Liebe Freudinnen und Freunde Gertrude Steins,
Liebe(r) ...
Am 27.7.1996 ist der 50. Todestag Gertrude
Steins. Aus diesem Grunde soll und wird bei Buch Julius eine kleine Gedächtnisausstellung
stattfinden, undzwar von Ende Juli bis Ende September. Die Eröffnung
wird am 27. Juli 1996 um 16 Uhr sein. Falls Du / Ihr Dich / Euch an dieser
Austellung beteiligen willst/ wollt, sind visuelle Beiträge (zwischen
Schrift und Bild und ausschließlich auf Papier) herzlich willkommen.
Da Buch Julius und ich die Menge der Ausstellungsteilnehmer noch nicht
übersehen, bitten wir, nicht mehr als 3 Arbeiten einzuschicken, Format
maximal 70 X 50 bzw. 50 X 70 cm. Einlieferungsschluß ist Ende Juni.
Bitte laß mich möglichst bald wissen / teilt mir baldmöglichst
mit, a) ob Du Dich / ob Ihr Euch beteiligen willst/wollt, und b) (falls
schon möglich) in welcher Form Du Dich beteiligen kannst / Ihr Euch
beteiligen könnt.
Eine rote Rose für GS, eine schwarze
Rose für Dich/Euch, herzlich
Reinhard Döhl / Lindpaintnerstraße
59 70195 Stuttgart
Buch Julius / Charlottenstraße
12 70182 Stuttgart
Liste der TeilnehmerInnen [und Zusagen]
Albrecht/d / Bai, Chong Li / Bai, Li Wen (LiLi) / Brög, Hans / Döhl, Reinhard [auch über Internet] / Ehehalt, Wolfgang / Frenken, Susanne / Frenken, Wil / Fricker, Dietrich / Garnier, Ilse / Garnier, Pierre [auch über Internet] ] / Göltenboth, Dieter / Grögerová, Bohumila/Josef Hiršal [auch über Internet] / Habara, Shukuro / Ito, Motoyuki / Izumi, Noboru / Kajino, Kyuyo / Kamimura, Hiroo [auch über Internet] / Mezger, Iris / Paris X / Mon, Franz / Mori, Ikuo / Mukai, Shutaro / Ovcácek, Eduard / Paakkola, Mikko / Raschke, Thomas [über Internet] / Rogler, Sebastian [über Internet] Suzuki, Kei [auch über Internet] / Suzuki, Syun [auch über Internet] / Takahashi. Shohachiro / Tanabu, Hiroshi / Wichelhaus, Barbara / Yoshizawa, Shoji.
2. Die Ausstellung
Vor gut 40 Jahren, am 25.6.1955, nennt Helmut Heißenbüttel in einem Brief an Eugen Gomringer Gertrude Steins "rose is a rose is a rose is a rose" [...] das Muster einer Konstellation, um fortzufahren: Überhaupt sei Gertrude Stein eine Fundgrube. Kennen Sie "AS A WIFE HAS A COW A LOVE STORY"? Und Heißenbüttel ergänzt am 25.7.1955: Ich habe mich inzwischen abgemüht, etwas über Gertrude Stein für AUGENBLICK fertig zu machen, was ich schon seit längerer Zeit vorhatte, aber es will nicht klappen. Hoffe aber, daß ich es noch zustande bringe.
Um es kurz zu machen: Heißenbüttel hat zustande gebracht. Sein Aufsatz erschien noch 1955 unter dem Titel "Reduzierte Sprache. Über ein Stück [!, R.D.] von Gertrude Stein" in Max Benses inzwischen legendärer Zeitschrift "augenblick" und markiert ziemlich genau den Beginn der Gertrude-Stein-Rezeption in der Bundesrepublik, genauer in Stuttgart.
Ich will damit nicht unterschlagen, daß auch anderen Orts eine Auseinandersetzung mit dem Werk Gertrude Steins stattfand, etwa in der von Franz Mon mit herausgegebenen, inzwischen ebenfalls legendären Anthologie "movens" oder im literarischen Werk Ernst Jandls, hier sogar bis in die Diktion hinein. Aber beides datiert später. Und überdies handelt es sich um Autoren, die der Stuttgarter Schule/Gruppe um Max Bense durchaus nahe standen.
