Reinhard Döhl
Auf der Durchreise (1) Die kulturgeschichtliche Bedeutung der 60er Jahre, mit Einsatz Ende der 50er Jahre, ist, worauf ich mehrfach hinwies (3), von einem zunehmend kommerziell und offiziell dirigierten Kunstrummel eher zugedeckt, bis heute kaum erkannt. Über Reinhold Koehler oder Werner Schreib zu schreiben, bedeutet also zunächst Spurensicherung, das kapitelweise Zusammentragen dessen, was die Kunstszene der 60er Jahre mit konturierte. So versteht sich auch der folgende Versuch über "Werner Schreib und Stuttgart" als ein nicht unbedeutendes Unterkapitel des für die 60er Jahre bedeutenderen Kapitels Werner Schreib. 2 Persönlich kreuzten sich unsere Wege, nachdem ich 1959 auf der II. documenta in Kassel und der Ausstellung "Neue Kunst" 1960 in Schleswig weitere Arbeiten von ihm kennengelernt hatte, Ende 1960 in Stuttgart, und zwar anläßlich des im Oktober 1960 von Klaus Burkhardt gedruckten "affiche 7", daß, unter Zugabe von drei Gedichten Dieter Hoffmanns, neben einer Nadelätzung drei Punzen wiedergab (davon eine aus "Punzen mit Schnatterings" (5)). Seit dieser Zeit datiert ein unterschiedlich intensiver Gedankenaustausch, sei es in (Streit)Gesprächen und - soweit sie in Stuttgart stattfanden - ihrem gelegentlichen Niederschlag im Gästebuch, sei es in Korrespondenzen, wobei die Postkarten oft teilcollagierte kleine Kunstwerke waren. Meist ging es um Fragen der Kunst, auch ausstellungs- und publikationstechnisch, um einzelne Autoren und Künstler, immer wieder um die Bedeutung der Kunstrevolution, speziell des Dadaismus und Surrealismus, für die wir uns aus zwar unterschielichen Blickwinkeln interessierten, über deren Bedeutung für eine gegenwärtige Kunst wir uns jedoch völlig einig waren, wenn wir sie jenen künstlerischen Bewegungen zurechneten, die 50 Jahre brauchen, um sich durchzusetzen. Nach dieser Zeit, war Werner Schreib 1967 überzeugt, stellt sich ihr Problem aufs Neue, nur einer anderen Generation und um einige Phasen der Erfahrung bereichert (6). Wie ich, glaubte auch Werner Schreib an eine Kontinuität künstlerischer Entwicklung seit der Kunstrevolution, von der allerdings zeitweilig, durch die Zäsur des Nationalsozialismus bedingt, die deutsche Kunst ausgeschlossen blieb. Man kann sich leicht darauf einigen die englische POP-Art, wie sie von R. Hamilton oder P. Blake bekannt ist, zum NEO-DADAismus zu zählen. Ebenso die Bilder und Objekte von Rauschenberg. Das gilt mit Einschränkungen auch für viele andere Künstler dieser Richtung. Hier haben wir es mit einer kontinuierlich tradierten europäischen Kunst zu tun" (6a). Als ich 1962, ausgehend von und in Fortsetzung zu "Albrechts Privatgalerie" (7), das Konzept einer mobilen Ausstellung entwarf, war Werner Schreib sofort mit von der Partie. Gedacht war dabei an Ausstellungen ohne festen Ort oder Raum, an eine mobile Galerie, deren Vorteil es sein sollte, "daß sie nur existiert, wenn sie eine ausstellung macht, und nur dort, wo die ausstellung gemacht wird. ausgestellt werden nur maler, grafiker, bildhauer etc., die aus einem bestimmten grunde interessant sind, oder im allgemeinen galeriegeschäft übersehen werden. oder wegen des allgemeinen galeriegeschäftes nicht zum zuge kommen usw. und da gibt es noch eine ganz anzahl gründe, warum man diese neue idee einer galerie, die eigentlich keine ist, weil sie nur ist, wenn sie ist, und nur dort, wo sie gerade zufällig eröffnet wird, warum man diese idee hatte und nun in die tat umsetzen will. interessiert sind daran sowohl die presse als auch sammler und einige andere leute". 