Sogar schon im Lexikon
Die Stuttgarter Gruppe/Schule, um zunächst noch bei diesem
Doppelbegriff zu bleiben, ist keine Fata morgana, wie man vermuten möchte,
wenn man sich in Stuttgart nach ihr erkundigt und ohne Antwort bleibt.
Sie hat es sogar schon zu spärlichen lexikalischen Verzeichnungen
gebracht, zuletzt in dem 1996 erschienenen 3bändigen "Fischer Lexikon
Literatur" in der Abteilung "Philologie und literarisches Leben", wo
unter dem Stichwort "Dichterkreise/Koproduktionen" zu lesen ist:
"Experimentelle Dichtung bzw. visuelle und konkrete Poesie diskutieren
und produzieren in den fünfziger und sechziger Jahren die 'Stuttgarter
Gruppe' aus Schriftstellern und Typographen (Bense, Reinhard Döhl,
Ludwig Harig, Helmut Heißenbüttel), der internationale 'Darmstädter
Kreis' (Claus Bremer, Dieter Rot, Spoerri, Thomkins, Williams) und die
an Dadaismus/ Surrealismus anknüpfende, mit Methoden der Sprachphilosophie
und Kybernetik arbeitende 'Wiener Gruppe' (Achleitner, Hans Carl Artmann,
Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Oswald Wiener); zur Österreichischen
Literatur-Avantgarde zählt ferner der Grazer Kreis 'Forum Stadtpark'
(Wolfgang Bauer, Thomas Bernhard, Barbara Frischmuth, Peter Handke,
Ernst Jandl, Friederike Mayrökker)."
Ein solcher Artikel verstellt allerdings mehr als er erhellt.
Das beginnt mit den Namen, unter denen für Stuttgart die der Typografen,
Klaus Burkhardt und vor allem Hansjörg Mayer, fehlen. Ferner sind
Autoren falsch zugewiesen. Denn Ernst Jandl, der in Stuttgart entdeckt
wurde, muß, Friederike Mayröcker könnte auch der "Stuttgarter
Gruppe" zugerechnet werden. Thomas Bernhard hat weder mit dem "Forum
Stadtpark" zu tun noch ist er Autor experimenteller, geschweige denn
konkreter Poesie. Die für den "Darmstädter Kreis" vornamenlos
genannten Spoerri, Thomkins und Williams scheinen dem Lexikographen
wenig zu sagen, wird doch im Register Emmett Williams der Vorname Tennessy
beigelegt. Dadaismus, Kybernetik, Sprachphilosophie lassen sich zwar
als Grundlage und Anregung auch der "Wiener Gruppe" benennen, müßten
aber vorrangig erst einmal mit der Stuttgarter Gruppe/Schule in Verbindung
gebracht werden. Darüber hinaus fehlt ein Hinweis auf Wechselbeziehungen
zwischen den einzelnen Gruppen, z.B. darauf, daß es die "Manuskripte"
des "Forum Stadtpark" waren, die 1965 die "Stuttgarter Gruppe" umfassender
vorstellten, daß Bremer, Rot, André Thomkins und Emmet
Williams auch im Umfeld der "Stuttgarter Gruppe" eine Rolle spielten,
wie überhaupt die internationalen Verflechtungen speziell der "Stuttgarter
Gruppe" merkwürdig unerwähnt bleiben. Schließlich werden
wieder einmal die akustischen Leistungen konkreter Poesie, ihre Affinität
zur akustischen Kunst einfach ignoriert.
Dabei hätte sich der Verf. bereits in "Meyers Enzyklopädische[m]
Lexikon" (erschienen in den 70er Jahren) oder - ausführlicher -
in "Metzler[s] Literatur Lexikon" (seit 1984 in mehreren Auflagen) durchaus
schlauer machen können.
So ganz unbekannt ist nämlich die "Stuttgarter Gruppe/Schule"
nicht, vor allem, wenn man Artikel oder Erwähnungen in den Print
Medien auch außerhalb Deutschlands, in Japan zum Beispiel, der
Tschechoslowakei, heute Tschechien, in Brasilien, Frankreich, England
und anderen Orts hinzurechnet. Und wer Materialien sucht, von Publikationen
über Typoskripte, Partituren, bildkünstlerische oder grafische
Arbeiten bis zu einer intensiveren Korrespondenz, wird zwar nicht in
Marbach, wohl aber in der Bibliothek der Mushajino Art University in
Tokyo (im Nachlaß Seichii Niikuni), im Museum der tschechischen
Nationalliteratur in Prag (in der Sammlung Bohumila Grögerová/
Josef Hiršal), in der Bibliothek in Amiens (Sammlung Ilse und Pierre
Garnier) und anderen Orts fündig. Der Nachlaß Benses wird
hoffentlich doch noch nach Marbach finden, der Nachlaß Heißenbüttels
wahrscheinlich an die Berliner Akademie gehen. Was aus dem Material
wird, das sich bei mir angesammelt hat, steht in den Sternen.
Anfänge und Name
Ludwig Harig hat mehrfach die Stuttgarter der "Schule von Athen" verglichen
und sogar einige ihrer Mitglieder auf dem Bild Raffaels identifiziert.
Er hat für sich und Manfred Esser die Rolle des Namengebers und
Taufpaten reklamiert und auf seine Weise (zuletzt in "Im Geheimen ein
Spiel. Poesie und Mathematik" in der Bense-Festschrift "zeichen von
zeichen für zeichen", 1990) wiederholt, was Esser schon 20 Jahre
vorher in einem tagebuchähnlichen Essay, "Unter aller Kritik der
Kritik. Bense und die Linke in den Stuttgarter 60er Jahren", in Anspruch
genommen hatte:
"Bei den Tel-Quel-Leuten (Faye, Foucault, Sollers) und der italienischen
Gruppe 63 (Sanguinetti) setzen 63 mit Freudentränen Esser &
Harig den möglichen Index STUTTGARTER SCHULE an, ein, durch."
Ich sehe das etwas anders, und datiere die Anfänge der Stuttgarter
Konstellation wenn nicht mit den Umzügen Heißenbüttels
und Döhls nach Stuttgart, wo Bense seit 1950 wirkte, so spätestens
mit einem heftig umstrittenen Vortrag, "Zeitgenössische Literatur
in Deutschland", auf den "Morsbroicher Kunsttagen 1961" (Schloß
Morsbroich, 5.-7. Mai 1961), in dem es Bense um konkrete, vor allem
aber auch künstliche Poesie, also Computertexte ging. Das professorale
"wir" des Vortragenden, auch in der von Adorno geleiteten Diskussion
des nächsten Tages, erweckte bei den zuhörenden Künstlern,
nicht ganz zu Unrecht, den Eindruck eines Stuttgarter Gruppenunternehmens.
(Gelesen haben in Morsbroich übrigens neben Helmut Heißenbüttel
auch Bremer und Franz Mon, zu denen spätestens seit diesen "Kunsttagen"
von Stuttgart aus Kontakt gehalten wurde).
