Reinhard Döhl
Ansätze und Möglichkeiten künstlerischen Dialogs und dialogischer Kunst.
Ein Überblick.

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Ich widme die folgenden Ausführungen meinen Freund Helmut Heißenbüttel, mit dem ich sie nicht mehr diskutieren konnte, erinnere daran, daß Heißenbüttel im 3., "Mottos" überschriebenen "Pamphlet" Gertrude Stein mit dem Satz zitiert: the business of life is to make a solitude which is not loneliness, und beginne meinerseits mit zwei Zitaten, einem durch die Pariser Surrealisten bekannt gewordenen Diktum Lautréamonts und einem Prospekt Guilleaume Apollinaires. Und ich zitiere zunächst aus den als Vorwort zu den "Gesängen des Guten" konzipierten "Poésies" Lautréamonts, in der Übersetzung Ré Soupaults:

Die Zeiten der persönlichen Dichtkunst mit ihren relativen Taschenspielereien und zufälligen Verdrehungen sind vorüber. Nehmen wir den unzerstörbaren Faden der unpersönlichen Dichtkunst [= littérature impersonelle, R.D.] wieder auf, der plötzlich, seit der mißglückten Geburt des Philosophen von Ferney, seit der Fehlgeburt des großen Voltaire, abgerissen wurde.

Das zweite Zitat entnehme ich dem kleinem Essay "L'Esprit nouveau et les Poètes" aus dem Jahre 1918, der gelegentlich auch als Testament Apollinaires bezeichnet wurde.

Es wäre sonderbar gewesen, wenn die Dichter in einer Zeit, da die Volkskunst schlechthin das Kino, ein Bilderbuch ist, nicht versucht hätten, für die nachdenklicheren und feineren Geister, die sich keineswegs mit den groben Vorstellungen der Filmproduzenten zufrieden geben, Bilder zu komponieren. Jene Vorstellungen werden sich verfeinern, und schon kann man den Tag voraussehen, an dem die Dichter, da Phonograph und Kino die einzigen gebräuchlichen Ausdrucksformen geworden sind, eine bislang unbekannte Freiheit genießen werden. Man wundere sich daher nicht, wenn sie sich, mit den einzigen Mitteln, über die sie noch verfügen, auf diese neue Kunst vorzubereiten versuchen, die viel umfassender ist als die einfache Kunst der Wörter und bei der sie als Dirigenten eines Orchesters von unerhörter Spannweite die ganze Welt, ihre Geräusche und Erscheinungsformen, das Denken und die Sprache des Menschen, den Gesang, den Tanz, alle Künste und alle Künstlichkeiten und mehr Spiegelungen, als die Fee Morgana auf dem Berge Dschebel hervorzuzaubern wußte, zu ihrer Verfügung haben werden, um das sichtbare und hörbare Buch der Zukunft zu erschaffen.

Diese Forderung einer unpersönlichen Poesie, dieser Prospekt eines infolge der neuen Medien cinéma und phonographe zu schaffenden sichtbaren und hörbaren Buches der Zukunft formulieren - so meine erste These - zentrale ästhetische Vorgaben für die Künste des 20. Jahrhunderts, die sich - so meine zweite These und mein Thema - durch eine Tendenz zum Dialog der Künstler und Künste, zu einer dialogischen Kunst auszeichnen.

Auch diese Tendenz zum Dialog ist bereits seit Beginn des Jahrhunderts nachzuweisen, wobei ich mich auf drei Belege beschränke.

Picassos "Stilleben auf einem Klavier" aus dem Frühjahr 1912 interessiert in meinem Zusammenhang weniger des Instruments, vielmehr der links oben einschablonierten Buchstaben CORT wegen. Hinter ihnen verbirgt sich zweifelsfrei der französische Pianist Alfred (Denis) Cortot, ein hervorragende[r] Interpret der Klavierwerke Chopins, Schumanns, Debussys sowie zeitgenössischer Komponisten und damit eine Instrumental- und Klangwelt, der Braque alsbald auf einer "Violine" getitelten Arbeit mit dem tschechischen Geigenvirtuosen Jan Kubelik und dem Komponisten Mozart antwortete.

Offensichtlich vertrauten in dieser Dialogsequenz beide Künstler darauf, daß ein dem Instrument zugeschriebener Solistenname dem Bild eine zusätzliche Dimension gewinnen könne. Es ist anzunehmen, daß Braque darüber hinaus ein Konzert angespielt hat, das Kubelik ein Jahr zuvor im Rahmen einer Ingres-Ausstellung in der Galerie George Petit gegeben hatte, [und das von Andre Salmon im "Paris-Journal" als "Galavorstellung" angekündigt worden war: Vor den hier ausgestellten Werken des berühmten Malers wird Kubelik auf Ingres' Violine jene Stücke spielen, die der Maler besonders mochte.] Wobei ich davon ausgehe, daß Braque eingedenk der Häufigkeit, mit der er selbst dieses Steckenpferd ritt, eine zusätzliche Bedeutung ironisch mit einschloß. Denn violon d'ingres läßt sich auch mit Steckenpferd, Liebhaberei übersetzen und war in dieser Bedeutung damals bereits geläufig.

Im übrigen wäre ein derart selbstironisches Spiel bei Braque kein Einzelfall, hat er doch zum Beispiel in seinen papiers collés mehrfach auf sich als Geigenmaler verwiesen. Wobei er in "Glas, Flasche und Zeitung" den Gegenstand sogar aussparte, ihn lediglich wörtlich (VIOLON) in Verbindung mit angedeuteten Notenlinien anspielte. Diese Aussparung des Gegenstandes in "Glas, Flasche und Zeitung" könnte im Dialog mit Picasso zugleich als Antwort verstanden werden auf die Obsession, mit der sich inzwischen auch der Freund der Geige bemächtigt hatte. Zunächst im Dialog und Braque zitierend, zum Beispiel im Frühjahr/Sommer 1912 in "Violine und Weintrauben", dann im Kontext der papiers collés und der Reliefbilder auch innovativ, zum Beispiel in der "Komposition mit Violine", einem entsprechenden Modell "Violine" oder eine "Geige" aus ausgeschnittenem, gefalztem und bemaltem Blech.