Die Stein-Rezeption in Stuttgart im Detail nachzuzeichnen, kann nicht Gegenstand einer Ausstellungseröffnung sein. Hier verweise ich den Interessierten auf den Aufsatz "Gertrude Stein und Stuttgart", der 1994 in der Zeitschrift "Semiosis" erschienen ist, und beschränke mich auf die Skizze, daß in der Stuttgarter Stein-Rezeption deutlich zwei Phasen unterschieden werden müssen:
Eine erste Phase der Landnahme durch die Stuttgarter Gruppe/ Schule in den 50er/60er Jahren, in der es wesentlich darum ging, erst einmal mit dem Werk Gertrude Steins vertraut zu werden, aber auch, sich von ihr produktiv anregen zu lassen - durchaus in Opposition zu einer politischen Wirklichkeit, die im Interesse der Machterhaltung das Experiment verteufelte.
Unabhängig von und zunächst auch in Unkenntnis dieser Landnahme folgte mit Beginn der 90er Jahre eine zweite Phase der Stuttgarter Steinrezeption, die man, W. H. Auden folgend, als colonization charakterisieren könnte. Sie war wesentlich gebunden an Lehrende (Gerdi Sobek-Beuter vor allem, dann Klaus Feßmann) und Lernende der Stuttgarter Musikhochschule, als "Hommage" für die Mutter der Moderne konzipiert, bündelte Texte Gertrude Steins, später der Stuttgarter Gruppe, schließlich originale Beiträge, auch in anderen Kunstarten und wirkte durch Gastspiele in Karlsruhe, Hamburg, Wuppertal, in Frankreich und Österreich sogar über Stuttgart hinaus. Höhepunkt und Bilanz war ein "I.M.P.U.L.S.E" getitelter Querschnitt durch die Programme der insgesamt dreiteiligen "Hommage" in der Aula der neueröffneten Hochschule für Musik und darstellende Kunst am 4. Mai dieses Jahres.
Nichts mit dieser Veranstaltungsreihe zu tun hat ein drittes Stuttgarter Gertrude-Stein-Unternehmen, das auf die erste Rezeptionsphase zurückgreift und mit der heutigen Ausstellung abgeschlossen wird. Von ihm allein ist im folgenden die Rede.
Ursprünglich hatten Künstler um die Galerie Buch Julius, wie schon anläßlich des 50. Todestages Else Laker-Schülers, an eine kleine mail-art-Aktion gedacht. Doch setzte sich in den vorbereitenden Gesprächen immer mehr der Gedanke einer Gertrude Stein eher entsprechenden internationalen Öffnung und Erweiterung durch, so daß ich Anfang des Jahres befreundete Künstler von Finnland bis Frankreich, von Tokio bis Trebovice, von Peking bis Prag (oder, damit auch Susanne und Wil Frenken alphabetisch zu ihrem Recht kommen: von Beijing bis Bode) einlud, sich an einem Gertrude-Stein-Memorial mit 1 bis 3 Arbeiten auf Papier zu beteiligen. Notabene: überwiegend Künstler, mit denen ich auch in mail-Art-Kontakt stehe. Und ich erfuhr dabei, wie die heutige Ausstellung schnell deutlich macht, erfreuliche Zustimmung.
Natürlich ist ein Großteil der ausstellenden Künstler Stuttgart bereits seit der ersten Rezeptionsphase enger verbunden: Franz Mon zum Beispiel oder der Japaner Hiroo Kamimura, Ilse und Pierre Garnier aus Paris/Amiens, Bohumila Grögerová, Josef Hiršal und Eduard Ovcacek aus der Tschechischen Republik, Wil Frenken, den es aus dem Rhein- und Burgenland über Stuttgart inzwischen nach dem schon genannten Bode verschlagen hat, oder Hans Brög, der ja über seinen ersten Drucker, Hansjörg Mayer, und seinen Doktorvater, Max Bense, dem Umkreis der Stuttgarter Gruppe/Schule durchaus zugerechnet werden kann.
