Max Bense und der Spatialismus



von Ilse und Pierre Garnier


Für den Menschen ist es nicht möglich zu handeln, ohne mit der Aktion die Antizipation zu verknüpfen. Dieser Anspruch, diese einfache, fast selbstverständliche Formulierung Max Benses, daß jedes artistische Beginnen ein antizipatorisches ist, entsprach dem Kunstwollen der in den beginnenden 60er Jahren neu hervortretenden Dichtungsarten, der konkreten Poesie, der visuellen und
der sonoren, der spatialen Dichtung. Es ist ein Satz, der einen Aufbruch voraussetzt, literarisch gesagt, einen Aufbruch aus alten Normen in einen neuen Sprachgebrauch, eine neue Freiheit. Bestandteil des Wortes Aufbruch ist Bruch: wer aufbricht, sagt sich von
etwas los. Wovon sagte sich die Generation dieser neuen Poesie los? Ich zitiere aus dem 1.Manifest für eine neue Seh- und Lautpoesie:
Wir treten auf der Stelle. Der Geist schlägt um. Die Poesie tritt auf der Stelle. Mit Überdruß nehmen wir von unseren eigenen Gedichten Kenntnis. Seit dem Surrealismus, seit der Dichtergruppe von Rochefort, seit dem Lettrismus sind wir nicht mehr auf die fernen Feuer zugegangen, die plötzlich aufflackern. Die menschliche Erfahrung hat sich von der Poesie gelöst, die Dichtung kann den Menschen nicht mehr ergreifen.
Massen von Versen, selbst die gelungensten, versperren den Weg ins Abenteuer. Wir treten auf der Stelle. Nichts ist geschehen, um den Gleichtritt zu unterbrechen. Dennoch verspüren wir das Bedürfnis eines neuen Aufbruchs zur Freiheit.
Überdruß an einer Poesie, die sich nur noch wiederholt, nur noch Redundanz ist und Weg in ein neues poetisches Abenteuer: das entspricht dem antizipatorischen Handeln, wie es Max Bense ausdrückt. Das Überraschende an diesem Weg, den man als Einzelner oder als kleine Gruppe einschlug, war die Entdeckung der Weggefährten, die ebenso das Bedürfnis nach einem radikalen Anders-Schreiben gefühlt hatten.
Und unter diesen Weggefährten befand sich bald Max Bense, doch war er weit mehr als Weggefährte: er war der große Mittler - Stuttgart war der Ort, an dem sich die Wege kreuzten, ein Knotenpunkt, ein Brennpunkt, denn alle eintreffenden Informationen wurden verarbeitet, verschmolzen, theoretisch durchdacht.
Ich weiß nicht mehr, durch wen wir die Adresse von Max Bense erhielten: vielleicht durch Franz Mon; jede neue Beziehung eröffnete andere Beziehungen, doch durch Max Bense machten wir einen Sprung in einen anderen Kontinent - Südamerika - und wieder zurück nach Europa, in die Tschechoslowakei und dann nach Japan - allmählich wurde aus dem
individuellen Beginnen ein ganze Weltteile umfassendes Netz. Der Internationalismus war ein wesentlicher Bestandteil der poetischen Antizipation. Die Sprachen sind Nationalsprachen und Poesie arbeitet mit der Sprache. Um sich aus dieser Verstrickung zu lösen, muß sie das Material mit dem sie arbeitet, die Sprache, aus dem einengenden Bedeutungshorizont lösen und sie materialhaft einsetzen. Max Bense hat selbst in einem seiner Seh-Texte diese Internationalität betont: Dieser
Text ist konstruiert über einem Repertoire von vier Elementen - o r i n, aus denen 10 Wörter bzw. Wortstämme gebildet werden, die drei Sprachen angehören, lateinisch, portugiesisch, französisch (man kann rio - roi - oro - noir uw. bilden). Gerade diese Vielsprachigkeit der konkreten Poesie ist kennzeichnend. Sie betont den materiellen Charakter der konkreten Dichtung, ihren Hang zu Internationalität der heutigen Sprachwelt.
Internationalität ist möglich durch Verwendung einfacher, leicht verständlicher, leicht zu entschlüsselnder Wörter aus verschiedenen
Sprachen. Aber Max Benses zuckerhutförmiger Seh-Text, der ikonisch das Bild eines Berges aufbaut, kann auf seine Elemente zurückgeführt werden, die vier Lettern, die variiert werden, nicht nur, um Bedeutungsträger zu bilden, sondern auch um die graphische Gestalt der Lettern zur Geltung zu bringen; das Zusammen- oder Gegeneinanderspielen von o und i zum
Beispiel, ebenso wie die symmetrische oder asymmetrische Verwendung. Außer dem Graphismus spielt auch der Klang hinein, denn das Lesen, auch das stumme, erweckt das Aufklingen von Tönen, und da es sich um eine
Figur handelt, die nicht linear gelesen wird, klingen diese Elemente zusammen. Das ästhetische Ordnungsprinzip wirkt sich nicht nur linear, sondern vor allem flächig aus, und zur Lesbarkeit gehört die Sehbarkeit.