Die kunsthistorische Forschung hat beklagt, daß es für die intensive gemeinsame Arbeitszeit Braques und Picassos keine schriftlichen Zeugnisse gebe, hat aber übersehen, daß es dieser Schriftlichkeit gar nicht bedurfte, da die Bilder dieser Jahre auch einen, undzwar intensiven ästhetischen Dialog führen, so man sie nur richtig zu lesen weiß. [Zum Dialog Braque/Picasso ausführlich:Collagen lesen. Musik, Schrift und Realität im Dialog Braques und Picassos]

Der 2. Beleg soll stellvertretend für den die Kunstarten überschreitenden Künstlerdialog stehen. Hier denke ich vor allem an den Briefwechsel Wassily Kandinskys und Arnold Schönbergs (12) zu einer Zeit, in der ihre theoretischen Hauptwerke entstanden bzw, gerade entstanden waren, Schönbergs "Harmonielehre" (13) mit der bezeichnenden Widmung: Dieses Buch habe ich von meinen Schülern gelernt, und Wassily Kandinskys "Das Geistige in der Kunst" (14); zu einer Zeit, in der sich beide aber auch mit dem Problem eines Gesamtkunstwerks herumschlugen - Kandinsky mit "Der gelbe Klang" (15), Schönberg mit "Die glückliche Hand" (16) -, wobei es zentral um die Berührungspunkte zwischen Malerei und Musik ging, was gleichzeitig das dritte Hauptthema dieser Korrespondenz war. Ich kann das hier im einzelnen nicht ausführen, glaube aber anhand der gegebenen Stichworte bereits festhalten zu dürfen, daß sich das damalige theoretische und praktische Werk beider Künstler in seiner uns heute geläufigen Gestalt ohne diese Korrespondenz nicht hätte entfalten können.

Weniger offensichtlich und meist nur einseitig stellt sich ein dritter komplexer Künstlerdialog der damaligen Jahre dar: die Korrespondenz zwischen Franz Marc und Else Lasker-Schüler. Dieser Dialog beginnt im August 1912 mit einem Holzschnitt Franz Marcs zu Else Lasker-Schülers Gedicht "Versöhnung" (17). Im Dezember präsentiert dann der blaue Reiter in einem ersten Brief an die Dichterin ihrer Hoheit sein blaues Pferd (18). Das war zugleich die erste der bis heute fast ausschließlich bekannten "Botschaften an den Prinzen Jussuf", die auf Seiten Else Lasker-Schülers eine intensive Reaktion auslösten, sowohl in Form zahlreicher illustrierter Briefe als auch Zeichnungen und Postkarten, wobei Zeichnung und Text ikonographisch von beiden Partnern so sehr aufeinander bezogen werden, daß sich ihr halb realer, halb fiktiver Dialog erst dann ganz erschließt, wenn man seine Sequenzen alles in allem nimmt.

Auf einer Postkarte Marcs vom 21. Mai 1913, einem "Bild aus Jussufs Friedenszeiten" (19), interessiert mich dabei vor allem das in den Baum eingeschnittene Herz, ein mehr als triviales ikonographisches Element, dem man erst dann hinter den Sinn kommt, wenn man weiß, daß Else Lasker-Schüler den Gesichtern ihrer gezeichneten Figuren gerne einen Stern oder eine Rose oder auch ein Herz applizierte. Und zweitens, daß Marc Else Lasker-Schüler kennen lernte, als ihre Ehe mit Herwarth Walden auseinanderging, was in zahlreichen fiktiven Briefen, Postkarten und Telegrammen Else Lasker-Schülers an Herwarth Walden und seinen Freund Kurt Neimann ihren Niederschlag fand, die zum Teil im "Sturm" als "Briefe nach Norwegen", dann in Buchform unter dem Titel "Mein Herz. Ein Roman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen" (20) veröffentlicht wurden. Dieser Titel wiederum verweist mehrdeutig nicht nur auf die psychische Verletzung, sondern zugleich auf eine längerwierige physische Herzschwäche Else Lasker Schülers, die damals von Alfred Döblin unter anderem mit Opiaten behandelt werden mußte. Das alles war Marc natürlich geläufig, als er dem Baum seiner Postkarte ein Herz einschrieb. Daß Else Lasker-Schüler diese Einschrift durchaus verstanden hatte, zeigt eine nicht genau datierbare Zeichnung wahrscheinlich aus dem Jahre 1915 (21), deren Zuschrift lautet: Jussuf erhängte sich, jedoch die Thebaner glaubten, Ossman habe ihn - auf sein Geheiß - erschlagen.

Konkret nimmt diese Zuschrift den Schluß der "Kaisergeschichte" "Der Malik" (22) vorweg, an deren Ende sich der schon seit langer Zeit schwermütige (23) Jussuf erhängt. Else Lasker-Schüler hat aber auch den Kriegstod Franz Marcs in diese "Kaisergeschichte" verwoben, indem die Stadt [...] von den heimkehrenden kaiserlichen Knaben erfährt, daß auch Ruben tot sei, gefallen des Maliks teurer Halbbruder, der blaue Reiter von Kana (24). Und sie hat ihr Buch Meinem unvergeßlichen Franz Marc / DEM BLAUEN REITER / in Ewigkeit gewidmet.

Gegen Ende des Romans, in dem sich Jussuf allerdings, anders als auf der Zeichnung, im Palast (!) erhängt, steigt Jussuf auf den Birkenhügel, der traurigste Mensch in Theben. In ihren Zweigen schlummerte die Seele der Königin mit den goldenen Flügeln, darum er den holden Baum nicht fällen wollte. [...] In den Stamm des Baumes schnitt er ein blaues Herz und unter ihm seine geliebte Stadt Tiba (25).

Das blaue Herz, Blau war die Lieblingsfarbe Else Lasker-Schülers, in ihrer mit schwarzer und farbiger Kreide überarbeiteten Federzeichnung von 1915 identifiziert gleichsam das von Marc anspielungsreich zitierte Herz als Mein Herz. Das über ihm eingezeichnete Theben, das sich als Hintergrund der Zeichnung ein weiteres Mal andeutet, zitiert die Stadt, in der sich der blaue Reiter und Prinz Jussuf begegnet sind, den fiktiven Ort, vor/in dem ihr wechselseitiger Dialog stattfand.

[1955 haben haben wir anläßlich ihres 50. Todestages mit Bezug auf diesen Dialog eine internationale mail art-Aktion und -Ausstellung, "Der blaue Reiter ist gefallen, der blaue Reiter ist angelangt", veranstaltet, zu der auch gemeinsame und individuelle literarische Beiträge, u.a. "mein herz ist eine traurige zeit, die tonlos tickt" und im weiteren Sinne des Konversationsstück "morgen war gestern" (s.u.) gehörten.]

Der Schritt von einer derart dialogischen zu einer kollektiven Kunst, d.h. zu gemeinsam erarbeiteten Kunstwerken ist nicht sehr groß und wird kurze Zeit später von den Dadaisten vollzogen in der Tradition experimentellen automatischen Schreibens.

Versuche solcher automatischen Niederschriften sind auch für Gertrude Stein belegt und in einem 1896 von ihr und Leon M. Solomon verfaßten Aufsatz "Normal Motor Automatism" (26) zugänglich. Aber schon Lautréamont hat unter dem Eindruck eines Vortrags von Ernest Naville aus dem Jahre 1867/1868 zumindest Teile der "Chants de Maldoror" 'automatisch' geschrieben (27). Allerdings dürften die Zürcher Dadaisten von diesen Experimenten ebenso wenig wie von Lautréamonts Forderung einer littérature impersonelle gewußt haben, als in ihren Gesprächen und Diskussionen der Zufall eine Rolle zu spielen begann in Form einer mehr oder weniger assoziativen Sprechweise, in welcher [...] Klänge und Formverbindungen zu Sprüngen verhalfen, die scheinbar Unzusammenhängendes plötzlich im Zusammenhang aufleuchten ließen (28).