3 Ein konkretes Ergebnis hatte diese nicht zustande gekommene Ausstellung dennoch: das auf 7 Texte angelegte "Portrait Werner Schreib", dessen erster Text, ein "märchen für schreib", für den (als Typoskript erhaltenen) Katalog vorgesehen war: er baute auf sand. er schlug den vögeln die abfahrtszeiten vor ließ ratten nach seiner mütze tanzen und warf die welt zum fenster raus mit vollen händen. er verschenkte mir nichts dir nichts hinterlassend sanduhren kursbücher und zeitzeichen. über alle sender koppheisterten karfreitage schwule diebe faule sachen unsoweiter. der schwarze tag kam und ging mit der zeit um die wette. Da der Katalog ungedruckt blieb, habe ich diesen Text (zusammen mit einem zweiten: "von einem der auszog das fürchten zu lernen") in die "märchen" der "fingerübungen" (8) eingerückt und 1963, in Folge unserer Diskussionen über die Grenzverwischungen der Kunstarten, zusammen mit Klaus Burikhardt auf Seiten der "ZEIT" und der "Frankfurter Nachtausgabe" grafisch zu lösen versucht (9), was zugleich Ausgangspunkt der bis heute nicht abgeschlossenen "Use papers" (10) wurde. Den letzten Text des "Portreits Werner Schreib", das eigentliche Portrait, publizierte 1964 die Zeitschrift "pe" in der Werner Schreib/Luciano Lattanzi gewidmeten Nr. 16 als "fußnoten werner schreib"; 1965 nahm ich Sie in "Prosa zum Beispiel" auf, für deren Umschlag ein Bild Werner Schreibs Verwendung fand (11): etwa ein altes haus bis vorwiegend heiter. macht sich zu schaffen macht sich mit zu schaffen schafft dran rum. trägt dick auf macht sich dünne breitet sich aus. breitet sich aus nach allen seiten peu a peu. hat etwas in auge hat etwas vor verfolgt einen vorgang genau kommt nicht drum rum. setzt neu an läßt angehn geht drüber hinweg. geht weit darüber hinaus gibt klein bei. richtet sich ein und nach richtet an. richtet aus ein an auf für da nach vor bei. würde keineswegs und überhaupt darüber schon gar nicht so doch gewiß da nun einmal davon ganz sicher falls gelegentlich sollte man ja das bloß nicht nur so strikt dafür schon weil statt dessen könnte anstatt gut und gerne darum denn auch höchstens hätte dagegen. Geht noch weiter, ist zum beispiel drauf aus. kommt drauf an. wendet an und für sich und sich nach. setzt sich etwas in den kopf bricht ab. setzt an bricht ab setzt fort läßt nach und nach. macht alle mögliche. wieder und wieder, kommt immer wieder darauf zurück wies kommt und kommt an bei. kommt drauf an und dran ist zusätzlich dran im gange. ist in vollem gange. steckt seine hände nach aus kanns nicht fassen. kanns immer noch nicht fassen kann nichts für tut nichts zur sache macht so als ob. nur so als ob und wie wenn schon. keineswegs und überhaupt darüber gar nicht so doch gewiß da nun einmal davon aber ganz sicher falls man ja gelegentlich daß bloß nicht nur so strikt dagegen weil stattdessen anstatt gut und gerne darum denn auch höchstens hatte dafür. hält jedenfalls dafür macht nur so weiter im großen und ganzen fährt hin und wieder gelegentlich fort läßt sich sehn. taucht plötzlich auf und davon und unter verschwindet. wirft