Chronologie
Wie immer dem sei: ein Streit um Prioritäten führt
- ähnlich wie seinerzeit die Diskussion um die Erfindung des Wortes
Dada - nicht weiter. Und so halte ich mich im Folgenden, philologisch
exakt, an die Quellen und rekapituliere
- daß Klaus Burkhardt 1962 einen "Unendlichen Calender" mit Texten
von Bense, Rühm, Elisabeth Borchers, Burkhardt, Döhl, Harig
und Esser druckte, bei dessen Vorstellung in Niedlichs Bücherdienst
Eggert, einem frühen Ort der Stuttgarter Aktivitäten, Esser
und Döhl einen kleinen, gemeinsam in Weinlaune geschriebenen Text
vorlasen, allerdings kein "Manifest der 60er Jahre", wie Esser später
in seinem tagebuchähnlichen Essay stilisieren wird.
- Ich rekapituliere weiter, daß eine "Ecole de Stuttgart" erstmals
am 29. Oktober 1963 auf der 3. Biennale im Musée d'Art Moderne
in Paris im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Art du langage", präsentiert
vom R.T.F. und der Domaine Poétique, auftrat mit "Poèmes
de Heissenbüttel, Reinhardt Döhl, Ludwig Harig" und einer
"Présentation de Manfred Esser". Soweit das Programmheft. Das
'Tagebuch' Essers nennt noch, und ich kann sie bestätigen, Texte
Max Benses und vermerkt, daß "Bazon Brock [...] sich, Kriwet und
Mon hinzu"getan habe. Ich erinnere mich ferner an einen Film Georg Benses
zu Bremers "der fisch fliegt steil" und daran, daß für die
Dauer der Veranstaltung von Burkhardt und Döhl überdruckte
Zeitungen, sogenannte "Use Papers", mit Stecknadeln an die Wände
des Vortragssaals geheftet waren. Eine Rezension der Lesung spricht
ebenfalls von "Ecole de Stuttgart".
- In März 1965 erscheint die sogenannte Stuttgart-Nummer der Grazer
"Zeitschrift für Literatur, Kunst, Kritik", "manuskripte", mit
einem Manifest von Bense und Döhl aus dem Jahre 1964, sowie Beiträgen
von Bense, Döhl, Harig, Heißenbüttel, Jandl, Mayer,
Mon, Bremer und anderen. Das Editorial erklärt eine Vorstellung
der "Stuttgarter Gruppe" für "notwendig" und erklärt "Die
Ecole Stuttgart" für "eine Erfindung der französischen Literaturkritik".
Dann weiter: "Was diese Gruppe" verbinde, sei "1. die Tradition einer
sogenannten experimentellen Kunst seit der Literaturrevolution und 2.
ein vergleichsweise ähnliches (theoretisches) Bewußtsein
den Materialien gegenüber, mit denen" man arbeite. Ansonsten gehe
"jeder seine[r] Wege" und verwirkliche "für sich seine ästhetischen
Vorstellungen und Absichten".
Bense und Döhl unterscheiden in ihrem Manifest als Tendenzen
aktueller Poesie:
"1. Buchstaben = Typenarrangement = Buchstaben-Bilder
2. Zeichen = grafisches Arrangement = Schriftbilder
3. serielle und permutationelle Realisation = metrische und
akustische Poesie
4. Klang = klangliches Arrangement = phonetische Poesie
5. stochastische und topologische Poesie
6. kybernetische und materiale Poesie."
"Allerdings", schränken sie ein, würden "diese Möglichkeiten
nicht in reiner Form verwirklicht. Wir ziehen die Poesie der Mischformen
vor. Ihre Kriterien sind Experiment und Theorie, Demonstration, Modell,
Muster, Spiel, Reduktion, Permutation, Iteration, [...] Störung
und Streuung, Serie und Struktur. Das Erzeugen ästhetischer Gebilde"
erfolge "nicht mehr aus Gefühlszwängen, [...] sondern auf
der Basis bewußter Theorien, intellektueller [...] Redlichkeit.
Zur Realisation ästhetischer Gebilde" bedürfe "es des Autors
und des Druckers und des Malers und des Musikers und des Übersetzers
und des Technikers und des Programmierers. Wir sprechen von einer materialen
Poesie oder Kunst. An Stelle des Dichter-Sehers, des Inhalts- und Stimmungsjongleurs"
sei "wieder der Handwerker getreten, der die Materialien" handhabe,
"der die materialen Prozesse in Gang" setze "und in Gang" halte. "Der
Künstler heute" realisiere "Zustände auf der Basis von bewußter
Theorie und bewußtem Experiment.
Wir sprechen von einer experimentellen Poesie, insofern ihre
jeweiligen singulären Realisationen ästhetische Verifikationen
oder Falsifikationen bedeuten. Wir sprechen wieder von einer Poietike
techne. Wir sprechen noch einmal von einer progressiven Ästhetik
bzw. Poetik, deren bewußte Anwendung ein Fortschreiten der Literatur
demonstriert, wie es schon immer den Fortschritt der Wissenschaft gab."
- Im Juli 1965 veröffentlicht Jacques Legrand in der Revue "Critique"
einen Essai "Max Bense et le Groupe de Stuttgart", in dem er die ästhetischen
Theorien Benses und, in ihrem Zusammenhang, stochastische Texte sowie
die letztjährigen Veröffentlichungen Benses, Harigs, Heißenbüttels
und Döhls diskutiert. Dabei spannt Legrand über Mon den Bogen
auch zu der von Pierre Garnier herausgegebenen Zeitschrift "Les Lettres",
in deren Nr. 31, 1963, unter dem "Plan pilote fondant le Spatialisme"
unter anderen auch die Namen Bense, Döhl, Harig, Jandl und Mon
gestanden hatten. Was insofern erwähnenswert ist, als das Manifest
"Zur Lage" wesentlich durch diesen "Plan pilote [...]" provoziert wurde.
[Daß eine "Groupe de Stuttgart" im literarischen Bewußtsein
Frankreichs eine bereits fixe Größe war, belegt 1969 das
6. Heft der "Revue" "Manteia", das sich fast zur Hälfte mit Texten
von Bense, Heissenbüttel, Mon, Jürgen Beker, Harig und Döhl
füllt, mit Ausnahme Heißenbüttels, der von Charles Grivel
übersetzt wurde, übersetzt von Legrand.]
- In der Chronologie wäre als nächstes das von den Editionen
Hansjörg Mayer und Domberger herausgegebene ausschließlich
Stuttgarter Mappenwerk "16 4 66" zu nennen, mit Texten von Bense, Döhl,
Heißenbüttel, Yüksel Pazarkaya, mit Typografik von Burkhardt
und Mayer, Computergrafik von Frieder Nake, einer grafischen Partitur
von Erhard Karkoschka, sowie mit Siebdrucken von Siegfried Cremer, Günther
C. Kirchberger und Diter Rot.
- Die Tage für "neue literatur in hof" 1966-1970, die von Claus
Henneberg (z.T. in Zusammenarbeit mit Döhl) organisiert werden,
sind vor allem der experimentellen Literatur der Stuttgarter Gruppe
verpflichtet, deren Mitglieder, mit Ausnahme Benses, vollständig
und z.T. mehrfach dort gelesen, diskutiert, literarisches Kabarett gemacht
und auch ausgestellt haben - in der Begegnung mit experimentellen Autoren
und Künstlern vor allem aus der Tschechoslowakei und Österreich,
deren Namen sich früher oder später gleichfalls in den Programmen
von Stuttgarter Veranstaltungen wiederfinden. (Zu den Hofer Veranstaltungen
im einzelnen vgl. die Zusammenstellung im Programmheft 1970).
