Reinhard Döhl [Da auf der Einladungskarte, in der Fußnote zu den Skizen der Ägyptenreisen, die Biographie des Künstlers ausgespart blieb, darf ich zunächst nachtragen, daß Günther C. Kirchberger geboren wurde, und zwar 1928 im Kornwestheim. Daß er auf der Stuttgarter Akademie studiert hat. Daß er 1955 die inzwischen schon legendäre "Gruppe 11" (mit)gründete, der national und international so renommierte Künstler wie Friedrich Sieber, Georg Karl Pfahler und Atila zugehörten. Daß Kirchberger 1964 einen Ruf an die Werkkunstschule Krefeld erhielt und daß er an der Fachhochschule Niederrhein seit 1973 als Professor lehrt. Über die Werkentwicklung Kirchbergers bis zu den komplexen Ägypten-Serien gibt ein mit Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst 1981 herausgegebener umfangreicher Katalog Auskunft.] Die heutige Ausstellung Günther C. Kirchbergers versammelt, nachdem seine bisheriger Zeichnungen zu den Ägypten-Serien in Sindelfingen, der Galerie der Stadt Stuttgart und dem Kunstverein Ellwangen, in Wien, Berlin und anderenorts gezeigt wurden, neben neuen Zeichnungen zum ersten Mal die Skizzen der Ägyptenreisen aus den Jahren 1979 bis 1985. Zwar reichen die Räume einer Galerie zur lückenlosen Präsentation dieser Skizzen nicht aus, doch haben wir sie so ausgewählt und geordnet, daß sie entscheidende und üherraschende Einblicke in den Ägypten-Komplex des Kirchbergerschen Oeuvres bieten. Wie bereits Anfang des Jahres die Ausstellungen Horst Kuhnerts und Robert Steigers miteinander korrespondierten, wird auch die heutige Ausstellung kein Einzelfall bleiben, sondern 1986 durch eine Ausste1lung der Entwürfe zu den großen Glasfenstern Johannes Schreiters eine Entsprechung finden. Solche Präsentationen von Entwurf und Skizze sind eigentlich ga1erieuntypisch. Sie erfolgen, falls überhaupt, meist erst posthum zu einem Zeitpunkt, an dem sich Museen oder öffentliche Sammlungen des Nachlasses eines Künstlers bemächtigt heben. Zu Unrecht - ist doch zu diesem Zeitpunkt und unter diesen Bedingungen nurmehr dem Kunstwissenschaftler Einsicht im Arbeitsweise und Werkentwicklunq des Künstlers ermöglicht, dem Sammler dagegen der direkte Zugriff versperrt. Gerade der Sammler aber schätzt die Skizze als werkgenetisch bedeutsame Notiz, die nicht nur Phasen des künstlerischen Prozesses, sondern auch Modifikationen der erster Bildidee ablesen läßt. Sieht er doch in ihr die gestalterische Idee des Künstlers unmittelbar und ohne Rücksicht auf Konvention und Geschmack späterer Betrachter ausgedrückt. Es ist also durchaus vernünftig, wenn e1n Galerist von Künstlern, die er vertritt, gelegentlich dem Sammler auch Entwürfe und Skizzen anbietet. Und dieses Angebot ist im Falle der Kirchbergerschen Ägyptenreisen, wie die heutige Ausstellung belegt, mehr als gerechtfertigt. Im diese Ausstellung einführend und sie gliedernd möchte ich drei Skizzentypen unterscheiden und jeweils an einzelnen Arbeiten vorstellen. Und zwar 1. dem traditionellen Skizzentypus, die Skizze als Vorstufe späterer Zeichnungen oder Bilder, also der endgültigen Lösung einer Bildidee im Atelier. Im Rahmen der heutigen Ausstellung wären vor allem die Djoser-Skizzen diesem Typus zuzurechnen, also jene blockweise zusammengefaßten jeweils vier Bleistift- bzw. Farbstiftskizzen. Sie alle zeigen Merkmale der Notiz, der ersten Formulierung einer Bildidee vor Ort. Aber sie zeigen in ihrer blockweisen Zusammenstellung bereits auch ein Durchspielen und Verallgemeinern des Anlasses bis zu jenem Punkt, an dem sich langsam als Prototyp herausbildet, was sich - scheinbar losgelöst vom Anlaß - im Atelier im eine Serie überführen läßt. In unserem Falle wäre dies die "Kobra-Serie", eine Folge von Zeichnungen auf Karton und Leinwand. In welchem Maße diese Zeichnungen sich einerseits vom äußeren Anlaß lösen, dem sie andererseits in einer tieferen Bedeutungsschicht verbunden