Gertrude Stein: Drei Leben


von Reinhard Döhl

Gertrude Stein: Drei Leben. Übertragung van Marlis Pörtner mit einem Nachwort von Marie-Anne Stiebel. - Verlag 'Die Arche' (Zürich), 309 Seiten. DM/Fr. 15.8O

"Ihr Gesicht fiel ein, wurde knochiger und verhärmter, ihre Haut verfärbte sich blaßgelb, wie das bei arbeitenden kränklichen Frauen oft der Fall ist, und das helle Blau ihrer Augen wurde fahl. Außerdem machte ihr der Rücken Verdruß. Sie war immer müde bei der Arbeit und ihr Charakter wurde schwieriger und reizbarer" - beschreibt Gertrude Stein "Die gute Anna", eines der "Drei Leben". Und sie tut dies in einer Art, die ihr entspricht: einen Menschen genau zu beschreiben und sich doch nicht mit dem Augenscheinlichen gemein zu machen.

In ihren "Notizen über Gertrude Stein" bemerkt Elisabeth Walther, daß schon vor Heidegger, Sartre, Bloch unter anderem bei Gertrude Stein 1907 (The Making of Americans / Being a History of a Family's Progress) eine literarische Konzeption einer Metaphysik der Existenz vorliegt. Wir fügen hinzu, daß die Steinsche Konzeption zeitlich zwischen einer utopischen Lteratur z. B. H.G. Wells (The Time Machine, 1895 u.a.) und einer einzig auf Gewesenheit gerichteten Literatur z.B. Proust (A la recherche du temps perdu, 1913/27) ansetzt als, so wollen wir zunächst sagen, eine wörtliche Beschreibung "dessen, was ist", der Gegenwart also als Idee der Existenz.

Schon zwischen 1909 und 1912 entstehen drei wichtige Werke, wichtig, weil sie sowohl vom Syntaktischen wie vom Thematischen her das vorstellen, was auch dem späteren Werk zugrunde liegt. 1909 ließ Gertrude Stein "Three Lives" auf eigene Kosten drucken, 1907 begann sie mit "The Making of Americans", 1910/12 schrieb sie "Tender Buttons", eine unübersehbare Wortreihung und syntaktische Studie. Schon in "Three Lives" taucht Wiederholung als Stilmoment auf, in "Tender Buttons" wird sie zum artistischen Prinzip. Mit ähnlichen Verfahrensweisen entstehen dann die "Portraits", die thematisch wieder an "Three Lives" anschließen, diffiziler jetzt und artistischer.

Erst seit 1955 beginnt in Deutschland das Gerücht der literarischen Qualitäten dieser seltsamen Frau aufzutauchen, und der Arche-Verlag (Peter Schitferli) hat mit der Herausgabe von bisher drei Übersetzungen ("Die Autobiographie der Alice B. Toklas" 1955, "Picasso" 1958 und "Drei Leben" 1960) eine Pioniertat getan. Wir sagen dies mit der ausdrücklichen Hoffnung, daß weitere Übersetzungen folgen, die vielleicht nach besser übersetzt sein sollten, indem man dort, wo die Eigentümlichkeiten des Originals auf Grund syntaktischer Konstellationen bei einer Bedeutungsübertragung verloren gehen, einem grammatischen Verfahren vor dem semantischen den Vorrang gibt.

Liest man nach diesem Überblick in "Drei Leben" eine Passage wie: "Es waren sehr hübsche Babies, alle drei die Lena hatte, und Hermann sorgte immer gut für sie. Hermann machte sich eigentlich gar nicht viel aus seiner Frau, Lena. Das einzige aus dem Hermann sich überhaupt etwas machte, waren seine Babies. Hermann war immer sehr gut zu seinen Kindern" und so weiter, so enthält schon eine solche Passage in nuce das Problem der Iteration, wie es später bei "a rose is a rose is a rose is a rose" unübersehbar ist. Vom einen zum andern ist ein langer Weg der Sprachreduzierung, aber auch des Bewußterwerdens der Sprache (des Sprachstils) zurückgelegt. Stil ist dabei für Gertrude Stein nicht etwa etwas künstlich Gemachtes, sondern drückt die Sache an sich aus: "Composition an explanation".

In den schon erwähnten "Notizen über Gertrude Stein" sagt Elisabeth Walther auch, daß "Wiederholung" nicht nur eine für den Aufbau des Kunstwerks notwendige artistische Kategorie ist, sondern auch als eine existenzielle erscheint, die das Dasein des Menschen bestimmt. E. Walther nimmt dabei Bezug auf Kierkegaards Schrift "Die Wiederholung". Und in der Tat scheint sich für "Drei Leben" das zu bestätigen, was Kierkegaard vorformuliert hat, "Aber wer nicht faßt, daß das Leben eine Wiederholung ist, und daß darin des Lebens Schönheit besteht, der hat sich selbst gerichtet [...] Die Wiederholung ist die Wirklichkeit und der Ernst des Daseins." "Existenz und Wiederholung" (über das Artistische hinaus) werden also von Gertrude Stein zu "Drei Leben" verknüpft, und zwar so, daß von hier aus in den folgenden Werken die "Seinsthematik gleichsam immer statistischer" zu werden vermag, "immer schärfer der Zufall, die Häufigkeit, die Wiederholung einkalkuliert" wird (E. Walther). Und das erklärt auch, daß Gertrude Steins Prosa immer mehr das Ergebnis einer syntaktischen Erzählprosa wurde.

Die gute Anna, Melanctha, die sanfte Lena - "Drei Leben" und Sterben. "Als das Baby endlich da war, war es leblos wie seine Mutter. Während es kam, war Lena immer blasser und schwächer geworden. Als dann alles vorüber war, war Lena tot, und niemand wußte wie es eigentlich geschehen war.' Das ist eine Prosa des "es ist so" oder "so ist es", die Thornton Wilder "neben dem 'Ulysses' von Joyce den einflußreichsten Prosabeitrag unserer Zeit" nannte ((Hemingway, Anderson u.a. kommen hierher). Nicht das Ende einer Gattung Roman wie "Ulysses", sind "Drei Leben" ein Ausgangspunkt moderner Literatur. Entgegen einem Tiefstand an Wortbedeutung, stereotyper Redewendung und abgedroschener Phrase, tritt anstelle von "Desintegration und Neubildung von Wörtern" das Wort in seiner "Einmaligkeit und Nacktheit". So wollte es Gertrude Stein. Und so hat sie es durchgeführt. Gertrude Stein hat einmal gesagt, sie könne das Abnorme nicht leiden, das Normale sei auf so viel simplere Art kompliziert und deshalb interessant. Auch davon erfährt der Leser von "Drei Leben" unter anderem.

notizen, Jg 5, Nr. 31, Februar 1961, S. 25