- Am 21. November 1967 kommt es schließlich im Rahmen der Stuttgarter
Buchwochen im Landesgewerbemuseum zu einer inzwischen legendär
gewordenen, 1994 noch einmal rekonstruierten Mammutlesung mit Beiträgen
von Döhl, Eugen Gomringer, Harig, Heißenbüttel, Jandl,
Kriwet (via Tonband), Mon, Rot, Rühm, Konrad Balder Schäuffelen
und Wolfgang Schmidt, der Bense eine Einführung über "Engagement
und Experiment" vorausschickte, aus deren Schluß ich zitiere:
"Auch ist es klar, daß zwischen den extremen Fällen,
zwischen Experiment und Engagement, alle Grade des Scheiterns und des
Vergeblichen einkalkuliert werden müssen. Der Sinn für das
Unvollkommene gehört ohnedies zur Realität des Schöpferischen
und das Vollkommene wird dem Spleen der Theologen überlassen. Daß
das Meisterwerk heute unmittelbar am Tinnef, am Kitsch entstehen kann
und das Subtile ins Triviale eingebettet wird, gehört zur feineren
Dialektik der artistischen Züge dieser Literatur. [..]
Im Ganzen [...] also dem 'Prinzip Forschung' stärker verhaftet
als dem 'Prinzip Hoffnung', dem Globalen stärker als dem Regionalen,
dem Urbanistischen stärker als dem Idyllischen, dem Zynischen stärker
als dem Melancholischen, der Variante stärker als dem Typischen
und der Provokation stärker als der Saturierung - bleibt das schreibende
Wesen ein einzelnes und denkendes Wesen - das zwar gesellschaftlich
agiert, aber individuell entscheidet, und mir scheint, daß genau
dies in jedem Falle zur realen Signatur der Humanität dieser technischen
Zivilisation gehört, die zweifellos nicht mehr rückgängig
gemacht werden kann."
Zwei Jahre später, aber das gehört fast schon zum Abgesang
der, im Verständnis Lawrence Alloways, "heroischen Phase" einer
Stuttgarter Gruppe, gibt es auf dem Stuttgarter Kirchentag - "Kirchentägliches
mit Wittgenstein" überschrieb es eine Stuttgarter Zeitung - einen
weiteren gemeinsamen Stuttgarter Auftritt, diesmal von Esser, Heißenbüttel,
Harig, Mader und Döhl.
Bereits zur Bestandaufnahme rechne ich
- 1. die von Cremer, Mayer und Döhl für die Goethe-Institute
in Barcelona, Madrid und Bilbao zusammengestellte Ausstellung mit Katalog,
"texto lettras imagines", 1967/68, mit Beiträgen von Bremer, Burkhardt,
Cremer, Döhl, Kirchberger, Kriwet, Mayer,
- 2. die von "Freunden und Schülern" reich bestückte "anthologie
für max bense" aus dem Jahre 1970, "muster möglicher welten",
deren zahlreiche Beiträger ich hier nicht auflisten kann, und
- 3. den Beitrag der "Stuttgarter Gruppe" zur großen Amsterdamer
Wanderausstellung "akustische texte / ?konkrete poesie / visuelle texte",
an deren Aufbau Mayer und Döhl wesentlich beteiligt waren.
- 1971 macht diese Ausstellung auch in Stuttgart Station, mit visuellen
Arbeiten von (in der Reihenfolge des Katalogs) Bense, Burkhardt, Döhl,
Heißenbüttel, Mayer, Harig, Kriwet, Mon, Schäuffelen,
Schmidt und Tim Ulrichs. Die Sonderveranstaltungen in Stuttgart umfassen
die "Eröffnung mit Einführung von Max Bense und Lesung von
Eugen Gomringer" (24.3.), eine Lesung von Pierre Garnier, Heißenbüttel,
Jandl und Mayröcker (27.3.), "Texte und Kommentare" von Bremer,
Döhl, Heinz Gappmayr, Thomkins (7.4.) und von Döhl das Referat
"Konkrete Literatur und Engagement", mit anschließendem Podiumsgespräch
und Diskussion (28.4.).
- Als letzte Bestandaufnahme wäre schließlich noch zu nennen
die in der Staatsgalerie Stuttgart 1992 unter Mitarbeit von Ulrike Gauss,
von Arnulf M. Wynen und Cremer zusammengestellte Wanderausstellung "Grenzgebiete
der bildenden Kunst", die noch einmal in den von Döhl, Herbert
W. Franke und Karkoschka verantworteten Ausstellungsteilen "Bild Text
Textbilder", "Computerkunst" und "Musikalische Graphik" auch auf die
Rolle Stuttgarts in der Literatur, Kunst und Musik der 60er Jahre verweist.
Ende oder Zäsur
Ein der "konkreten poesie" im Amsterdamer Katalog vorangestelltes Fragezeichen
wollte andeuten, daß wir damals die Phase einer konkreten Poesie
im engeren Sinne für abgeschlossen, ihre Möglichkeiten für
erschöpft hielten. Entsprechend hatten Felix Andreas Bauman und
Döhl für eine vergleichbar umfangreiche Zürcher Ausstellung
1970 den Terminus "konkret" ganz vermieden und - analog zu "texto lettras
imagines" - von "text buchstabe bild" gesprochen, hatte Heißenbüttel,
ebenfalls 1970, in seinen "Anmerkungen zur konkreten Poesie" notiert,
daß dort, wo sie sich "zu speziellen Einzelmethoden, Einzeltechniken,
Einzelrichtungen" verengt habe, die konkrete Poesie historisch abgeschlossen,
überschaubar, museal erscheine. Im "größtmöglichen
Miteinander von Methoden" jedoch, durchlässig an den Rändern,
könne sie "nicht nur [...] neue" literarische "Sprechweise", "sondern
ebenso [...] eine neue Weise" sein, "sich sprachlich in dieser Welt
zu orientieren". Nichts anderes aber hatten schon Bense und Döhl
gemeint, als sie 1964 zwar nicht von einem "größtmöglichen
Miteinander von Methoden", wohl aber von einer Bevorzugung der "Mischformen"
sprachen.