bleiben, signalisiert bereits der Titel "Kobra-Serie". Ich muß, um dies zu belegen, etwas ausholen. Anlaß, Ausgangspunkt für die Djoser-Skizzen und die "Kobra-Serie" war die Tempelanlage von Djoser, eines frühen Pharao, dessen Baumeister Imhotep die Stufenpyramide vom Sakkâra baute und mit einem riesigen Gebäudekomplex aus Scheinbauten umgab. Der ganze Komplex war von einer hohen Mauer mit einer Nischenfassade umgeben. Daß Scheinbauten, Mauer und Nlschenfassade auf magische Weise dem jenseitigen Leben dienen sollten, signalisiert der sogenannte Uräusfries. Wobei Uräus die gräzisierte Form eines ägyptischen Wortes ist, das, ins Lateinische übernommen, von der Wissenschaft zur Bezeichnung der vielnamigen Göttin verwendet wird, die in Gestalt einer kampfbereit aufgerichteten Kobra an der Stirn des ägyptischen Pharao sitzt, als Personifikation der Krone und als Erscheinungsform des feurigen Auges des Sonnengottes RE. Lange Friese von Uräus-Schlangen zierten die Tempel. In den Darstellungen der Königsgräber speit eine aufgerichtete Kobra Feuer gegen die Feinde. Und das "Amduat" der "Unterweltsbücher" beschreibt die unterschiedlichen Abwehr- und Angriffsfunktionen der Uräus-Schlangen in Abbildung und Inschrift. Ich habe an anderer Stelle mehrfach dargestellt, daß Kirchbergers Interesse an Ägypten, seine den Skizzen und Zeichnungen eingeschriebenen Zitate aus den "Unterweltsbüchern" oder dem "Totenbuch" Hinweise sind darauf, daß die Ägypten-Serien auch verstanden werden müssen als zeichnerischer Ausdruck und Ertrag einer Reise durch die eigene Innen- und Unterwelt. Auf diese tiefenpsychologische Dimension werde ich hier also nicht weiter eingehen bzw. nur soweit, als sich aus ihr leicht begründet, daß Kirchbergers Interesse auch am Djoser-Komplex, die endgültige Überführung der Djoser-Skizzen in die "Kobra-Serie" nicht nur unter ästhetischen Gesichtspunkten interpretierbar sind. In welchem Maße sie unter ästhetischen Gesichtspunkten zu diskutieren sind, macht eine Musterung der Skizzen schnell deutlich. Die Treppe zum Beispiel, wichtiges ikonographisches Element, nicht nur der Karnak-Skizzen, wird diesmal schnell vernachlässigt. Mit ihr fällt auch das für die Karnak-Serie wesentliche Problem der Waagrechtschichtung weitgehend weg. Dagegen vergrößert sich aus dem Tempelfries als neues Problem die Senkrechtschichtung heraus. Daß dies nicht nur formal vordergründig geschieht, darauf verweist einmal die Entsprechung zwischen den repetierten Friesnischen und der Wiederholten Abläufen der Register der "Unterweltsbücher". Darauf verweist zweitens der Titel "Kohra-Serie" durch die sich hier einstellenden Konnotationen, und drittens eine weitere, gelegentlich fast unleserlich gemachte Einschrift: "Der Zerhacker" bzw. "Der Zerhacker mit dem Messer". Denn sie benennt einen jener gräßlichen Türwächter, die die Seele des Verstorbenen passieren muß auf ihrem gefahrvollen Weg durch die Unterwelt. Ein 2. Skizzentypus dieser Ausstellung schließt die visuellen Eindrücke vor Ort bereits als Bild (mit oder ohne Einschrift) ab, findet bereits im der Skizze eine Lösung, der nichts weiter folgen könnte als ihre handwerklich konventionelle, im Grunde spannungslose Durchführung im Atelier. Und es spricht nicht zuletzt für die Ehrlichkeit der Kirchbergerschen Kunst, sich derart gefälliger Durchführunqen zu enthalten. Dadurch bekommen die hier einschlägigen Skizzen allerdings auch das Gewicht des Abgeschlossenen, treten der im anderen Fall späteren Zeichnung gleichwertig an die Seite. Belege für diesen Typus sind die zwei Skizzen des Luxor-Tempels, der Medum-Pyramide, sowie drei Skizzen des Hatschepsut-Tempels. Innerhalb dieses Typus besonders interessiert mich die erste der beiden Skizzen des Luxur-Tempels aus dem Jahre 1981 wegen ihrer auffällig umfangreichen Einschrift: "Ammon-Muth-Chons / 1. Tag Luxor: Luxor-Tempel / Seit dem frühen