seinen schatten voraus fällt auf und sich ein mit licht von der seite. alle nase lang. etwa ein altes haus. heiter bis wolkig. / unter diesen umständen merkten die umstehenden erst jetzt daß die umstandskleider umstandshalber in andere umstände gekommen waren. Ohne die "fußnoten" interpretieren zu wollen, ist dreierlei zu ihnen anzumerken. Zunächst versuchen sie in einer Leseschicht ein sprachliches Portrait des stets ungeduldigen, auf dem Sprung befindlichen Künstlers: fährt hin und wieder gelegentlich fort läßt sich sehn. taucht plötzlich auf und davon und unter verschwindet u.a. So jedenfalls erlebten ihn in den 60er Jahren nicht nur seine Stuttgarter Freunde, zu denen außer Klaus Burkhardt und mir vor allem der Kameramann Willi Justus Pankau zu zählen ist, der 1956 bereits einen Film über Werner Schreib und Gustl Stark ["Zeichen an der Autobahn"], 1966 anläßlich eines Schreibschen Wandbildes in Mannheim eine kleine personality gedreht hat und 1962, selber verhindert, einen dritten Film des Süddeutschen Rundfunks über die "Semantische Malerei" Werner Schreibs und Luciano Lattanzis anregte (den Dr. Conzelmann dann gedreht hat). Die zweite und dritte Anmerkung zu den "fußnoten" betrifft ihren Kontextcharakter. Kontexte entstanden für uns einmal durch Zitieren. Es war nicht schwer, die Blätter anzuordnen, bei den Zeichnungen ging er chronologisch vor; fügte zu jeder ein paar fremde Zeilen, vermerkte den Autor und vergaß nicht zu erwähnen, daß er selbst Erfinder und Verfasser dieser Nadelzeichnungen sei, umschreibt die Einleitung zu den "Makabren Zeichnungen [...]" das Herstellen solcher Kontexte, die auch gegeben waren in einem "Selbstportrait (Collage)" aus dem Jahre 1962 im deutlichen Verweis auf Max Ernst (12) oder in der Stilisierung, Werner Schreibs merkwürdige Geburt 1925 sei just auf den Tag gefallen, an welchem Paul Klee die Zeichnung mit dem Titel 'Die drei sanften Narrenworte' anfertigte (13), oder in einem "Semantischen Bild" von 1961, das K. R. O. Sonderborg und Luciano Lattanzi herbeizitierte (14). Unter Kontext im strengen Sinne subsumierten wir zum anderen unsere Versuche, einer Kunstart Adäquates mit den Mitteln einer anderen Kunstart herzustellen, im Fall der "fußnoten" z.B. das Procedere semantischer Malerei als Text zu wiederholen: "trägt dick auf macht sich dünne breitet sich aus [...] bricht ab. setzt an bricht ab setzt fort läßt nach und nach" undsoweiter. [Zur damaligen Rolle solcher Kontexte und Portraits vgl. ausführlicher Döhl: "Die 60er Jahre in Stuttgart"; derselbe: "Gertrude Stein und Stuttgart" bzw. "Das Buch Gertrud".] 4 Anläßlich einer ihrer Gemeinschaftsausstellungen, im September/Oktober 1962 in der Stuttgarter Galerie Lutz & Meyer (17a), kam es zu einem theoretischen Zusammenstoß mit der Bense-Schule, die den Begriff des Semantischen (an Frege, Morris und Peirce orientiert) anders faßte und den um Einverständnis bemühten Künstlern die Berechtigung ihrer Begrifflichkeit überhaupt bestritt. Diese Diskussion schlug Wellen bis ins Gästebuch, wo Schreib eine semantische Kugelschreiberzeichnung mit der Bemerkung Ich könnte mir selber 'Adam' auf den Bauchnabel tätowieren (18) subskribierte, während Lattanzi die Frage "Was ist semantische Malerei" nurmehr mit einer Zeichnung beantworten mochte. Ein Buch, das wir damals als Antwort