Daß der Anfang der 70er Jahre in der Geschichte der Stuttgarter
Gruppe so etwas wie eine Zäsur markiert, ist schon äußerlich
leicht zu zeigen. Hansjörg Mayer schließt seine Galerie,
wendet sich in seiner Edition, nach der Herausgabe der "Gesammelten
Werke" Rots, ethnologischen Themen zu und verläßt Stuttgart
Richtung London. Bense konzentriert sich, zusammen mit Elisabeth Walther,
primär auf seine semiotischen Forschungen. Von Burkhardt ist nurmehr
wenig zu sehen. Döhl zieht sich aus dem Kulturleben zeitweilig
völlig zurück und produziert ausschließlich für
die "black box". Heißenbüttel wechselt nach den "Textbüchern"
über die "Projekte" zu "einfachen Geschichten" und "Erzählungen"
und verläßt, mit seiner Pensionierung 1981, Stuttgart Richtung
Norden.
Wenn er allerdings seine "einfachen Geschichten" und "Erzählungen",
die alles andere als traditonelle Erzählprosa sind, jetzt wieder
als "Textbücher" ausweist, bekennt er sich gleichzeitig zu einer
Tradition, von der sich Harig immer weiter entfernt, um am 14. April
1995 in der Rezension: "Eine Legende lebt. Max Benses Reihe 'rot' und
die ewige Jugend des Experiments", zu thematisieren, was seine (anekdotenreiche)
autobiographische Prosa als Kurswechsel längst vollzogen hatte.
"Ich möchte meine experimentellen Lehrjahre der Stuttgarter Schule
nicht missen. Ohne Max Benses Einflüsse wäre mein heutiges
Erzählen nicht möglich. Und doch: so frisch und unverbraucht
mir die Nachfolge Benses erscheint, weder die Rüstigkeit junggebliebener
Schlachtrösser noch die Streitlust herangewachsener Laboranten
vermag beim kalkulierten Ringen mit der Tücke der Sprache das Kernproblem
des Experimentellen zu lösen. Das Problem liegt nämlich in
der Sache selbst. Die Provokation experimenteller Literatur ist zugleich
das, was an ihr unbeteiligt läßt. In den gelungenen Texten
versteht es der Autor zwar - über die reine Demonstration des Sprachmaterials
hinaus - sowohl menschliche Verhaltensweisen als auch gesell-schaftliche
Zustände in methodisch angeordneten Wortgestiku-lationen vorzuführen
(Beispiel: Heißenbüttels, Gomringers, Franz Mons Konstellationen,
Jandls Sprechakte, Benses Wort-bilder): Doch die noch so meisterhafte
Demonstrationskunst in Sprache hält dem Alterungsprozeß nicht
stand. Sprache, an menschliche Aussage, menschlichen Ausdruck, menschlichen
Austausch gebunden, mit Mitteilungsvermögen und phantasievoller
Verwandlungskraft ausgestattet, drängt nach Geschichten, die sie
zu erzählen imstande ist. Techniken, aus artifiziellen Prinzipien
entwickelt, riskieren Abnutzung, ja Verschleiß des Mechanischen
und altern rascher als Techniken des Erzählens, die mit natürlichen
Zeit- und Perspektivewechsel operieren. Der Mensch ist eben kein beschriebenes,
sondern ein erzähltes Wesen; indem von ihm erzählt wird, konstituiert
es sich als gesellschaftliches Geschöpf. Nur der erzählte
Mensch altert nicht."
Diesem (Selbst)Verständnis, nach dem es in den 60er Jahren zwar
eine experimentelle Literatur mit durchaus überzeugenden Ergebnissen
gegeben habe, gegen deren schnelles Altern aber nur ein Kraut, nämlich
das des Erzählens, gewachsen sei, wäre erstens die seit den
70er Jahren entstandene Literatur Heißenbüttels, Mons und
Jandls leicht entgegenzuhalten, was ich im Rahmen eines Kurzreferats
nicht leisten kann. Zweitens wäre zu fragen, wieweit Harig die
Hauptanliegen der Stuttgarter Gruppe/Schule überhaupt verstanden
bzw. sich zu eigen gemacht hatte, wenn er sie ausschließlich auf
einen überdies zu eng gefaßten Experimentbegriff festlegt.
Gruppe versus Schule
Bevor ich diese Frage zu beantworten, und damit einen Überblick
über die Stuttgarter Interessen versuche, muß ich noch einmal
zum Etikett zurückkehren. Harigs Rezension in der "ZEIT" spricht
immer noch von "Stuttgarter Schule". Und in der Tat hat sich ein Nebeneinander
der beiden Begriffe Schule und Gruppe bis heute gehalten, obwohl bereits
1965 sowohl die "manuskripte" wie Legrand in seinem Essai eindeutig
für "Gruppe" votiert hatten und wir uns seit den 80er Jahren, in
denen auch Bense und Döhl wieder begannen, literarische Texte zu
publizieren und auszustellen, wiederholt um eine begriffliche Trennung
bemühten, so im Juli 1986 in einem Interview, das die Literaturzeitschrift
"Flugasche" "'Stuttgarter Gruppe' - nicht 'Schule'" überschrieben
hat. Harry Walter hat 1994 in dem Bense gewidmeten Marbacher "Spuren"-Heft
mir "den Vorschlag" zugeschrieben, "den strengen Begriff der Schule
ausschließlich für die an Benses Stuttgarter Institut oder
die im Geiste dieses Instituts geleistete wissenschaftliche Arbeit"
zu verwenden, die "mit Bense sympatisierenden und ihm in vielerlei und
kaum spezifizierbarer Hinsicht verpflichteten Intellektuellen, Schriftsteller,
Künstler" dagegen unter Stuttgarter Gruppe zu subsumieren. Das
ist so nicht korrekt. Erstens gab es zu dieser Frage durchaus noch Gespräche
mit Bense, der allerdings, jeder Etikettierung abhold, gelegentlich
die Existenz einer Stuttgarter Gruppe/Schule rundheraus abstreiten wollte.
Zweitens haben Elisabeth Walther und ich uns 1991 anläßlich
einer gemeinsamen Eröffnung der Bense-Ausstellung bei Buch Julius
geeinigt, daß zwar im Umfeld Benses zur Produktion von literatur
oder Kunst in gleichem Maße die Rede über Literatur und Kunst
gehört habe, beides nicht immer leicht zu trennen sei, daß
aber dennoch getrennt werden solle zwischen "Stuttgarter Schule", worunter
wir künftig jene Mitarbeiter rechnen wollten, die im Sinne exakter
Ästhetik oder Semiotik geforscht und geschrieben haben und schreiben,
und "Stuttgarter Gruppe", der dann die der Zeitschrift "augenblick",
der Publikationsfolge "rot", der Studiengalerie oder sonst Bense verbundenen
Künstler zuzurechnen seien, was Autoren, bildende Künstler,
Komponisten, aber auch Übersetzer und Interpreten einschließen
sollte.
Vom Umfang der Gruppe
Definiert man anhand der gegebenen Chronologie und im Verständnis
der Soziologie die Stuttgarter Gruppe als eine offene, fluktuierende
Gruppe, müßte man zwischen einem engeren und einem weiteren
Kreis unterscheiden. Den engeren Kreis hätten danach die in Stuttgart
lebenden Bense, Heißenbüttel und Döhl gebildet, ergänzt
um die Typographen Klaus Burkhardt und vor allem Hansjörg Mayer.