Mittag ist / Sandsturm. / Offen ist der Himmel, offen die Erde, / offen ist der Westen, offen der Osten! // Ramses II / Sphinxallee / Die Sonne ist wie Blei / Alles ist grau und verschliffen". Diese Einschrift umfaßt nahezu programmatisch die drei Bedeutungsebenen , die zu erkennen für das Verständnis der Ägypten-Skizzen und -Zeichnungen Günther C. Kirchbergers unerläßlich ist. Es ist dies a) die Ebene des eigentlichen Bildgegenstandes, oder genauer formuliert: des äußeren Bildgegenstandes, aus dem bei apäteren Serien in der Regel auch der Serientitel gewonnen wird. Im vorliegenden Fall lautet der Bildgegenstand: "Ammon-Muth-Chons / Luxor-Tempel / Ramses II / Sphinxallee". b) ist dies die Tagebuchebene: "1. Tag Luxor / Seit dem frühen Mittag ist / Sandsturm / Die Sonne ist wie Blei / Alles ist grau und verschliffen". und dies ist schließlich und c) die Ebene des sich assoziativ einstellenden Zitats, des - wie man vielleicht auch sagen könnte - inneren Bildgegenstandes. In diesem Fall handelt es sich um den Anfang des 130. Spruches des "Totenbuches", dessen Funktion es war, "einen Verstorbenen (Ach) auszuzeichnen am Geburtstag des Osiris und den Ba (die Seele) am Leben zu erhalten bis in die Ewigkeit". "Offen", so lauten die ersten beiden Verse dieses Spruches, "ist der Himmel, offen die Erde, / offen ist der Westen , offen der Osten". Wobei der Widerspruch dieser Verse und ihrer Funktion zur Tagebuchebene (Seit dem frühen Mittag ist / Sandsturm / Die Sonne ist wie Blei / Alles ist grau und verschliffen") wie zur spontanen Skizze mit ihren ersichtlichen Korrekturen bereits den interpretatorischen Zugang ermöglicht. Erst eine solche geographische, biographische und geistige Lokalisierung der Einschrift macht zusammen mit dem zeichnerisch wiedergegebenen (= Hof des Nektaneho, Obelisk und Pylon des Tempels Ramses II), mit dem sie kompositorisch untrennbar verbunden ist, das Gesamt dieser wie anderer Skizzen wie auch der Zeichnungen zu den Ägypten-Serien aus. Wobei biographischer, geographischer und geistiger Bestandteil unterschiedlich stark ausgeprägt sein, zum Teil auch fehlen können, in diesem Falle aber interpretatorisch zu ergänzen sind. Belegt diese ausführlicher erörterte Skizze, daß im Falle Kirchbergers nicht als Regel gilt, daß der Skizze notwendigerweise Zeichnung oder Bild folgen müssen, repräsentieren drei weitere Skizzen 3. den Typus einer 'Skizze danach', ist zu ihrem Verständnis wenn auch nicht unerläßlich so doch nützlich die Kenntnis vorausgegangener Atelierzeichnungen, die in nachträglich spontaner Notation erneut psychologisiert werden (also den Prozeß der Entpsychologisierung, wie er im Übergang von der Skizze vor Ort zur Atelier-Zeichnung vollzogen wird, praktisch wieder aufheben bzw rückgängig machen). Auch hier möchte ich mich an den Gegenstand halten und gehe dabei aus von einer zeichnerisch folgenlosen Skizze aus dem Jahre 1981, die Günther C. Kirchberger "Horn des Westens" getitelt hat. Sie ist die erste von 4 Skizzen, die Kirchberger spät abends auf dem Hoteldach in Luxor notierte, bis die Dunkelheit ihn nichts mehr sehen ließ. Sein Blick richtete sich auf das "Horn des Westens", den Sitz einer lokalen Gottheit, und was ihn faszinierte war ein Farbenspiel, die Beobachtung nämlich, daß die Farbschichtüng Nil / Vegetetionszone / Wüste / Berg / Licht der untergehenden Sonne< in der Spiegelung stärker kontrastierte als in der Natur. Die Einschrift auf der Tagebuchebene lautet: "Am 15.2.1961 in den Abend hineingezeichnet". Der Titel "Horn des Westens" bezeichnet den äußeren Bildgegenstand. Und auf der Zitatebene ordnet sich assoziativ als innerer Bildgegenstand zu: "Am Anfang ist das Horn des Westens / das Tor des Westhorizontes / das Ende ist die Urfinsternis / das Tor des Westhorizontes" , Verse, die der "Titelei" des "Amduat" entnommen sind. Sie benennen nach Erik Hornung "Die