Aus solchen Gesprächen wahrscheinlich entstand 1917 eine Anzahl von Simultangedichten, von gemeinsam verfaßten automatischen Zufallstexten, über die Hans Arp rückblickend festgehalten hat:

Tzara, Serner und ich haben im Café de la Terasse in Zürich einen Gedichtzyklus geschrieben: "Die Hyperbel vom Krokodilcoiffeur und dem Spazierstock". Diese Art Dichtung wurde später von den Surrealisten 'Automatische Dichtung' getauft. Die automatische Dichtung entspringt unmittelbar den Gedärmen oder anderen Organen des Dichters, welche dienliche Reserven aufgespeichert haben. Weder der Postillon von Lonjumeau noch der Hexameter, weder Grammatik noch Ästhetik, weder Buddha noch das Sechste Gebot sollten ihn hindern. Der Dichter kräht, flucht, seufzt, stottert, jodelt, wie es ihm paßt. Seine Gedichte gleichen der Natur. Nichtigkeiten, was die Menschen so nichtig nennen, sind ihm so kostbar wie eine erhabene Rhetorik; denn in der Natur ist ein Teilchen so schön und wichtig wie ein Stern, und die Menschen erst maßen sich an, zu bestimmen, was schön und was häßlich sei (29).

Vor allem Arp ist es auch, der immer wieder spielerisch und ernsthaft derart gemeinsames Arbeiten in der bildenden Kunst und Literatur gesucht hat, zusammen mit Sophie Taeuber vor allem oder mit Kurt Schwitters, mit Max Ernst, Marcel Duchamp, Paul Eluard und anderen. Und er hat dabei wiederholt das Unpersönliche als seine Absicht erklärt, ja bei den mit Sophie Taeuber geschaffenen Papierbildern sogar die Schere verworfen, da sie zu leicht das Persönliche durch die Hand verrate (30).

Ich möchte hier den historischen Exkurs abbrechen und als die mir wichtigen Stichworte noch einmal nennen:

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Die Künstlergeneration nach dem Nationalsozialismus wußte von diesen Ansätzen und einer auf ihnen fußenden Kunstentwicklung praktisch nichts, als sie sich anschickte, ihre Position [neu] zu bestimmen. Zu dieser Positionsbestimmung gehörte vor allem erst einmal der Versuch, den Anschluß an die Entwicklung der Künste wiederzugewinnen. Das läßt sich relativ leicht an den Programmen und Publikationen des Darmstädter Kreises (31), der [aus dem "Art Club" hervorgegangenen] Wiener Gruppe (32), des Forum Stadtpark (33), Graz, und der Stuttgarter Gruppe/Schule zeigen, die untereinander durchaus Kontakte hatten und darüber hinaus an internationaler Offenheit interessiert waren.

Wenn ich mich bei den folgenden Beispielen dialogischer Kunst auf die Stuttgarter Schule/Gruppe konzentriere, möchte ich nicht gewichten sondern von etwas reden, das ich am besten überschaue, da ich hier selbst betroffen bin. Ich rede also auch pro domo.

Die Stuttgarter Gruppe/Schule in den 60er Jahren, zu der ich die nach Stuttgart verschlagenen Max Bense, Helmut Heißenbüttel und mich, sowie die Nicht-Stuttgarter Ludwig Harig, Franz Mon und Ernst Jandl, die Typographen Klaus Burkhardt und Hansjörg Mayer in erster Linie sowie einige bildende Künstler und Musiker zähle, ist innerhalb der genannten Gruppen insofern eine Ausnahme, als sie sich von Anfang an nicht ausschließlich literarisch orientierte und dabei Theorie und Praxis zu verbinden suchte [Heißenbüttel war Leiter des "Radio-Essays" und "Literarischen Studios" des Süddeutschen Rundfunks (34), Bense war, ich bin noch Universitätslehrer], sie ist auch insofern eine Ausnahme, als sie von Anfang an alle Künste und Medien in ihre Überlegungen und Produktionen einbezog.

Nur hinweisen möchte ich darauf, daß das einzige, von Max Bense und mir 1964 verfaßte Manifest der Stuttgarter Gruppe - "Zur Lage" - zunächst das Ergebnisprotokoll einer gemeinsamen Diskussion war, das wir dann für die Veröffentlichung in den Grazer "manuskripten" (35) noch einmal durchgesehen haben.

Als Beispiel für die Versuche, wieder Anschluß an die Weltliteratur zu finden, nenne ich stellvertretend die von Stuttgart ausgehende Gertrude-Stein-Rezeption [Vgl. Gertrude Stein und Stuttgart], die 1955 mit einem Aufsatz Helmut Heißenbüttels in Benses Zeitschrift "augenblick" beginnt, gefolgt von weiteren Aufsätzen vor allem Benses und Elisabeth Walthers, Übersetzungen und immer wieder literarischen Texten in Auseinandersetzung mit Gertrude Steins provozierendem Oeuvre. Diese Gertrude-Stein-Rezeption zieht sich in einer ersten Phase bis in die frühen 70er Jahre hin, Ende der 80er Jahre gefolgt von einer zweiten Rezeptionsphase, die diesmal unter Leitung von Gerdi Sobek-Beutter, assistiert von Klaus Feßmann, von der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst ausging. Sie verband in einer dreiteiligen "Hommage à Gertrude Stein", Texte Gertrude Steins, der Stuttgarter Gruppe sowie Texte neueren Datums miteinander, darunter ein Stück, das Gertrude Stein, Alice B. Toklas und Else Lasker-Schüler mit authentischen Texten in einen fiktiven Dialog brachte ["Es war gestern was morgen war"]. Kombiniert waren diese Präsentationen mit Ausstellungen und musikalischen Programmen zum gleichen Thema. Abgeschlossen wurde diese zweite Phase der Stuttgarter Gertrude-Stein-Rezeption mit einem Querschnitt-Programm (36) [mit Ausstellung] durch alle Veranstaltungen des Projekts anläßlich der Eröffnung der neuen Musikhochschule.

Eine dritte Rezeptionsphase markiert das 1996 von Johannes Auer und mir inszenierte Internet-Projekt "Epitaph Gertrude Stein" , das mit der an Gertrude Steins 50. Todestag in der Galerie Buch Julius eröffneten internationalen Ausstellung "Memorial Gertrude Stein" auf mehrfache Weise 'vernetzt' war.