Zu diesem engeren Kreis wären ferner wegen Ihrer Publikationen
im "augenblick" und der seit 1960 von Bense und Elisabeth Walther herausgegebenen
Reihe "rot", sowie auf Grund engerer persönlicher Beziehungen zu
mindest einem der Genannten, die Nichtstuttgarter Ludwig Harig, Franz
Mon und Ernst Jandl zu zählen.
Hinzu kämen Esser, Helmut Mader und Kiwus, die aber im SKKB [=
Sozialistisch-Katholischen Künstlerbund] durchaus eigene Interessen
vertraten und dergestalt so etwas wie einen Satelliten zu dem eigentlichen
Kern bildeten.
Fast schon zur zweiten Generation zu zählen wären die Benseschülerin
Friederike Rot und wohl auch noch Jens-Peter Mardersteig.
Alle anderen in der Chronologie genannten Autoren und Künstler
würde ich, bei unterschiedlich engen Verbindungen, Annäherungen
und Entfernungen, dem Umfeld der Stuttgarter Gruppe zuschlagen.
Bei der grundsätzlichen Offenheit des Stuttgarter Gruppenunternehmens
wenig überraschend sind zeitlich beschränkte aber auch langfristigere
Verbindungen mit anderen Gruppierungen. Das wäre ganz zunächst,
über die Verbindung Benses mit der Hochschule für Gestaltung
in Ulm, der Kontakt zu der brasilianischen Noigandres-Gruppe, und hier
insbesondere zu Haroldo de Campos. Ferner zu Pierre Garnier und der
Zeitschrift "Les Lettres", zu tschechoslowakischen, vor allem Prager
Experimentalkünstlern und -autoren wie Bohumila Grögerová,
Josef Hiršal, Jiri Kolar und Ladislav Novák. Entsprechend finden
sich im Register zu Grögerova/Hiršals Erinnerungen "Let Let. Im
Flug der Jahre" für Bense 27, für Döhl 28, für Heißenbüttel
36, für Jandl 33, für Mayer und Mon je 11 und für Burkhardt
und Harig noch je 5 Nennungen.
Engere Beziehungen bestanden auch zum "Forum Stadtpark" in Graz, bestehen
seit den frühen 60er Jahren zu Japan, zunächst zur Asa-Gruppe,
mit der zusammen in den 60er Jahren mehrfach ausgestellt wurde, später
zur Shi-Shi-Gruppe sowie zum Künstlerkreis um Shutaro Mukai, der
andererseits zum wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift "Semiosis"
gehört. Des weiteren gab bzw. gibt es Beziehungen zu den türkischen
Autoren Özdemir Nutku und Pazarkaya, wobei man letzteren zum weiteren
Kreis der Stuttgarter Gruppe rechnen muß, nach Mexiko, den USA,
Dänemark, Schweden und anderes mehr.
Außer Autoren (die als Doppelbegabungen häufiger auch in
einem bildkünstlerischen Kontakt zu Stuttgart standen oder noch
stehen) sind aber auch eine Reihe bildender Künstler wenigstens
peripher der Stuttgarter Gruppe zuzurechnen, darunter die Vertreter
der inzwischen legendären "Gruppe 11", dem Alphabet nach Atila
(Biro), den Bense und Döhl (aber auch Garnier) wiederholt eröffnet,
zu dem sie publiziert haben; Georg Karl Pfahler, den Bense und Döhl
eröffnet, zu dem Bense und Döhl publiziert, mit dem Bense
und Döhl auch künstlerisch zusammengearbeitet haben; Günther
C. Kirchberger, über dessen Oeuvre Heißenbüttel und
Döhl gesprochen und publiziert, mit dem Döhl (und dann auch
Hansjörg Mayer) in den 60er Jahre sehr intensiv zusammengearbeitet
haben, und schließlich Friedrich Sieber, über den ausschließlich
Döhl geschrieben und gesprochen hat. Außer der "Gruppe 11"
vor allem genannt werden muß ferner Reinhold Köhler, den
Bense, Heißenbüttel und Döhl z.T. mehrfach eröffnet,
über den Bense und Heißenbüttel geschrieben, mit dem
Bense und Heißenbüttel publiziert haben. Genannt werden müßten
aber auch eine Reihe brasilianischer, nicht nur konkreter Künstler.
Allein die Ausstellungen der von Bense eingerichteten Studiengalerie
wären ein eigenes Kapitel wert. Ich nenne aber nur noch Werner
Schreib, der zwar mit der von ihm und Lucio Lattanzi proklamierten "Semantischen
Malerei" bei Bense auf kein Verständnis stieß, dennoch aber
Stuttgart bis zu seinem Unfalltod 1969 freundschaftlich verbunden blieb
und in einer hinterlassenen "Roman-Assemblage", "Das Tribunal", Bense
sogar das letzte Wort behalten ließ.
Etwas spärlicher fällt der Bereich Musik aus. Doch gibt es
auch hier Wechselbezüge zur "Schola cantorum" z.B. unter Clythus
Gottwald, die unter anderem Benses Collage "Rosenschuttplatz" und Döhls
"man" realisierte, zum "Trio Ex Voco", zu Peter Hoch, der ein "portrait
m.b." komponierte und Harig 'vertonte', zu dem Komponisten Friedhelm
Döhl oder dem Cellisten Johannes Zagrosek. Auch wäre einmal
darauf aufmerksam zu machen, daß die visuellen Hervorbringungen
der Stuttgarter Gruppe durchaus Partiturcharakter haben können
oder ausdrücklich als "Partituren" ausgewiesen sind.
Von Orten und Örtern
Was meine Hinweise auf die Tage für "neue literatur in hof"
wie allgemein auf das Bekanntsein der Stuttgarter Gruppe außerhalb
Stuttgarts und Deutschlands andeuteten wollten, läßt sich
konkretisieren, wenn man einmal nach den Orten und Örtern fragt,
die mit einzelnen oder mehreren Künstlern der Stuttgarter Gruppe
in Verbindung gebracht werden müssen.
Für Bense allenfalls der Ort seiner Füße, hat
Stuttgart z.B. in den "Textbüchern" Heißenbüttels, im
"Stuttgart Prospekt" Döhls durchaus deutlichere, wenn auch für
die Werbung kaum geeignete Spuren hinterlassen.
Wichtiger jedoch sind andere Orte, so im Falle Benses die Hochschule
für Gestaltung in Ulm, an der er zeitweilig lehrte, ein Ort der
Begegnung mit Max Bill, mit Gomringer, der ersten Begegnung mit den
Brasilianern, mit Shutaro Mukai, ferner Claus Bremer oder Paul Pörtner,
der hier in einem elektronischen Studio auch für Stuttgart anregende
Hörspielexperimente veranstaltete. Nicht unwichtig waren ferner
die Ausstellungen im "studio f", in denen Kunst gezeigt wurde, die es
in Stuttgart (so noch) nicht zu sehen gab, was allemal eine Reise nach
Ulm wert war.