Nehmen wir einen Punkt heraus: das Zurückführen auf Elementares. Die Sprachmaterie zerlegen, zertrümmern. Wir leben im Zeitalter der Atomzertrümmerung. Umsetzen der Materie in Energie. So soll auch die Sprachenergie befreit werden. In den mechanischen Gedichten, die im Jahre 1964 erschienen sind, schrieben wir erläuternd: Schreibmaschine -
mechanisches Gedicht. Die Tasten unter dem Impuls der Finger bedrucken das Schreibband und darunter das Blatt. Schreibaktionen, Schaffung von Sprachfeldern, von Energiepunkten, von Überlagerungen, von Wortauflösungen in Buchstaben, von Spannungen zwischen verschiedenen Sprachen. Kontrollierende Zentren, Untermalungen durch Laute oder
Rhythmen wie durch Flecken oder Zerreißen des Papiers, Zerstörungen, Mixen....
Max Bense nennt dies die Mikroästhetik, vom Materialcharakter der Sprache bedingt, eine Struktur, die von der Wahrnehmung abhängig ist und nicht vom Ideellen.
In der ersten Phase unserer Arbeiten, die die Wege der Tradition verlassen hatten, und in der wir den Freiraum des Experimentierens
auskosteten, (ganz zu Beginn der 60er Jahre) suchten wir alle Möglichkeiten dieser Mikroästhetik auszuforschen. In ähnlicher Weise kann man mit dem Lautcharakter Sprache auf Tonband arbeiten, das Wort zerlegen, die Klangformen dehnen oder straffen, Laute überspielen und ändern, Sprachpartikel zusammenflechten: die beiden Erscheinungsformen der Sprache werden auf gleiche Weise behandelt. Für den Autor ist das Werk nicht Resultat einer Meditation oder einer Erfahrung, sondern einer Geste. Beim Schreiben flossen die Buchstaben aus den Fingern, auf dem Tastenfeld suchen die Finger die Lettern. Tanz der Hände, der das
laterale Suchen mit dem vertikalen Druck verbindet. Zur Mikroästhetik gehören auch die Texte, in denen der Zufall eine Rolle
spielt, in der das Material seine eigenen Wege geht. Wir wollten durch die Freiheit des Experimentierens eine vollkommene Freisetzung der schöpferischen Möglichkeiten erreichen und keine neuen Normen schaffen.
Wichtig ist also die Schreibgeste, Zusammenwirken von manuell und maschinell, Aufgabe des Zufalls: das Material geht seine eigenen Wege, Widerstand des Papiers bei Zerreiß- und Zerstörungsstrukturen. Die endgültige Form entsteht aus beidem: durch das Einsetzen der Geste, d.h. die anfängliche Entscheidung des Autors und das Werk des Zufalls, d.h.
die Materialbedingtheit. Doch darf nicht vergessen werden, daß der Spatialismus im Zeitalter der Raumerforschung entstand - der Aufbruch in den Raum war von entscheidendem Einfluß auf unsere Arbeit. So wie Technik und Wissenschaft in den Weltraum vordrangen, wollten wir den Sprach-Raum, das Sprach-Universum erschließen. Diese Beeinflussung von Kunst durch
Wissenschaft ist ja nicht neu: die Möglichkeit des Fliegens bestimmte eine andere Sehweise für Apollinaire und die Kubisten, durch das Fliegen kann man die Wirklichkeit aus einer anderen Sehperspektive betrachten. Eine Bewußtseinsveränderung durch neuerschlossene Erfahrungsbereiche. Die Poesie als Parallele dessen, was zivilisatorisch an der Spitze stand: das Übernationale, Weltumspannende, das Verfügen über Energien, der Aufbruch in den Raum. Die Menschheit arbeitet seit Jahrtausenden daran, die Worte mit Leben aufzuladen. Auch die wissenschaftlichen Entdeckungen liefern zu diesem Werk ihren Beitrag. Die Worte sind so reich geworden, daß sie allein leben können. Wir sind auf dem Wege einer objektiven Poesie, d.h. wir bewegen uns auf den idealen Punkt hin, wo das Verb sich selbst schafft. Autonomie der Sprache. In der visuellen Poesie betrachten die Worte die