Zurück zur Stuttgarter Gruppe/Schule. Eines ihrer Wasserzeichen war schon Ende der 50er Jahre die konkrete Poesie, wenn auch nicht in dem engen Sinne, in dem Gomringer sie schulbuchfähig gemacht hat. Wir orientierten uns vielmehr an Vorstellungen Arps, nach denen bereits Texte Kandinskys, der Zürcher Dadaisten und Kurt Schwitters' konkrete Poesie gewesen seien (37), aber auch an Vorstellungen Öyvind Fahlströms (38), der neben dem Bildkonkretismus vor allem die musique concrete eines Pierre Schaeffer, aber auch die Sprachkneter aller Zeiten [darunter die griechischen Bukoliker und Alexandriner, Rabelais, Lewis Carroll, die Dadaisten und eben Gertrude Stein] mit einbezog.

Dabei waren für uns von Anfang an internationale Kontakte wichtig, mit Künstlern aus Brasilien, England, Frankreich, Italien, aus der Tschechoslowakei, aus Japan, der Türkei undsoweiter, Kontakte, die - wie Gemeinschaftsarbeiten der letzten Jahre belegen - z.T. bis heute produktiven Bestand haben.

Ein zweites Wasserzeichen war das Interesse einer Verbindung von künstlerischer Produktion mit neuen Medien und Aufschreibsystemen, was bereits 1959 zur Herstellung von Texten mit Hilfe der Großrechenanlage ZUSE Z 22 und zu einer Unterscheidung von natürlicher und künstlicher Poesie führte (39).

Daß ein solches Interesse auch die bildende Kunst einschloß, es nach den Versuchen mit maschinell erzeugten Texten bald auch zu Versuchen mit maschinell erzeugter Grafik und einer ersten [in ihrem Verlauf äußerst turbulenten] Ausstellung von Computer-Grafik in der Galerie des Studium Generale kam (40), sei wenigstens angemerkt. Verwiesen auch auf Versuche mit maschinell bzw. mit nicht instrumental erzeugter Musik oder grafischen Partituren, die sich nur in seltenen Fällen realisieren ließen.

Ein Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre virulentes ästhetisches Interesse am Phänomen "Schrift und Bild" führte 1962 Günther C. Kirchberger und mich zu Versuchen von Text-Grafik-Integrationen (41). Darunter verstanden wir Arbeiten, die Skripturales und Grafisches, die 'Handschriften' also des Autors und des bildenden Künstlers verbinden und in ihrer Individualität aufheben sollten, indem die nachträgliche Zeichnung einen vorgegebenen Text reduzierte, dessen Reduktion dann ein weiteres Mal durch eine nachträgliche Zeichnung reduziert wurde, bis schließlich aus dem, was an Text übrigblieb, in mehreren Ordnungsschritten ein praktisch neuer Text entstand.

Kirchberger, Hansjörg Mayer und ich haben in den folgenden Jahren dann auch Programme entwickelt, nach denen Bilder, Texte und Typografik hergestellt werden konnte. Als Beleg mag das "Programm Typografie 2" (42) aus dem Jahre 1967 dienen, für das Hansjörg Mayer verantwortlich zeichnete, dessen Vorgabe und Material ein Quadrat aus 26mal den 26 Buchstaben des Alphabets, die Grundfarben Rot, Blau, Gelb und Schwarz waren, wobei es interessanterweise ausgerechnet den bildenden Künstler drängte, aus den Buchstaben und Farben Texte zu bilden (43).

Hansjörg Mayer experimentierte damals auch damit, vorgegebene Texte typographisch fortzuschreiben. Fortführungen hatte er diese Experimente genannt, und sich dabei auf ein Diktum André Thomkins bezogen: Kunst macht aus etwas etwas anderes. Solche Fortführungen versuchten wir natürlich auch in anderen Kunstarten, die u.a. in dem Heißenbüttel gewidmeten Internetprojekt nachgelesen werden können.

In einem anderen Falle hat z.B. Ernst Jandl einen Text von mir

1 vertrieb sich / die zeit / mit diesem und jenem
2 verbrachte / die auf erden ihm gegeben war / die zeit
3 verging / mit ihr um / die wette
4 ging auch dahin
5 und verging / im handumdrehen / hiermit und damit
6 so
7 und / zum zeitvertreib
vierfach variiert zu "sieben angeklagte", "die sieben punkte der anklage", "wie die sieben verurteilten für ihre vergehen büßten" und "führungszeugnis" (44).

Die von Hansjörg Mayer gestaltete und gedruckte Textselektion Max Benses, "Rosenschuttplatz", aus dem Jahre 1964, die auch ein Beispiel aus der produktiven Stuttgarter Gertrude-Stein-Rezeption ist, wurde gleich auf zweifache Weise fortgeführt, typografisch von Hansjörg Mayer (45), akustisch von der "Schola Cantorum" unter Clythus Gottwald, die Benses Textselektion als Partitur interpretierte (46).

Diese akustische Realisation führt mich zugleich zu einem weiteren Wasserzeichen der Stuttgarter Gruppe, einer auffallend umfangreichen Hörspielproduktion(47), von der im heutigen Zusammenhang nur die Gemeinschaftsarbeiten interessieren. Ich nenne "Türen und Tore" (48) von Johann M. Kamps [Konzept und Regie], Jürgen Becker, Ludwig Harig und mir, nach einem Text von Robert Musil. Ferner "Hans und Grete oder Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" (49), ein Hörspiel, dessen erste Prosafassung, "Hans und Grete. Eine deutsche Sprachlehre", ich zusammen mit Ludwig Harig für die Bense-Festschrift "Muster möglicher Welten" (50) geschrieben hatte, dessen akustische Fassung dann so angelegt war, daß der Regisseur Heinz Hostnig praktisch zum Co-Autor werden mußte (51).

Als ein weiteres Beispiel gemeinschaftlicher Hörspielarbeit nenne ich Max Benses, Ludwig Harigs "Monolog der Terry Jo" aus dem Jahre 1967 (52) und zitiere nach dem Tondokument die Vorbemerkung Heinz Hostnigs.

Der Monolog beginnt mit einem Computer-Text. Es sind neun synthetische Annäherungen an die Sprache des Mädchens. Die Tatsache, daß gewisse Analogien zwischen dem zu Anfang unbewußten Zustand des Mädchens und der Unbewußtheit eines Computers bestehen, ließ diese erste Verwendung eines mit einer programmgesteuerten Maschine hergestellten Textes in einem Hörspiel gerechtfertigt erscheinen. / Diese Computertexte des Monologs werden in der Realisation übersetzt in eine durch ein kompliziertes Vocoder-Verfahren hergestellte synthetische Sprache, die im Verlauf des Monologs mehr und mehr abgebaut und von der natürlichen Stimme abgelöst wird. / Die Aussagen sind dokumentarische Texte. Sie können insofern als quasi-authentisch gelten, als sie die gesammelten und veröffentlichten Zeugnisse darstellen (vor allem gestützt auf eine 11teilige Artikelserie im "France Soir"), die den genannten Fall betreffen. Der Fall ist ein Verbrechen, geschehen in der Nacht vom 12. auf den 13. November 1961 in der Nordwest-Durchfahrt zwischen der Bahama-Insel New Providence und Florida.