Andere Künstler wie Albrecht/d, Dietrich Fricker, Dieter Göltenboth sind der Galerie Buch Julius von Anfang an verbunden und damit einem Ausstellungsprogramm, in dem die Stuttgarter Gruppe/Schule einen zentralen Stellenwert hat. Nicht ohne Hintersinn hat Göltenboth denn auch der heutigen Ausstellung zwei Arbeiten aus den frühen 70er Jahren beigesteuert.
Besonders freue ich mich aber, daß heute zum ersten Mal Arbeiten befreundeter Künstler aus Finnland und China, von Mikko Paakkola, mit dem zusammen ich in der Pariser Cité International des Arts gearbeitet habe, von Chong Li Bai, Professor an der Akademie in Peking, und von Li Wen Bai, die ich in Prag kennen lernte, kurzum -
Besonders freue ich mich, daß heute zum ersten Mal auch Arbeiten befreundeter Künstler aus China und Finnland mit von der Partie sind und so die Partnerschaft erweitern in jenem mir so wichtigen internationalen ästhetischen Dialog, den die Stuttgarter Schule/Gruppe seit den endfünfziger Jahren gegen die Provinzialität nicht nur dieses Landes zu führen sich bemüht. Und ich muß zugleich hinzufügen, daß ich traurig darüber bin, daß es uns trotz einiger Mühe nicht gelungen ist, israelische Künstler, Künstler aus Israel zur Mitarbeit zu bewegen, mit denen wir gerne ins Gespräch gekommen wären über Sätze Gertrude Steins wie zum Beispiel:
- Der moderne Jude der den Glauben seiner
Väter aufgegeben hat kann vernünftig und konsequent an
Isolation glauben.
- Wir können meinen und wir wissen
daß wir unser Land so lieben.
- Können wir glauben daß
alle Juden diese sind.
Zu den ausgestellten Arbeiten selber möchte ich wegen der Vielfalt ihrer Auseinandersetzung im Einzelnen nur wenig sagen, hinweisen jedoch darauf, daß die fernöstlichen Freunde - naheliegend - auch mit dem Namen Stein, chinesisch shí, japanisch ishí, spielen und dabei zu recht unterschiedlichen Lösungen kommen, kaligaphisch meisterhaft (Chong Li Bai), im freien Stil japanischer Sho-Kunst (Kei Suzuki) oder gar konkret-konstruktiv (Hiroo Kamimura) in einer Arbeit, die mit ihrem Titel "Bunte Steine" zugleich Stifters gleichnamige Sammlung von Erzählungen einschließlich Vorwort anspielt als auch den zweiten Teil eines bis heute unveröffentlichten "Buches Gertrud" aus den 60er Jahren. Ein Hin&Her der Bezüge, dem sich auch Göltenboths Foto eines blauen Steins einfügen ließe.
Natürlich gibt es die Auseinandersetzung mit den inzwischen zu Formeln gewordenen Dikta Gertrude Steins, so in der Korrespondenz zwischen Brögs mir gewidmeter "Stein-" und meiner Brög gewidmeten "KopfRose", bei Sebastian Rogler, der einer gefaxten Rose A FAX IS A FAX IS A FAX unterschreibt, oder bei Wolfgang Ehehalt, der sich bei seiner Collage mit Texteinsprengseln - wie seinerzeit Helmut Heißenbüttel - auf die "Sacred Emily" von 1913 bezieht, in der die Rosengleichung erstmals, noch ohne den unbestimmten Artikel im Anfang, begegnet.
Nicht ohne Ironie läßt Ilse Garnier angesichts der ländlichen Realität Saissevals die Tauben aus "Four Saints in three Acts" außer in the gras auch on the roof und in the tree sitzen, gar in the sky sich erheben.
Gar nicht populär ist das Zitat, mit dem sich Barbara Wichelhaus auseinandersetzt:
Jeder der einer wirdIn Parenthese: ein Zitat, das sich - es geschehen auch am Nesenbach gelegentlich Zeichen und Wunder - in dieser Woche gut den Dichterworten der Stuttgarter Zeitung hätte zuordnen lassen.
der alt genug ist
wird dann ein Toter.
Sicher werden Alte zu Toten.
Sicher wird jeder
der nicht zum Toten wird
bevor er alt genug ist
alt genug
zum Toten zu werden.