auf die Angriffe aus der Bense-Schule planten, kam über sein Vorwort nicht hinaus, das ich im März 1964 anläßlich einer Ausstellung Luciano Lattanzis in der Galerie Elitzer in Saarbrücken als "Prolegomena zu einem Stil. Zur semiotischen Malerei Luciano Lattanzis & Werner Schreibs" vortrug. Ins Englische und Französische übersetzt, sollte es die fast vergriffene Programmschrift der beiden Künstler aus dem Jahre1961 ergänzen, wurde aber - einen kurzen Auszug in einem Mailänder Katalog ausgenommen (19) - nie gedruckt. Auch konnte ich, wegen des laufenden Semesters und Fertigstellung eines Manuskripts über "Das literarische Werk Hans Arps", im Januar 1965 an einer "Serenata Semantica" (u.a. mit Umbro Apollonio, Gillo Dorfles, Umberto Ecco und Lattanzi) in der Galleria Cadario nicht teilnehmen. Prolegomena zu einem Stil. Zur semiotischen Malerei Luciano Lattanzis
& Werner Schreibs. 5 In einem Brief aus dem Jahre 1961 an Klaus Burkhardt ist von einem Handpressendruck die Rede, der Horst Bingels Prosa "Der fliegende Küchenherd" und Werner Schreibs "Nadelätzungen zur Stundensäule" verbinden sollte. Dem Brief lagen farbige Andrucke und bereits die getippten Viten bei. Ein Druck kam nicht zustande. Im gleichen Brief teilt Werner Schreib mit, daß er alle Platten für ein Buch mit Paul Vogel fertig hab das unter dem Titel "steine / süden / schienen / schlafen / süden / schienen / schlafen" erscheinen sollte. aus diesen worten müßtest du versuchen, einen titel zu drucken, der ganz und gar deinen arbeiten entspricht: das ineinander verzahnte und verwachsene gewebe von elementen, die sich letztlich als zeilen erweisen : als die zeilen des titels. Dieses als Handpressendruck Klaus Burkhardts in Zusammenarbeit mit der Galerie Müller gedachte Buch ist nie erschienen, obwohl es seinen Platz in der avisierten Buchreihe mit Titeln von Max Bense/Karl-Georg Pfahler ("Reste eines Gesichtes"), Karl Fred Dahmen und mir ("so etwas wie eine geschichte von etwas"), Franz Mon/ K.O.Götz ("verläufe"), Theodor W. Adorno/Kaspar-Thomas Lenk ("Nachbilder zu Mahler") und Anneliese Hager/K.O.Götz ("Die rote Uhr") sehr wohl behauptet hätte. Eine Bild/Text-Seite in der von Paul Ignaz Vogel edierten Zeitschrift "neutralität" (Jg. 1, H. 1, o.J., S. 14) bestätigt dies nicht nur, sondern läßt auch Schlüsse auf das bildnerisch-typografische Konzept zu. Unerfüllt blieben ferner Pläne, von denen ein Brief aus dem Jahre 1963 spricht: ich bin dabei, mehrere publikationen vorzubereiten, mit originalradierungen und text. den text zu setzen und zu drucken, überlasse ich dir, für die radierungen werde ich sorgen. eine anzahl mitarbeiter habe ich bereits fest. andere werden folgen. / wenn ich dich bisher recht verstanden habe, bis du damit einverstanden, wenn ich die sache organisiere und dir das gesamte manuskript material zusende, wenn die vorbereitungen abgeschlossen sind. / es handelt sich vorläufig um drei verschiedene projekte. eine papierprobe und das format lege ich dir bei. es gehört zu den drei projekten. auflage etwa 50 stück." Wenn es vorerst auch unmöglich scheint, in jedem Fall anzugeben, um was für ein Buchprojekt es sich gehandelt hat, ist es nützlich, sich angesichts der wenigen Buchveröffentlichungen Werner Schreibs zu Lebzeiten (20) die Fülle seiner Buchpläne einmal gegenwärtig zu