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Für die folgenden Beispiele, mit denen zugleich der Bogen zur Gegenwart geschlagen werden soll, darf ich wiederholen, daß sich aus der Anlage des Stuttgarter Gruppenunternehmens internationale Kontakte ergaben, die bis heute Bestand haben. Diese Kontakte erhielten sich unter anderem durch eine in den 60er Jahren einsetzende, seit den 80er Jahren immer intensivere mail art, eine Korrespondenz mit individuell gestalteten Postkarten, auf denen und mit Hilfe derer ästhetische Konzepte, Ideen, Programme diskutiert oder auch nur Grüße ausgetauscht wurden und werden mit Partnern vor allem in Japan, Frankreich, der tschechischen Republik, aber auch der Volksrepublik China, Finnland, Polen und natürlich Deutschland.

Die Vielfalt dessen, was sich auf diesem Wege austauschen läßt, haben 1989 eine Ausstellung der Kunst&Kompostkarten von Wolfgang Ehehalt und mir in der Galerie Folkmar von Kolczynski, 1995 die "Postkarten zu Else Lasker Schüler" in der Galerie Buch Julius angedeutet. Wobei ich ergänze, daß die Galerie Buch Julius auch sonst mit Ausstellungen von Arbeiten Max Benses, Carlfriedrich Claus', Wil und Susanne Frenkens, Ilse und Pierre Garniers, mit je einer Ausstellung japanischer und tschechischer Künstler nicht nur das Umfeld, sondern auch die internationale Eingebundenheit der Stuttgarter Gruppe/Schule wiederholt in Erinnerung gebracht hat. In welchem Umfang dieser meist von Stuttgart ausgehende Dialog in Wirklichkeit geführt wurde und immer noch wird, demonstrierte[n] die Ausstellung[en] "mail art - Reinhard Döhl und Freunde" 1996 im Wilhelmspalais mit mehr als 2500 Exponaten aus über 30 Jahren [und vier Jahre später eine geänderte, aktualisierte Präsentation in Bad Wildbad. Vgl. Mail-Art-Projekte.]

Aus diesem dialogischen Netzwerk der mail art und seiner vielfältigen Möglichkeiten möchte ich lediglich ein Beispiel herausgreifen: die Genese einer gemeinsamen Komposition, der "californian sonata", zunächst auf dem Postweg.

1994 schickte ich an den Cellisten Johannes Zagrosek, der seit Jahren schon grafische, oft nur postkartengroße Partituren von mir realisiert, das Konzept einer Sonate, wobei die Bildseiten den ungefähren Verlauf skizzierten, die Textseiten zum Teil recht genaue Angaben zu den Tönen, den musikalischen Zitaten, zum Teil aber auch freundschaftlichen Unsinn enthielten. Der Titel erklärt sich aus der Tatsache, daß Kalifornien sowohl in der Biographie Gertrude Steins wie John Cages, der sehr früh bereits Texte Gertrude Steins 'vertont' hatte, eine gewichtige Rolle spielt. Ich zitiere die Textseiten:

Lieber Johannes, außer der chamber music hab ich mir und dir noch eine "Californian Sonata" ("concord", vgl. Ch. Ives) konzipiert. Dies wäre schon einmal der Baßschlüssel. Den Rest gibt's in Fortsetzungen. [...] / [...] eigentlich hatte ich gedacht, Du würdest vor Neugier platzen. - Wohlan denn: Satz 1, 1. Thema: h a e es a g es e. Eigentlich ganz harmonisch! [...] / [...] das 2. Thema geht dann so: e h a d d e h. Nicht ganz so harmonisch aber auch nicht schlecht. Jedenfalls auf dem Spinett. [...] / [...] jetzt müssen natürlich beide Themen nach bester 12Tonmanier durchgearbeitet werden. Die Umkehrung und der Krebs sind wichtig. Wenn das nicht Händel gibt! [...] / [...] der zweite Satz beginnt damit, daß Franz Elise eine alte Krampfhenne nennt und eine Winterreise antritt, Ludwig van ihm die schöne Müllerin ausspannt. Naja [...] / [...] hab' ich Dir eigentlich die beiden Themen des ersten Satzes, den ich übrigens 6:2 gegen Steffi Graf gewonnen habe, schon mitgeteilt? Clara war unpäßlich und Brahms ziemlich verbittert. Achja [...]
[...] also Deine Feuerwerksmusik kam bei uns nurmehr als Krach an. Die Spülung betätigend haben wir mit einer Wassermusik geantwortet, nur Lindpaintner war nicht einverstanden, Ende des 2. Satzes! [...] / [..] die freundliche Einladung ist Grund, Dir einen weiteren Satz der Sonate zu schicken. Übrigens ein paar Töne oder Laut dürftest Du schon einmal wegen dieser welterschüt- [...] / [...] ff. ternden Komposition (von Dir) geben. In ihrem dritten Satz (hasta la vista) geht es zwar nicht über Stock und Stein, auch solltest Du ihn nicht vierhändig mit Stockhausen auf einem Steinway - aber [...] / [...] Du solltest Dich nicht nur oberhalb sondern auch unterhalb des Steges aufhalten; & gelegentlich auch Zumsteeg (1760-1802 eben u. auch ein Johann) just on the road, stone-way eben [...] / [...] der 17. ist genauso geeignet wie der 13., mit dem 4. Satz: scherzo fundamentale: zu beginnen. Er besteht hauptsächlich aus Klopfzeichen auf dem ff. [...] / [...] ff. Celloboden (das Instrument ist also verso zu traktieren (mit einigen Zwischengriffen recto) was mich auf rektal und die Frage bringt, warum der Mastdarm beim Cello ff. [...] / [...] ff. vorn ist? Oder ist vorne beim Cello hinten: Wie auch immer, im vierten Satz hast Du vor allem Klopfzeichen zu geben und wenig zu streichen, was sagen soll, daß der 4. Satz nicht gestrichen wird. Alternatives pizz[icato] und Zupfgeigenhansl ad lib. [...] / [...] jetzt sollten wir uns so langsam an den letzten Satz machen, der natürlich auf dem Grundton de basiert und zunächst mit de dis de des de dis de des das Auf und Ab unserer Wer- [...] / [...] ff. keltagswelt so recht zu Gehör und vor die Ohren bringt und stellt. Danach hast Du die Wahl, ob Du zu des ce ha / ce des ce ha absteigen oder Dich schon zu dis e ef e dis usw. aufschwingen willst. Um jedes Mißverständ- [...] / [...] ff. nis auszuschließen: ich gehe immer noch davon aus, daß Du meine Dir gewidmete oder doch zugedachte Komposition auch aufführst mit Pfeil u. Bogen, Stumpf und Stil (!) minor et major [...] / [...] ich sehe gerade, daß ich Dir den letzten Satz noch nicht auf die Post gegeben habe. So füge ich rasch die Coda noch bei und Du kannst Dir das Ganze jetzt hinter den Spiegel stecken oder einrahmen. Herzliche Grüße auch an Betty, Dein Reinhard.