Genannt werden muß ferner Hamburg, wo Bense an der Hochschule
für bildende Künste 1958 bis 1960 und 1966 bis 1976 zweimal
eine Gastprofessur für Ästhetik inne hatte. Heißenbüttel
war nach seinem Studium beim Hamburger Claassen-Verlag Lektor, bis er
1957 beim Süddeutschen Rundfunk zunächst eine Regieaussistenz
übernahm und 1959 Leiter des Radio-Essays wurde, ohne seine Beziehungen
zu Hamburg je ganz aufzugeben. Döhls künstlerische Anfänge
datieren 1954/1955 in Hamburg mit Fotografie und dem vergeblichen Versuch,
auf Grund dieser Fotos zum Studium an der Hamburger Kunstakademie zugelassen
zu werden. Auch in seinem Fall sind die Verbindungen zu Hamburg (vor
allem dem Norddeutschen Rundfunk) nie ganz abgerissen. Hamburger Künstler,
z.B. Arnim Sandig oder Paul Wunderlich, haben nicht nur in Stuttgart
oder Hof ausgestellt, es ist über sie oder mit ihnen auch publiziert
worden. Im Falle Sandigs z.B. von Heißenbüttel, Bense, Döhl.
Straßburg, der Geburtsort Benses war auch der Geburtsort
Arps, über den Döhl promovierte.
Das Rheinland, in dem Bense von 1920 bis 1938 lebte, zur Schule
ging, studierte und erstmals 1928 auch schriftstellerisch tätig
wurde, bekommt im "Entwurf einer Rheinlandschaft" (1962) seine poetische
Topografie.
Fast schon zentral ist die Verbindung mit Paris, der "alten Dame
mit Hut", um Bense zu zitieren, die in dem von Bense 1952 begründeten
Arbeitskreis "Geistiges Frankreich" des Studium Generale der TH Stuttgart
(ebenfalls einer Gründung Benses) und in den 60er Jahren fast allgegenwärtig
war. Ich nenne hier nur die Namen Gertrude Stein, Stéphane Mallarmé,
Francis Ponge, Raymond Queneau, Jean Genet, Jean Paul Sartre, Nathalie
Sarraute, ich nenne das Collegium Pataphysicum, das Studio bzw. den
Club d'Essai, den Verlag Gallimard. Paris war, anekdotisch, der Ort,
an dem sich Bense und Döhl erstmals verabredeten aber verpaßten,
der Ort Barbaras, des ersten gemeinsamen Auftretens der "Ecole de Stuttgart".
In Paris wohnten Ilse und Pierre Garnier und andere Freunde, und ganz
in der Nähe, in Meudon, arbeitete Arp.
Gringnan in der Provence war nicht nur ein Fluchtpunkt Benses
sondern auch der Ort zufälliger Begegnungen, wie sich sehr schön
den rot-Nummern 60 (Bense: "Grignan 1. Grignan 2. Beschreibung einer
Landschaft") und 61 (Pierre Garnier: "Treffen in Grignan") ablesen läßt.
Wichtig vor allem für die Geschichte der Stuttgarter Schule
sind die insgesamt 12 USA-Reisen Benses seit 1969, nicht nur für
die Stuttgarter Schule sondern auch Gruppe die vier Brasilienreisen
Benses (1961-1964), in deren Folge eine Reihe brasilianischer Schriftsteller,
Künstler und Architekten nach Stuttgart kamen mit Auswirkungen
bis nach Prag.
Ich habe die wichtige Beziehungen zu Prag bereits quantitativ
angedeutet und ergänze inhaltlich dahingehend, daß in den
60er und dann wieder in den 90er Jahren Prager Autoren und Künstler
in Stuttgart gelesen, Vorträge gehalten und ausgestellt haben wie
vice versa Stuttgarter Autoren und Künstler in Prag Vorträge
hielten, lasen, Rundfunkinterviews gaben und ausstellten. Noch vor seiner
westdeutschen Uraufführung wurde 1969/1970 ein Stück Döhls
zunächst im tschechischen Rundfunk gesendet, dann auch szenisch
realisiert. Und sicherlich nicht zum letzten Mal wurde die Verbindung
Prag-Stuttgart dokumentiert in der diesjährigen Ausstellung "Básen
obraz gesto zvuk. Experimentální poezie 60. let" (= Dichtung
Bild Ausdruck Klang. Experimentelle Poesie der 60er Jahre) des Museums
für Tschechische Literatur mit auch Stuttgarter Exponaten ebenso
wie im Katalog, wo einer "Stuttgartská skola" - in der Reihenfolge
des Katalogtextes - Heißenbüttel, Döhl, Harig, Mon,
Schäuffelen, Schmidt, Koehler, Kirchberger, Burkhardt, Mayer, Bense,
Elisabeth Walther und aaO auch Jandl zugeschlagen werden, vor allem
aber auf ihre internationalen Beziehungen zur Tschechischen Republik,
zu Frankreich, Brasilien und Japan abgestellt wird.
Auch die Stuttgarter Beziehungen zu Japan, das Bense und Döhl
auf Vortragsreisen von Tokyo bis Kagoshima mehrfach durchquerten, haben
bis heute Bestand in Form von Einzel- und Gruppenausstellungen, von
Übersetzungen, Aufsätzen und gemeinschaftlichen poetischen
Experimenten in der Tradition der japanischen Renga/Renku/Renshi.
Die Hervorbringungen
Zu den Leistungen der Stuttgarter Gruppe zählt, immer wieder
genannt aber in ihrem Umfang und ihren Ausformungen nicht recht erfaßt,
erstens die konkrete Poesie, nicht nur in ihrer vor allem bekannten
visuellen Spielformen, über die hier zu reden, bedeuten würde,
Äpfel nach Stuttgart zu tragen, sondern auch (siehe Benses Rosenschuttplatz,
Döhls man oder Heißenbüttels Projekt Nr. 2) in den akustischen
Spielmöglichkeiten. Eine umfassende Dokumentation des Studios für
akustische Kunst des Westdeutschen Rundfunks nennt 1997 im internationalen
Kontext zentrale Arbeiten Benses, Döhls, Heißenbüttels,
Jandls und Mons. Wobei hier die Grenze zum Hörspiel fließend
wird. Immerhin haben die genannten Autoren zusammen mit Harig zur Geschichte
des "Neuen Hörspiels" seit Ende der 60er Jahren mit über 50
gesendeten Hörspielen nicht unwesentlich beigetragen.
Das Interesse an konkreter Poesie zeigt sich jedoch nicht nur
in den visuellen und akustischen Hervorbringungen, es spiegelt sich
in gleichem Maße in einer intensiven Ausstellungstätigkeit.
