtform in der Sammlung "Sprichwörtlich", aus der ich zitierte. (5)
Wird nur auf dunklen Grund gezogen;
Darum behagt dem Dichtergenie
Das Element der Melancholie -
Eine zweite zentrale Bildschicht Atilas war in der
Radierung, von der ich ausging, als Propeller vorgegeben, in der Anspielung
technischer Zivilisation. Auch sie begegnet nicht nur in der planen Abbildung
ihrer Erscheinungsweisen, sondern in Abbreviatur und merkwürdiger
Künstlichkeit in der Figur zum Beispiel eines
Traktormenschen ("l'homme-bulldozer", 1975) oder
als mechanischer Spaziergang ("promenade méchanique", 1978). Zunehmend
gewinnt dabei die Welt des Fliegens, der Raumfahrt an Bedeutung, etwa im
Mosaik einer Weltraumstation ("station spatiale", 1977) oder - und da ist
es bereits science fiction - in der Darstellung zweier galaktischer Wächter
("gardiens galactiques", 1980). Wie ernst Atila diesen futurologischen
Aspekt seiner Kunst meint, könnte ein großes Bild belegen, für
das Atila sicher nicht zufällig den Titel "Vom Grund der Zukunft"
("du fond de l'avenir", 1982) gewählt hat. (6)
Als Kurzschluß läge die Vermutung nahe, Atla versuche mit seinen beiden zentralen Bildschichten zwei Urfragen zu bündeln a) in den mythologischen Anspielungen die Frage nach der Herkunft des Menschen und den Mustern, die sein Fühlen und Denken, sein Verhalten im Grunde bestimmen; b) in den Anspielungen technischer Zivilisation und der science fiction die Frage: wo gehen wir, wo führt das hin? Aber läßt sich das so einfach schließen? Ich meine nein. Und gerade das "Vom Grund der Zukunft" überschriebene Bild scheint mir geeignet, dies zu illustrieren, indem es die menschliche Figur einkapselt und vor diese Kapsel ein zusätzliches Gitter spannt. Wie auf diesem haben auch auf anderen Bildern Atilas technische Zivilisation und science fiction in ihrer deformierten Anspielung und Erscheinungsweise, in ihrer Unwirklichkeit etwas Unheimliches und Bedrohendes. Der Mensch kann heute zum Mond fliegen, der im alten Rom noch die Qualität einer Göttin hatte. Was ist damit gewonnen? Ikaros kam bei seiner und seines Vaters Flucht von Kreta nach Sizilien der Sonne zu nahe und stürzte ab. Daß Atila diesen Absturz 1976 in einem Mosaik dargestellt hat ("icare"), sollte man nicht übersehen. (7)
Mythologische Anspielung und die Anspielung der technischen Zivilisation sind in der künstlerischen Produktion Atilas kontrapunktierend einander zugeordnet. Wenn die alten Babylonier, Ägypter, Griechen, Römer zum Sternenhimmel aufschauten, sahen sie in den Tierkreiszeichen göttliches Wirken symbolhaft ausgedrückt. Aus ihrem bewundernden und auch erschreckenden Anschauen heraus entstanden die Sagen und Mythen. Dem Menschen der technischen Zivilisation, der sich seinen alten Wunschtraum vom Fliegen längst erfüllt hat, sind die Sterne greifbar nahe gerückt. Der Kriegsgott Mars, der seine Kinder verschlingende Saturn, der auf der Flucht vor Zeus in Latium das goldene Zeitalter begründete, Venus, die lateinische Göttin der Liebe, sind ihm als Gestirn kaum mehr ein Rätsel. Aber das in den Sagen um sie, das in den Mythen eingeschlossene Wissen, die Weltordnung der Mythen hat er verloren. Und die Zukunft ist ungewiß.
Aus dieser Erfahrung des Mythenverlusts, aus der beängstigenden Ungewißheit der Zukunft bezieht Atilas künstlerische Produktion ihre Spannung Und sie versucht das Unmögliche, wenn sie versucht, beides im zerbrochenen Regenbogen noch einmal zu verbinden. Daß Atila mit Hilfe dieses zerbrochenen Regenbogens auch versucht, seine Hoffnung auf die Zukunft, eine neue Mythologie zu formulieren, ist die provozierende Absurdität seiner Kunst: ein moderner Mythos vom Sisyphos. (8)
Ich komme zum Schluß. Ich sprach eingangs von der gravierenden Krise, durch die Atilas künstlerische Entwicklung zunächst unterbrochen wurde, mit der sie erst eigentlich begann. Was Atila aus dieser Krise herausbrachte, war die Entscheidung für Farbe (was seinem persönlichen Temperament auch mehr entsprach als seine frühen Versuche konstnuktiven Malens), war seine Entdeckung des Mythos. Was Atila in einem Brief einmal den Schritt vom Concreten zum Mythos genannt hat, bezeichnet genau dies. Für ihn als Künstler war es der Gewinn einer Grundhaltung, der weder das Konkrete noch die damit verbundene Reduktion, der weder das Kalkül noch die Spekulation entsprachen.
In einer grundsätzlichen Unterscheidung hat Friedrich Schiller für den Dichter, was aber übertragbar ist, zwischen dem Typ des naiven und dem des sentimentalischen Künstlers getrennt, zwlschern dem - wie er es ursprünglich und für heutige Ohren geeigneter nannte - intuitiven und spekulativen Künstler. Der spekulative Künstler suche aus der Distanz nach der - durch Kultur und Zivilisation verlorenen - Einheit mit der Natur; sehe in ihr ein erstrebenswertes Ideal, daß er - als Idealist - in der Darstellung der Idee verkörpere. Man könnte, würde man statt Natur Mythos setzen, Günther C. Kirchberger, einen anderen Maler der Gruppe 11, einen derart spekulativen Künstler nennen. Intuitive Kunst sei dagegen - jetzt wieder in Schillers Worten - durch die Nachahmung des Wirklichen der sie umgebenden Natur bestimmt, einer Natur, die schon längst auf dem Wege sei, aus dem menschlichen Leben als Ertahrung [...] zu verschwinden. Der nach Erfüllung im Irdischen strebende intuitive Künster sei noch, genialisch, im Einklang mit der ursprüngIichen Schöpfung. Auch hier möchte ich statt ursprünglicher Schöpfung, statt Natur wieder Mythos sagen und festhalten, daß Atila in diesem Sinne ein intuitiver Künstler ist, der den (dem menschlichen Bewußtsein weitgehend entzogenen) Bereich des Mythischen durch seine künstlerische Produktion noch einmal in Einklang zu bringen versucht mit einer immer schneller fortschreitenden Wirklichkeit in der er lebt.
[Kulturamt der Stadt Sindelfingen, 20.1.1983]