Nach einer ersten Aufführung 1994 im Max-Bense-Saal des Wilhelmspalais' haben Johannes Zagrosek und ich die Realisation diskutiert, was zu einer zweiten Version führte, die 1996 im Rahmen des Gertrude-Stein-Abschlußprogramms in der neuen Musikhochschule aufgeführt und dem Fernsehbericht darüber als Musik unterlegt wurde.

Mein vorletztes Beispiel ist eine "Poetische Korrespondenz" in der Tradition des japanischen, Renga bzw. Renshi genannten Kettengedichts, an dem mehrere Personen beteiligt sind; im konkreten Fall Bohumila Grögerová und Josef Hiršal aus Prag, Ilse und Pierre Garnier aus Paris bzw. Amiens, Yüksel Pazarkaya aus Istanbul bzw. Bergisch Gladbach, Hiroo Kamimura und Syun Suzuki aus Japan und ich.

Anfang April 1995 wurden von der Volkshochschule Stuttgart an die genannten Autoren Briefe geschickt, in denen 8 Ketten so festgelegt waren, daß jeder der Beteiligten eine der Ketten beginnen, eine zweite schließen und daß, im Umlauf der Ketten, jeder auf jeden Korrespondenten einmal reagieren mußte. Am 31. Mai 1995 war die letzte der 8 Ketten geschlossen. Für eine abschließende 9. Kette wurden dann 5 weitere Kurzgedichte in Ober- und Unterstophe getrennt und zur Vervollständigung so verteilt, daß jeder der beteiligten Sprachen mit jeder anderen in einem Kurzgedicht zusammenklingen mußte. Musikalisch gesprochen besteht also die "Poetische Korrespondenz" aus 8 (thematischen) Durchführungen und einer Engführung.

Ausgangspunkt für jede Kette war ein auch für das Ganze als Motto vorgegebenes, programmatisch gedachtes Tanka Onoe Saishûs: Auf der nämlichen Erde / stehen die nämlichen Bäume zusammen. / Und auch am heutigen Tag / schlagen die nämlichen Blätter / raschelnd zusammen.

Auf dieses war also zunächst zu reagieren, wobei das erste Gedicht einer Kette in der Regel das Thema der Kette anschlug. Um möglichst viel Eigenes in die Beiträge einfließen zu lassen, waren die Korrespondenten angehalten, in ihrer eigenen Sprache zu schreiben und ihre Texte allenfalls mit einer Rohübersetzung zu versehen. Diese Bedingung war uns wichtig, weil es so möglich wurde, die unterschiedlichen Sprachstrukturen des Japanischen, Türkischen, Tschechischen, Französischen und Deutschen mit- und gegeneinander zum Klingen zu bringen.

Ich verweise zunächst auf den einzelnen Ketten zugehörigen, sie thematisch bündelnden Kanji eines weiteren japanischen Freundes, des Sho-Meisters Kei Suzuki, mit dem ich seit 1987 wiederholt zusammen experimentiert, gearbeitet und auch ausgestellt habe. Diese Kanjis bedeuten in der gezeigten Reihenfolge Ulme, Schweigen, Blatt, Vogel, Leben und Sterben, Spiegel, Sein. Das letzte Zeichen lautet henkô und bedeutet Änderung, Veränderung. Es ist Kei Suzukis Zusammenfassung der 8. Kette, die ich als Beispiel in deutscher Übersetzung zitieren darf:

Am gleichen Himmel / gepunzt das gleiche Gesicht. / Gestern wie heute / zwinkert das gleiche Gesicht / im Mondlicht, bei Sonnenschein. / (Yüksel)
Schaut man nach oben / werden am gleichen Himmel / die gleichen Sterne / untereinander sprechen / im Osten wie im Westen. / (Hiroo)
Weit und breit unter / dem Himmel von West nach / Ost unter den ewig / nämlichen Sternen findest / du keinen festen Punkt. / (Josef)
Über den Himmel / eine lange strahlende / Spur ziehend, fiel ein / heller Stern hinter den Berg. / Heute wollen wir leben! / (Syun)
Seit ich Chlebnikov / unter dem Hundsstern getroffen / habe, spreche ich / die Sternensprache, zas für / uzas, mache ich Fortschritte. / (Reinhard)
Wie Chlebnikov sich / der Poesie verschreibend? / Wagst du, meine Freundin, / mit einem Sack von Versen / als Kopfkissen durch die Welt zu wandern? / (Bohumila)
Wenn du mit leichtem Gepäck / - einen Tropfen Tau, eine Sternschnuppe im Haar - / zu poetischen Horizonten wanderst, / vergiß nicht den Strauch, / der am Wegrand dorrt. / (Ilse)
So aber ist dieser / Augenblick, der endlich kommt: / das Leben ist erfüllt, / man scheidet aus der Geschichte / um in die Geographie einzutreten. / (Pierre).
Diese "Poetische", auch im Druck zugängliche "Korrespondenz" aus dem Jahre 1995 ist, wie ich ergänzen muß, nicht das erste und auch kein Einzelunternehmen dieser Art. Seit Anfang/Mitte der 80er Jahre hat es immer wieder einmal Versuche gegeben, die altehrwürdige japanische Form des gemeinsamen Kettengedichts zu erneuern, auf westlicher Seite zum Beispiel von Octavio Paz, Edoardo Sanguinetti, Charles Tomlinson und Jacques Roubaud, in Japan von Makato Ooka und der Kai-Gruppe, in Berlin von Ooka, Hiroshi Kawasaki, Karin Kiwus und Guntram Vesper, auf dem Wege der Korrespondenz zwischen Syun Suzuki und mir. Dabei lassen sich die jeweiligen Begründungen tendentiell durchaus vergleichen.

Ich stelle, formuliert Octavio Paz seinen Standpunkt, zwei Arten von Affinitäten fest: die erste ist das kombinatorische Element, das das Renga beherrscht, ein Element, das mit einem der Hauptanliegen des modernen Denkens koinzidiert, von den logischen Spekulationen bis hin zu den künstlerischen Experimenten; das zweite, der kollektive Charakter des Spiels entspricht der augenblicklichen Krise vom Begriff des Autors und dem Streben nach einer kollektiven Dichtung.