Grenzen der Unterwelt", wobei "Horn des Westens" ein "singulärer Ausdruck" sei, während "Urfinsternis" die "chaotisch-finstere Welttiefe" meine, "die schon vor der Schöpfung da war". Ich muß mir hier aus Zeitgründen eine weitergehende Interpretation versagen und mich einer Serigraphie zuwenden, die Günther C. Kirchberger und Roland Geiger aus der Rosetau-Serie von 1965 entwickelt haben. Sie läßt deutlich erkennen, worauf auch die Lösungsversuche der Serie zielten: das Regenbogenzitat, die Probleme von Öffnung und Schichtung. "Weg des Rosetau" hatte Kirchberger 1950 seine Serie überschrieben und mit diese Titel den Bildgegenstand in Nekropole und Totenreich, vor allem der jenseitigen Welt des Osiris lokalisiert. Nichteingeschrieben, aber als innerer Bildgegenstand zu berücksichtigen sind die Sprüche 117 bis 119 des "Totenbuches": "Spruch, den Weg einzuschlagen in Rasetjau" , "Spruch, nach Rasetjau zu gelangen" und "Spruch, den Namen Osiris zu kennen, ein und auszugehen in Rasetjau". Dies alles wurde durch das abendliche Erlebnis des 19.2.1961, das spontane Notieren einer Farbschichtung mit seinen Konnotationen plotzlich abgerufen. Der spontanen Notation des "Horns des Westens" folgt also nicht die durchkomponierte Zeichnung, sondern die spontane Renotation der "Rosetau-Serie"; der ästhetischen Lösung der "Rosetau-Serie" folgt der emotionale Entwurf, für dessen Bewertung ferner zu berücksichtigen ist, daß Kirchberger ihm bei zunehmender Dunkelheit jetzt einschreibt "Offen ist der Himmel, / Offen die Erde / Offen ist der Westen / Offen der Osten", den Anfang jenes schon zitierten 130. Spruches des "Totenbuches". Geht man davon aus, daß Kirchbergers Skizzen Bildideen aufgreifen, also Fragen stellen, auf die die späteren durchkomponierten Zeichnungen Antworten suchen, Lösungen finden, gilt für die beiden hier in Frage stehenden Skizzen die Umkehrung, tritt mit ihnen an die Stelle der Antwort wieder die Frage. Es ist dies ein Schritt, der für die Werkentwicklung Kirohbergers in den letzten Jahren immer entscheidender zu werden scheint, für mich deutlich ablesbar etwa bei den verwischten Konturen, den gestischen Kontern der schon besprochenen "Kobra-Serie", aber auch der ihr vorausgehenden "Ufer-Serie". Ein Blick auf sie ist abschließend auch deshalb nützlich, weil er es ermöglicht, das zu den drei Bedeutungsschichten Gesagte noch einmal unter anderem Blickwinkel zusammenzufassen. Wie ihr Titel besagt, geht es in dieser Serie um Ufer. Wie anderen, so sind auch den Zeichnungen dieser Serie Angaben zur Proportion eingeschrieben, verweisen Wörter wie "Mitte" oder "Horizont" auf die zugrunde gelegte strenge Bildordnung. Zugleich ist "Horizont" ebenso wie "Ufer" eine Landschaftsangabe, verweist die Einschrift auf einen tief gelegten, meist in der Mitte befindlichen oder auch hoch liegenden Horizont. Drittens ist Horizont im Sinne der "Unterweltsbücher" auch die Grenze zwischen Ober- und Unterwelt, zwischen einem Reich der Menschen und der Götter, zwischen denen ein Fluß fließt, an dessen Ufer ebenso wie auf dem Horizont wie am "Horn des Westens" die Götter stehen und aufpassen. "Ufer", "Horizont", "Horn des Westens" sind im Grunde Synonyma für die letzte entscheidende Grenze, die die Seele des Verstorbenen passieren muß. "Ich kenne den Namen des Ufers", heißt es deshalb vorsorglich in Spruch 153 A des "Totenbuches" und weiter: "Das ist das himmlische Ufer, auf welchem die Götter stehen". Günther C. Kirchberger hat dies mehr oder weniger vollständig in die meisten Zeichnungen der "Ufer-Serie" eingeschrieben. Nicht, weil er auf einer altägyptischen Totenreise ist, wohl aber, weil die Eindrücke seiner Ägyptenreisen für den Künstler Günther C. Kirchberger zum Katalysator wurden, zu einer vielschichtigen ästhetischen Metapher einer Reise durch die eigene Gegenwelt. [Kornwestheim 21.9.1985; Druck: Kunst Handwerk Kunst] |