Eine von Bense veranstaltete Ausstellung im Wintersemester 1959/1960,
zu der sogar ein Fernsehbericht des Süddeutschen Rundfunks gesendet
wurde, war die weltweit wohl erste ihrer Art, der weitere bis zu den
großen Zürcher und Amsterdamer Abgesängen folgten. Sie
und die von der Something Else-Press und der Edition Hansjörg Mayer
1967 gemeinsam verlegte, von Emmett Williams herausgegebene "Anthology
of Concrete Poetry" haben die Rolle Stuttgarts für die konkrete
Poesie ebenso festgeschrieben wie die hier einschlägigen zahlreichen
Vorträge und Aufsätze Benses, ich nenne stellvertretend "Konkrete
Poesie" von 1965, Heißenbüttels ("Anmerkungen zur konkreten
Poesie", 1970) und Döhls ("Konkrete Literatur", 1971).
Eine weitere zentrale Leistung der Stuttgarter Gruppe, vor allem
aber Benses war, in Verbindung mit hier zuständigen Programmierern,
die Beförderung einer "unpersönlichen", von Bense sogenannten
"künstlichen Poesie", also von mit Hilfe von Großrechenanlagen
hergestellten "Stochastischen Texten" seit 1959, erstmals veröffentlicht
im "augenblick", aber auch von computergenerierter Grafik, erstmals
ausgestellt und heftig diskutiert im Januar 1965 in der Studiengalerie.
Eine dritte Leistung der Stuttgarter Gruppe sind die intendierten
Mischformen bis Grenzverwischungen, wobei die Collage vielleicht das
Bindungsglied bilden könnte zwischen Literatur und bildender Kunst.
Das Interesse an den Collagen der Cubisten, an Kolar, der, ursprünglich
Autor, den Versuch unternahm, die Literatur im Medium der Collage fortzuschreiben,
wäre hier ebenso zu erinnern wie das Engagement für die Décollagen,
Contrecollagen und Décollages imprimés Köhlers wie
die Collagenproduktion Mons oder Döhls wie die reinen Textcollagen
Benses, Harigs, Heißenbüttels, Döhls u.a.m.
Signifikant für die Stuttgarter Gruppe war ferner, Benses
Einführung über "Engamement und Experiment" deutete dies bereits
an, eine Verbindung von Experiment und Tendenz. Benses "augenblick",
zunächst als "Zeitschrift für aktuelle Philosophie, Ästhetik
und Polemik" begründet, firmierte seit 1958 im Zweittitel als Zeitschrift
für "Tendenz und Experiment". Und es gibt unter den Veröffentlichungen
der Stuttgarter Gruppe genügend Belege tendenziös-experimenteller
Literatur, Döhls "missa profana", für die Bense ein apologetisches
Gutachten schrieb, Benses Traktat "Ein Geräusch in der Straße",
Harigs "Staatsbegräbnis", Heißenbüttels "Deutschland
1944" und andere Texte, die alle mehr oder weniger Ärgernis erregten.
Mit der dialektischen Pointe, daß in einer Zeit, in der die regierende
CDU die Parole "Keine Experimente" ausgegeben hatte, jedes Experiment
bereits Opposition war. Selbst vordergründig nur experimentelle
Texte konnten durchaus tendenziöses Potential entfalten, wie beispielsweise
die tschechische Reaktion auf Heißenbüttels "Politische Grammatik"
belegt.
Übrigens ließe sich hier ein trefflicher, der Stuttgarter
Gruppe allerdings nur aus der Ferne verbundener Kronzeuge aufrufen,
Günter Eich nämlich, der schon bevor er sich mit seinen späten
Hörspielen und den "Maulwürfen" dem unsinnigen Experiment
verschrieb, 1959 erklärt hatte:
"Wir wissen, daß die Macht daran interessiert ist, daß
alle Kunst die Grenze der Harmlosigkeit nicht überschreitet. Macht
widerstrebt der Qualität. Sprache, die über die gelenkte,
die von ihr genehmigte, hinausgeht, ist nicht erwünscht. Ihr bloßes
Vorhandensein stellt eine Kritik dar, etwas, was der Lenkung und damit
der Macht selbst widerspricht.
Sprache, damit ist auch die esoterische, die experimentierende,
die radikale Sprache gemeint. Je heftiger sie der Sprachregelung widerspricht,
um so mehr ist sie bewahrend. Nicht zufällig wird sie von der Macht
mit besonderem Zorn verfolgt. Nicht, weil der genehme Inhalt fehlt,
sondern weil es nicht möglich ist, ihn hineinzupraktizieren. Weil
da etwas entsteht, das nicht für die Macht einzusetzen ist. Es
sind nicht die Inhalte, es ist die Sprache, die gegen die Macht wirkt.
Die Partnerschaft der Sprache kann stärker sein als die Gegnerschaft
der Meinung."
Nicht von ungefähr trifft man Eich dann auch unter den Autoren
der Tage für "neue literatur in hof" wieder, wo er 1966 seine ersten,
damals noch unveröffentlichten anarchistischen "Maulwürfe"
(darunter "Kulka", "Hilpert" und das "In das endgültige Manuskript
nicht aufgenommenes Bruchstück einer Memoire") vorstellte.
Tradition
Ich habe bereits das Interesse der Stuttgarter Gruppe an der
Tradition experimenteller Kunst im 20. Jahrhundert zitiert und möchte
hier lediglich noch ein paar Namen nennen bzw. wiederholen, zunächst
und als erste Gertrude Stein und ihr Werk, an dessen theoretischer und
praktischer Rezeption in der Bundesrepublik außer Heißenbüttel,
der mit seinem Aufsatz "Reduzierte Sprache. Über ein Stück
von Gertrude Stein" 1955 im "augenblick" den Anstoß gab, vor allem
Bense, Elisabeth Walter und auch Döhl beteiligt waren. Über
Gertrude Stein einerseits, Picasso und Braque andererseits geriet auch
der analytische und synthetische Cubismus ins Blickfeld, über den
ebenso publiziert wurde wie über den Dadaismus, hier vor allem
über Arp und Schwitters. Aber auch Stéphane Mallarmé,
James Joyce, oder Gottfried Benn, mit dem Bense bereits in den 30er
Jahren korrespondierte, spielten in den Stuttgarter Diskussionen eine
Rolle wie aktuell Raymond Queneau, den Harig und Eugen Helmlé
übersetzten, die Experimente aus den Werkstätten der potentiellen
Literatur (OULIPO), die Noveau Romanciers (Nathalie Sarraute), George
Perec, Jean Genet oder die "cut ups" der "beat generation", wobei es
uns eine diebische Freude bereitete, daß eines Tages in der "ZEIT"
die "missa profana" Allen Ginsberg zugeschrieben wurde.