Das aber weist zurück auf vergleichbare Ansätze in der Kulturrevolution zu Beginn unseres Jahrhunderts. Und genau auf diese Wurzeln zielt auch Makato Ooka mit dem Hinweis, daß die Ismen je von ihren Standpunkten, Ansprüchen und methodischen Ansätzen her bestätigt hätten, daß der seit dem frühen 19. Jahrhundert herrschende Ich-Kult am Rande des Bankerotts angelangt war. Daß sich die Künstler deshalb abgemüht hätten auf der Suche nach etwas, das an seine Stelle treten könne. Das brennende Interesse am Traum und am kollektiven Unbewußten, die Entdeckung neuer künstlerischer Techniken wie die des papier collé, der Collage oder der Objektkunst, das unsichere Tasten nach einer kollektivistischen Kunsttheorie und Klassengesellschaft, die Darstellung der existentialistischen Ich-Demontage, das auflebende Interesse an Mythologie und Kulturanthropologie, - all dies sei unzweifelhaft der Ausdruck einer solchen Suche gewesen.

In der heutigen Welt der Hochtechnologie einerseits, die versessen sei auf das Vermessen der Wirklichkeit und die Vorausberechnung der Zukunft, und der unerwarteten kriegerischen Zusammenstöße und plötzlichen Katastrophen andererseits, müsse man mit anderen Mitteln erneut menschliche Begegnungen herbeizuführen versuchen, müsse man Wege zu einer wechselseitigen Verständigung ausfindig machen, die an die Stelle der Ichbezogenheit treten könnten.

Das sei mit der Grund, warum heute die literatarische (und - wie ich ergänze - künstlerische) Gemeinschaftsproduktion als eine Gelegenheit des nichtquantifizierbaren, freien, kreativen Austauschs neuen Sinn erhalte und neu bewertet werden müsse. Es gehe, wenn man so wolle, auch um die Wiederentdeckung der Welt des "Homo ludens", der ja kreative Impulse und spielerischen Geist untrennbar in sich vereinige.

Einen anderen Schritt in diese Richtung haben Johannes Auer und ich [bei dem frühen Interesse der Stuttgarter Gruppe/Schule an stochastischen Texten, Computergrafik, elektronischer Musik oder dem Vocoder-Einsatz im Hörspiel kaum überraschend] in den letzten Jahren gemacht mit mehreren Internet-Projekten, dem schon erwähnten "Epitaph Gertrude Stein" und einer "Hommage à Helmut Heißenbüttel" anläßlich seines 75 Geburtstages, der wir kurze Zeit später den Nachruf ["Epilog"] anschließen mußten. Augenblicklich arbeiten wir an einem internationalen "Poemchess" und sind an einem weiteren großen , dem "Tango"-Projekt beteiligt, an dem Internetbenutzer aus Österreich, Deutschland und Uruguay jeder für sich und gemeinsam arbeiten. Als kleinere gemeinsame Arbeiten nenne ich die Cyberspaceversion eines älteren Manuskripts, dessen Typografie sich im Internet fast optimal präsentieren ließ ["Das Buch Gertrud"], die Hypertextversion einer Permutation aus dem Jahre 1991 ["Der Tod eines Fauns"], den animierten Bildtext "Makkaronisch für Niedlich" sowie Johannes Auers animierte Bildtextversion meines "Apfel".

Im Falle der beiden ersten Projekte wurden Autoren, Musiker und Künstler weltweit aufgefordert, sich mit literarischen, grafischen und musikalischen Beiträgen zu beteiligen, im Rahmen der Spielregeln des Internets. Im Falle des "Epitaph[s] Gertrude Stein" lautete diese Aufforderung:

An international epitaph is to be created in honour of Gertrude Stein, who died on 27 July 1946. The subject prescribed for this international epitaph is the last (No. LXXXIII) of the Stanzas in meditation ("Why am I if I am..."). We are looking for textual, audio and grafic elaborations of the theme. The texts should, like the prescribed stanza, consist of fourteen lines/verses. The last verse must read: These stanzas are done. It is left to the individual author wether he/she follow the structure of the prescribed stanza by Gertrude Stein (diminishing/increasing length of line, rhymes, etc.) or react to other texts of the Epitaph in free association. The text should at any event be written in the author's mother tongue and if possible accompanied by the rough translation or a free version in German. The audio creations must for technical reasons be noted in letters. Graphic contributions should not exceed to format 30 x 30 cm. E-MAIL-address for texts and sound/audio creations: gertrude.stein@kunsttot.de.

Im Falle der Heißenbüttel-"Fastschrift" lautet die Aufforderung seit dem 19. September 1996, dem Todestag Helmut Heißenbüttels:

H.H.H. / Eine Fastschrift zum 75sten. / The public is invited to dance. / Anläßlich seines 75. Geburtstags, den 21.6.1996, waren alle alten und neuen Künstlerkollegen und Freunde seiner Texte herzlich eingeladen, sich mit Beiträgen ihrer Wahl zwischen non und sense zu einer zeitlich offenen Hommage à Helmut Heißenbüttel zusammenzufinden. Ein Text ist ein Text ist ein Text ist ein Text.

Aber auch Töne (als Buchstaben ausgeschrieben) und Grafiken waren willkommen. Wer sich nicht mit einem Beitrag beteiligen wollte, konnte sich in eine Tabula gratulatoria eintragen. / Der Tod Helmut Heißenbüttels am 19.9.1996 hat die Fastschrift geschlossen. Ihr letztes Kapitel wird zum Epilog, den fortzuschreiben die Freunde noch einmal eingeladen sind in Form von bevorzugt fünfzeiligen zweisprachigen Texten zwischen Kommen und Gehen, zwischen Gehen und Kommen. The public is invited to mourn.

Öffentlich vorgestellt wurden die beiden Projekte als work in progress zusammen mit dem "Taxis"-Projekt des Forum Stadtpark, soweit wir es aus dem Internet fischen konnten, erstmals am 5. Juli 1996 in der "Alten Schmiede" in Wien anläßlich eines Podiums mit den Grazer Initiatoren des "Taxis"-Projekts, auf der CEBIT, im Goethe-Institut Osaka u.a.O., so daß ich sie inhaltlich nicht mehr zu beschreiben brauche. Ich beschränke mich stattdessen auf einige grundsätzlichere Anmerkungen.

Und die betreffen zunächst das weitverbreitete Vorurteil gegenüber dem Internet als lediglich einer inzwischen unübersehbaren und überlasteten Datenautobahn. Ein Vorurteil, das berechtigt scheint, wenn ich hinzufüge, daß Johannes Auer und ich auf einer der großen Suchmaschinen des Internets zu Gertrude Stein 3357 Eintragungen fanden, die allerdings nicht alle die Schriftstellerin betrafen und von z.T. großer Düftigkeit waren.

Ein derart lediglich reproduktiver schwachsinniger Gebrauch des Internets interessierte uns jedoch nicht. Wir wollten im Gegenteil das Internet produktiv nutzen für einen international offenen, ästhetischen Dialog unter Künstlern, die keine Berührungsängste bei der Arbeit mit dem Computer haben. Und hier boten sich der 50. Todestag Gertrude Steins und der 75. Geburts- und der Todestag Helmut Heißenbüttels an für den gemeinsamen Bau eines "Epitaphs" und einer "Fastschrift" mit "Epilog". Anders gesagt: wir wollten aus konkreten Anlässen einen internationalen ästhetischen Dialog provozieren mit einem nur im Internet möglichen spielerischen Verlauf.