machen, nicht zuletzt in der Hofinung, bei erhaltenen Plattensätzen das eine oder andere Projekt posthum dennoch publizieren zu können. Aber nicht nur das druckgrafische, auch ein seit Ende der 50er Jahre zunehmendes literarisches Oeuvre erfuhr nie eine umfassendere Publikation, von einzelnen Texten einmal abgesehen, die zumeist Schreibs Lust am Unsinn erkennen lassen: Nonnenförsters Ein 1970 in "Egoist" abgedrucktes ("wenn in der mitte des jahres") und ein faksimiliertes Gedicht ("Notzucht in Paris"; exemplarischer Fall eines postdadaistischen Ikonoklasmus), zwei Zählgedichte, eine fingierte "vita" und die Kritikerschelte "Guten Morgen, Tante Lucy" (21a), vor allem aber die 1985 von Karl Riha und Franz-Josef Werner herausgegebenen "Gedichte und andere Texte" (22), sowie der von Karl Riha und S. J. Schmidt edierte "Ideographische Bericht 1967", "Gott raucht nicht / Er braucht Pudding" (23), lassen ablesen, daß hier noch mit einigen Uberraschungen zu rechnen ist. So recht Jürgen Claus mit der Feststellung hat, der Künstler sei für Werner Schreib der poetische Mensch schlechthin gewesen, so sehr das wenige Veröffentlichte und der literarische Nachlaß Claus' Diktum, seine Poesie konnte sich aller Medien bedienen, auch für die Literatur bestätigt, Claus' Annahme, Schreib habe seine poetischen Texte [...] für eine spätere Zeit zurückgehalten, dieser ungeduldige Mensch habe die Fähigkeit gehabt, warten zu können (24), ist allenfalls halbrichtig. Denn Werner Schreib hat nicht nur seinen Freunden seine Texte immer wieder einmal zur Diskussion gestellt, er hat durchaus an ihre Publikation gedacht. So erhielt ich Ende 1967 zwei Typoskripte mit der Bitte: hier schicke ich dir einige blätter poesie, bitte versuche doch einmal, ob mayer [korr. aus meyer, R.D.] sie drucken will. Ich sprach mit ihm sehr kurz darüber, als er hier war, und er zeigte sich interessiert. er will ja nach england, also ist eile geboten. / der ideogrammatische bericht sollte als buch oder etwas ähnliches erscheinen, denn die typographie ist ja der knüller bei dieser sache. Zwar dauerte es noch eine Weile, bis Hansjörg Mayer, der in den 60er Jahren eine international renommierte Edition und eine nicht minder ambitionierte Galerie betrieb, Stuttgart endgültig in Richtung London verließ, aber Werner Schreib hatte richtig herausgespürt, daß Hansjörg Mayer, nicht zuletzt bedingt durch ein mieses Stuttgarter Kulturklima, nurmehr mit halbem Herzen bei der Sache war und Ende der 60er Jahre sein Editionsprogramm deutlich drosselte bzw. zunehmend auf die Herausgabe der "Gesammelten Werke" Diter Rots auerichtete. So war denn auch in diesem sich zurückhaltenden und verändernden Verlagsprogramm kein Platz mehr für den "ideogrammatischen bericht", bei dem es sich um nichts anderes als den 1985 von Riha/Schmidt herausgegeben "Ideographischen Bericht 1967" handelte. In der Tat: Hansjörg Mayer wäre- wie seine Verlagsproduktion ausweist (25) - damals der einzige Drucker gewesen, der Schreibs Vorstellungen typografisch vernünftig hätte umsetzen können. Auch das zweite, von Werner Schreib dem Brief beigefügte Typoskript kam zuspät. Es war mit seinen sechs Texten aus dem Jahre 1966 für die Reihe "futura" bestimmt, die sich ihrem Ende näherte und Anfang 1968 - analog zu den 26 Buchstaben des Alphabets - mit der Nr. 26, mit