Individualwerk und Coproduktion
Es ist relativ leicht, bei Musterung der einzelnen Werkkomplexe
das je Individuelle der Autoren und Künstler der Stuttgarter Gruppe
herauszufinden. Eine Gruppenstil hat es nie gegeben, wohl aber gemeinsame
Interessen. Und die konnten sich durchaus in wechselseitigem Zitieren,
in Gemeinschaftsarbeiten niederschlagen. Ich nenne noch einmal das Manifest
von Bense/ Döhl. Bense und Harig ("Der Monolog des Terry Jo"),
Beker, Döhl und Harig haben gemeinsame Hörspiele geschrieben,
Harig und Döhl für "muster möglicher welten" die "Deutsche
Sprachlehre" "Hans und Grete" collagiert und für die "tage für
neue literatur" in Hof 13 Wagneropern décollagiert. Zwei der
"7 Vorworte Anna" in Döhls "Das Buch Es Anna" stammen von Bense
und Heißenbüttel. Für Burkhardts Handpressendruck "Reste
eines Gesichts" haben Bense und Pfahler, für das "affiche 14" Burkhardt,
Pfahler und Döhl zusammen gearbeitet. "rot 9" (mit dem an Gertrude
Stein gemahnenden Titel "portrait einwände") und die "poem structures
in the looking glass" (rot 40) sind Gemeinschaftsarbeiten von Burkhardt
und Döhl. Kirchberger und Döhl malten und schrieben gemeinsam
"Textgrafik-Integrationen" und "Comic strips" und realisierten zusammen
mit Hansjörg Mayer die Programme "Typografie", "Bild" und "Text".
Mayer hat Benses "Rosenschuttplatz" "fortgesetzt" und derart ein visuelles
Pendant zur akustischen Realisation durch Clythus Gottwald geschaffen.
Was an Beispielen ausreichen sollte, der Stuttgarter Gruppe auch in
der dialogischen Tendenz der Künste im 20. Jahrhundert einen Platz
zuzuweisen.
Open end
Daß die Stuttgarter Gruppe in den 60er Jahren eine fluktuierende,
offen gehaltene Gruppe war, dürfte auch die Erklärung
sein dafür, daß die meisten ihrer Mitglieder über die
"heroische" Phase der 60er Jahre hinaus bis heute in wechselnden Partnerschaften
Kontakt gehalten haben. Ich möchte dies, bezogen auf die individuellen
Werkentwicklungen, einen Begriff Wystan Hugh Audens verwendend, die
Phase der "colonization" nennen. Vor allem durch eine umfangreiche mail
art, für die ich an die Ausstellung des letzten Jahres hier im
Wilhelmspalais erinnere, die schon genannten internationalen Kettendichtungen,
sogenannte "poetische Korrespondenzen", wurden Beziehungen bis heute
aufrecht erhalten, auch neue geknüpft, so daß es kaum überrascht,
wenn es bei den letztjährigen Internet-Projekten von Johannes Auser
und Döhl, einem "Epitaph Gertrude Stein", der "Hommage Helmut Heißenbüttel",
mit abschließendem "Epilog" oder beim augenblicklichen "poemchess"
weitgehend bei den alten Namen geblieben ist, ja daß wir sogar
Texte Benses in unsere Ketten einbauen konnten.
Der Stuttgarter Part der "Wort für Wort"-Veranstaltungen,
der 1994 unter dem Motto "Wie Stuttgart Schule machte" stand, bot denn
auch mit einem "Symposium Max Bense" nicht nur einen Rückblick
auf die Stuttgarter Gruppe und ihre internationalen Verflechtungen,
sondern in den gemeinschaftlichen Lesungen von Esser und Harig, von
Mon und Döhl auch aktuelle Literatur, im Wilhelmspalais retrospektive
Typografie, in der Ausstellung "Aus den Pariser Skizzenbüchern"
bei Buch Julius aktuelle Kunst. War es auf der einen Seite zum ersten
Mal in Stuttgart möglich, nicht im Süddeutschen Rundfunk sondern
mit Hilfe des Westdeutschen Rundfunks, im Wilhelmspalais exemplarische
Hörspiele der Stuttgarter Gruppe aus den 60er Jahren zu hören,
konnte man auf der anderen Seite im Wilhelma-Theater ein aktuelles Stück
sehen, aufgeführt von der Gruppe "Wortissimo" unter Leitung von
Gerdi Sobek-Beutter, die sich seit Jahren schon, mit wechselnden Sprecherinnen
und Sprechern, um die Realisation von Texten der Stuttgarter Gruppe
intensiv bemüht. Mit auch Hamburger, Pariser, Grazer Auftritten,
wie ich im Hinblick auf das Kapitel "Orte, Örter" hinzufüge.
Notabene
Es muß leider angemerkt werden, daß viele dieser
Veranstaltungen, darunter die letztjährigen, bisher noch nicht
genannten Versuche vor allem von Buch Julius, eine Geschichte der Stuttgarter
Gruppe, ihrer Beziehungen zum Spatialismus Ilse und Pierre Garniers,
nach Prag oder Japan, zu Gertrude Stein oder Mallarmé oder Chlebnikov
undsoweiter zu schreiben, von der Stuttgarter Presse und damit auch
der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden. Wenn überhaupt,
erschienen Kritiken oft nur in Tageszeitungen in Böblingen oder
Esslingen, auch mal im Börsenblatt oder, besonders kraß,
sogar in Japan (Shun Suzuki: Doitsu renshi notsudoi ni sanka shite.
Hana 9, 1995, S. 42f.). Es ist dies ein seit den 60er Jahren wohlvertrautes
Phänomen, gegen das beim Möchtegernpartner der Welt mit kulturellem
Kurzzeitgedächtnis kein Kraut gewachsen scheint. Johannes Auer
und Döhl haben deshalb begonnen, unter dem Verzeichnis "Als Stuttgart
Schule machte" peu à peu einschlägige Texte und Kommentare
ins Internet zu stellen und so schwer Zugängliches, auch Unveröffentlichtes
aus und zu der Stuttgarter Gruppe/ Schule international zugänglich
zu machen. Und sie würden sich natürlich über jeden hier
einschlägigen Beitrag freuen.
Bense hat Stuttgart den Ort seiner Füße genannt, Döhl
seinen "Stuttgart Prospekt" längst abgeschlossen. Heißenbüttel
hätte wahrscheinlich angemerkt: "Mehr ist dazu nicht zu sagen".
Ich zitiere aber ein letztes Mal Max Bense mit einem Text, den er 1962
dem "Unendlichen Calender" beisteuerte:
"Ein einziger Tag ohne Unterdrückung, ohne Macht, ohne Kompromiß,
ohne Vorsicht, ohne Übertretung, ohne Hintergedanke, ohne Liquidation,
ohne Klasse, ohne Gesellschaft, ohne Verwandte, ohne Nachbarschaft,
ohne Beziehung, ohne Betroffenheit, ohne Einbezug, ohne Verräterei,
ohne Sinn, ohne Funktion, ohne Absicht, ohne Umschweif, ohne Anfälligkeit,
ohne Vermutung, ohne Anwiderung, ohne Hoffnung, ohne Erlaß, ohne
Aufschub, ohne alle anderen, in einem abgestorbenen Staat, einer toten
Sprache überlassen, ohne Bedarf an Freiheit, um zu sehen was noch
und wie, - das könnte ein Rosenmontag sein."
[Wilhelmspalais 8.12.1997]