Menschen und erwidern ihren Blick. Diese Texte, die ich zitierte, waren Arbeitstheorien, die uns in den Jahren damals begleitet haben. Eine Entdeckungsfahrt braucht einen theoretischen Unterbau, oder eine theoretische Krücke, die beim Vorwärtsschreiten hilft; oder eine Raumsonde, oder einen Versuchsballon zu Orientierungszwecken. Arbeitstheorien haben keinen Anspruch auf
wissenschaftliche Gültigkeit und man gibt sie wieder auf, sobald die Texte sich selbst genügen, d.h. sobald ein Textensemble in seinem inneren Zusammenhang auf ein solches Außengerüst verzichten kann. Max Bense hat eine sehr schöne Formulierung für diese theoretischen Notwendigkeiten gefunden - allerdings hat er dabei weniger an den Autor als an den Leser gedacht, denn Kunst hat zur Erkenntnis und zum Genuß nötig, daß ihre Gebilde in einem leichten Drahtgeflecht von Theorien aufgehängt sind. Ein Bild von Transparenz und Schwerelosigkeit: die Theorie verstellt nicht den Blick auf das Kunstobjekt, sie ist die intellektuelle Instrumentierung, die für den Leser - Betrachter - notwendig ist. Die Sehpoesie verändert die Lage des Lesers. Dieser war bis dahin
passiv; das Gedicht schloß sich über ihm. Die neue Poesie verlangt seine Mitarbeit. Die Sehpoesie ist Anregung für eine Veränderung seiner Haltung: von den vorgelegten Wörtern und ihrer Konstellation ausgehend, muß er Körper und Geist arbeiten lassen. Er muß sich selbst als Inhalt einsetzen.
Um diese aktive Rezeption zu leisten, muß das Machen des Kunstwerks nachvollzogen werden, der Entstehungsprozess. Für Max Bense geht es um die Machbarkeit der Kunst, eine Sache des Intellekts, weniger der Emotion, denn die ästhetische Information überträgt keine Bedeutung, nur Realisation. Kunstwerke können nur realiter, nicht idealiter existieren. Sie sind wahrnehmbar, nicht vorstellbar.
Modelle dieser Machbarkeit versuchten wir in den Texten, die"Prototypen" hießen, zu liefern: das sind z.B.

  • Texte, die durch Verschiebungen entstehen
  • Texte, nach algebraischen Reihen ausgezählt
  • Texte, die mit Hilfe von Schablonen gestaltet werden.
Zu diesen Schablonentexten gehört, daß sie Spuren des Entstehungsprozesses aufweisen; die Ränder beispielsweise sind etwas
lichter, die Unregelmäßigkeiten gehören zum Erscheinungsbild. So ist jeder Text einmalig, aber nachvollziehbar, überraschend, aber
modellhaft.
Innovation ist der entscheidende Moment der Information, nur neue Information ist Information. Ästhetische Information wird nicht durch Redundanz hervorgerufen, nicht durch den Ballast. Äußerste Beschränkung, Kunst der minimalsten Mittel: Das Wort ist ein Element? Das Wort ist Materie. Das Wort ist ein Gegenstand. Jedes Wort ist ein abstraktes Bild. Eine Fläche, ein Volumen. Fläche auf der Seite. Volumen in der Stimme. Das Wort ist der sichtbare Teil der Idee, wie der Stamm und die Blätter der sichtbare Teil des Baums sind - die Wurzeln, die Ideen leben darunter.
 


(Stuttgart, Herbst 1994)