Ein Vergleich hilft erklären. Etwa gleichzeitig mit unserer "Fastschrift" setzte Radio Bremen ein "Helmut Heißenbüttel Magazin" ins Internet, das in dieser Form zu großen Teilen wohl auch gesendet wurde. In diesem "Magazin" findet der Internetbenutzer nacheinander ein Aquarell Heißenbüttels, biobibliographische Daten, die schriftliche [!] Wiedergabe eines Gesprächs, das Hermann Rotermund am 2.3.1984 in Borsfleth mit Heißenbüttel geführt hat, den Text des Hörspiels" "Krazykatz Bremenwodu" und schließlich ein "Gedichtgedicht", das der Internetbenutzer, wenn er die richtige Software hat, auch hören kann. Das alles ließe sich, bis auf den Ton, genauso gut drucken oder kopieren, was wir aus archivalischen Gründen denn auch getan haben.

Das aber wäre bei der Stuttgarter "Fastschrift" mit Nachruf allenfalls partiell und nur für einzelne Beiträge noch denkbar. Denn die meisten Beiträge sind so miteinander vernetzt, daß der Benutzer die Lesemöglichkeiten des Internets ausschöpfen und sich clikend, d.h. in Sprüngen und gegen die traditionellen Lesegewohnheiten, durch die verschiedenen Ebenen von "Fastschrift" und "Epilog" hindurchbewegen muß. Die "Fastschrift" mit "Epilog" ist also nicht mehr die traditionelle Versammlung von Beiträgen, die man, falls überhaupt, Beitrag für Beitrag umblätternd, linear liest, sondern sie ist instabil, eher so etwas wie ein Mobile, in dem sich auch Teile einzelner Beiträge lesend und/oder betrachtend miteinander verbinden lassen. The public is invited to dance, z.B. indem der Benutzer auf einer am linken Rand des Bildschirms von oben nach unten laufenden Leiste einzelne Buchstaben des Names Helmut Heißenbüttel anklickt, was dann aus einer Textgrafik des Titels "Manirierte Heringe" einen schmalen vertikalen Text aufruft, der mit diesem Buchstaben beginnt. Oder: Grafiken sind, wenn es sich um eine Folge handelt, lediglich mit einer Abbildung in den fortlaufenden Text eingebunden. Wer die ganze Folge sehen will, muß also die Leseoberfläche durch einen mouseclick verlassen, um dann die Grafiken, eine nach der anderen, umblättern zu können. Schließlich sind aber auch noch "Fastschrift", "Epilog" und "Epitaph" mehrfach miteinander verbunden aus Gründen, die sich aus dem zur Stuttgarter Gertrude Stein-Rezeption Gesagten erhellen. Das alles läßt sich leichter sehen als erklären und in Form einer Kopie nicht mehr auf die Reihe bringen. Als das Entscheidende aber kommt neben den horizontalen und vertikalen Lesemöglichkeiten die grundsätzliche Offenheit dieser Projekte hinzu, die Möglichkeit für dem Benutzer, jederzeit an jeder von ihm gewünschten Stelle mit eigenen Beiträgen in den Dialog produktiv eintreten zu können.

Die in der Regel kommerziell reproduktive, künstlerisch aber auch produktive Nutzungsmöglichkeit der neuen Medien ist ein altes Problem, für dessen Skizze ich noch einmal in die 20er Jahre, diesmal zu den Anfängen des Radios und seiner ersten Programme zurückkehren muß. Diese ersten Darbietungen des Radios hatte Bertolt Brecht in einer undatierten Notiz - "Radio - eine vorsintflutliche Erfindung?" - als kolossalen Triumph der Technik ironisiert, der es ermögliche, nunmehr einen Wiener Walzer und ein Küchenrezept endlich der ganzen Welt zugänglich machen zu können. Solle die Erfindung wirklich Sinn machen, müsse das Radio produktiv gemacht werden. Einmal durch das Entwickeln einer Literatur ausschließlich zu den Bedingungen des neuen Mediums, des Hörspiels, zu dessen Geschichte Brecht denn auch einige wichtige Beiträge geliefert hat. Zweitens durch die Verwandlung des Radios aus einem Distributionsapparat, der lediglich zuteile, in einen Kommunikationsapparat, der den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen lasse, ihn nicht isoliere, sondern in Beziehung setze.

Der erste Schritt eines solchen Produktivmachens ist, wie die Geschichte des Hörspiels nachdrücklich belegt, durchaus geglückt. Der zweite Schritt dagegen wollte, trotz immer wieder ansetzender Versuche der Höreraktivierung - hier wären für die 20er Jahre neben Brecht vor allem Walter Benjamin, für die 60er/70er Jahren unter anderem die Experimente mit "Hörerspielen" zu nennen - der zweite Schritt des Produktivmachens wollte dagegen nicht recht gelingen. Hier blieb der Rundfunk [wie später das Fernsehen in immer niveauloserer Form] der von der Werbung gerne genutzte Distributionsapparat.

Heute böte das Internet die Möglichkeit, auch diese zweite Forderung Brechts zu erfüllen, den Dialog der Benutzer auf einem anderen technischen Spielfeld Realität werden zu lassen, gegen den Einbahnverkehr der Datenautobahn künstlerische Kommunikation in alle Richtungen zu betreiben.

Freilich, die Möglichkeiten sind noch beschränkt, vieles von dem, was Johannes Auer und ich wollen, scheint noch nicht machbar, was auch an unserer Software liegen könnte. Erinnert man sich jedoch daran, in welchem Maße die nicht literarischen Bedingungen, das Mikrophon z.B., die Ultrakurzwelle, die Stereofonie und Kunstkopfstereofonie die Genese des Hörspiels mitbestimmt haben, läßt sich angesichts der rapiden technischen Entwicklungen in der Computerindustrie auch für das Internet ein schneller Zugewinn der ästhetischen Spielmöglichkeiten voraussagen, die es allerdings und nicht im Einbahnverkehr zu nutzen gilt.

Mit der Frage, ob und in welcher Form das Internet die traditionellen elektronischen Medien des Radios und Fernsehens wahrscheinlich ablösen wird, beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte der elektronischen Medien, das ich hier nicht zu behandeln habe. Was ich versuchen wollte, war ein skizzenhafter Überblick über Ansätze und Möglichkeiten künstlerischen Dialogs und dialogischer Kunst im 20. Jahrhundert. Unter ihnen ist das Internet, sinnvoll genutzt, vielleicht eine Spielform des von Apollinaire projektierten visuellen und akustischen, eines virtuellen Buches der Zukunft. Was mich wieder zum Ausgangspunkt meines Überblicks zurück und zugleich zu seinem Ende geführt hat.

[Wien, Alte Schmiede 5.7.1996; Stuttgart, Wilhelmspalais 9.10.1996]

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