Wenn sich Wil Frenken neben einem Buch-Objekt älteren Datums jetzt skriptural noch einmal um "As a wife has a cow a love story" bemüht, versteht sich das ebenso gezielt als Rückgriff auf Heißenbüttels Aufsatz aus dem Jahre 1955, wie ein anderes Exponat [von R.D.] mit dem ersten Satz des Hauptworts aus Max Benses "Montage Gertrude Stein 1958" spielt: Paris ist eine alte reiche Dame mit Hut aus der rue Fleuris, die den Boulevard Raspail hinuntergeht.
Aktuelle Wechselbezüge stellen sich schließlich her, wenn Bohumila Grögerová /Josef Hiršal in ihrer Gemeinschaftsarbeit das Theaterstück "Es war morgen was gestern war" mit einem siebenmaligen DNES, also heute kontern.
Undsoweiter. Undsofort.
Der auf Benses "Montage Gertrude Stein
1958" bezogene Beitrag befindet ist aber nicht nur in dieser Ausstellung,
er begegnet ebenfalls Besuchern, die sich über die Adresse http://www.s.netic.de/auer/epitaph/epitaph.htm
ins Internet begeben, wo sie auch die
hier ausgestellten Arbeiten von Thomas Raschke, Sebastian Rogler und Kei
Suzuki, ferner eine Sequenz von Rüdiger Tamschick besichtigen oder
Texte lesen können von Bohumila Grögerová, Josef Hiršal,
Ilse und Pierre Garnier, Hiroo Kamimura und anderen, die sich am Bau eines
internationalen "Epitaphs Gertrude Stein" beteiligt haben, zu dem Johannes
Auer und ich am 23. Mai dieses Jahres aufgerufen hatten. Ich lese als wenigstens
ein Beispiel das von Pierre Garnier geschriebene 8. Epitaph in Übersetzung:
Diese schwarze Tafel mit ihren weißen"Epitaph" und "Memorial" sind also intentional vernetzt, das "Epitaph" ist Teil des "Memorials", das "Memorial" schließt das "Epitaph" ab, dessen letzter Beitrag im Internet denn auch lautet:
Kreidefiguren
war sein erstes Bild
die Dreiecke die Moral das Datum Ludwig
der XIV
eine Hütte in Gallien
diese schwarze Tafel mit den weißen Figuren
genügten ihm zur Kenntnis der Welt
bis ans Ende seiner Tage
dann beim Abwischen würde er
andere viel tiefere Werke finden
als die schwarze Tafel und Guernica
im Tod wo er als erstes lesen würde
these stanzas are done.
when this you seeEs ist meines Wissens das erste Mal, daß ein Internetprojekt und eine Kunstausstellung - auch thematisch - derart verknüpft sind, daß ein Internetprojekt Teil einer Ausstellung wird, mit der zusammen sich erst ein Ganzes bildet und umgekehrt. Entsprechend müßte hier eigentlich ein Bildschirm stehen, auf dem der Ausstellungsbesucher im Kontext des "Memorials" das "Epitaph" besichtigen und lesen kann.
remember me
because I am coming
certainly I am coming
certainly I come having come.
Memorial Gertrude Stein.
Eine Ausstellung
vom 27. Juli bis 2. Oktober 1996.
Buch Julius
Charlottenstraße 12
70182 Stuttgart.
Telefon 0711/240709.
Fax 0711/2360816.
These stanzas are done.
Das aber war bis zur Eröffnung leider technisch nicht mehr machbar, so daß wir fürs erste eine Notlösung anbieten müssen, die darin besteht , daß der Besucher in dem hier ausliegenden, Gertrude Stein zuliebe roten Ringbinder sich durch einen sehr unvollkommenen Ausdruck aus dem Internet hindurchblättert und sich dabei die möglichen Links und Spielmöglichkeiten des "Epitaphs" in seiner Phantasie vorstellt und in die Ausstellung integriert.
Übrigens werden für das "Epitaph Gertrude Stein" während des laufenden "Memorials" noch Beiträge entsprechend den vorgegebenen Spielregeln aufgenommen und integriert. Wer also mitbauen möchte, sei hiermit herzlich eingeladen zu einem Spiel das - ganz im Sinne Gertrude Steins - nicht und nun heißt. Womit denn auch die Ausstellung endlich eröffnet wäre.
[Galerie Buch Julius, Stuttgart
27.7.1996]