Robert Fillous "galerie legitime", schloß. Was Riha für den "Ideographischen Bericht 1967" festhält, seinen schreibtechnischen Bezug "auf die Praktiken der konkreten Poesie", gilt ebenfalls für dieses zweite Typoskript, "La poésie arithmétique", dessen sechs "Zählgedichte" 1970 von mir wenigstens in die Zürcher Ausstellung "text buchstabe bild" (25a) aufgenommen werden konnten und damit - wenn auch indirekt - publiziert wurden. Das ist nicht ganz unwichtig, da "La poésie arithmétique" als Typoskript ein Ganzes darstellt und die Teilpublikationen in der Zeitschrift "Egoist" und der Sammlung "Gedichte und andere Texte" allenfalls fragmentarischen Wert besitzen, ausgenommen das in den "Ideographischen Bericht 1967" aufnommene Zählgedicht, da es dort in einem anderen Kontext funktionabel gemacht ist. LA POÉSIE ARITHMÉTIQUE 1 und 2 ist 3 1 und 2 ist 3 1 und 2 ist 3 1 und 1 ist 2 11 und 11 ist 12 elf und zwölf ist zwölf (a + b)2 = (c + d)2 = (e +
f)2 Bevor ich auf den rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund der hier vollständig in korrekter Form- und Reihenfolge wiedergegebenen Zählgedichte eingehe, die als Gattung auch mich damals praktisch interessierten, sei wenigstens darauf hingewiesen, daß es wenig Sinn macht, Ideen, Äußerungen oder Produktionen Werner Schreibs punktuell zu nehmen. Sie gehören in der Regel in den größeren Werkzusammenhang und müssen in ihren unterschiedlichen Ausfaltungen immer auch als Teil eines Ganzen verstanden werden, das mehr ist als die Summe seiner Teile, das in einem wörtlichen Sinne als work in progress gesehen und gelesen werden sollte. Kein Wunder also, wenn sich zur "Poésie arithmétique" anderen Orts und zu anderer Zeit Entsprechendes findet, z.B. als Gästebucheintrag am 16.8.1964, wo Werner Schreib eine semantische Filzstiftzeichnung unterschrieb: Es saßen die Knaben 3/4 vor Vier Werkgeschichtlich durchaus noch in der Tradition der "Makabren Zeichnungen [...]" und ihrer kompositorisch häufigen Verbindung von Pictura und Subscriptio, verweist der Text zugleich auf die weitere Tradition der Zähl- und Kreistexte der Unsinnspoesie, die Zeichnung zugleich auf Cachetagen, für die Werner Schreib wiederholt die Bezeichnung "Organisation arithmétique" wählte (26). Ähnliches ließe sich für das mit 1968 datierte "Monument für einen Sonnentag" (27) zeigen, dessen Titel mit einem Gästebucheintrag vom 15.5.1967 korrespondiert, einer Frottage, die "Ein Monument für Sonntag Morgen und eines für Mittwoch Nachmittag (Sparflamme)" getitelt ist, was wiederum auf ein Gedicht vom 9.1.1966 bezogen werden kann: Wenn das braune Knäckebrot (Im Vorbeigehen: die auffällige wenn-dann-Struktur dieses Textes ist bei Gedichten Werner Schreibs häufiger anzutreffen, z.B. in dem schon genannten Gedicht "wenn in der mitte des jahres", und entspricht durchaus einer Spielregel seiner semantischen Bilder). Ein weiteres Beziehungsfeld stellt sich her, wenn man das "Monument für einen Sonnentag" und das "Monument für Sonntag Morgen [...]" in den weiteren Kontext der "Monumente" (28) stellt, ikonographisch einerseits auf das "Semantische Monument" von 1960 (29), den Materialdruck "Schiefer Turm" von 1961 (30), andererseits auf die "Hommage à Frederic le Grand Roi de Prusse" (31), oder die Nadelzeichnung- bzw. -ätzung eines "Priapus" (32) zurückverfolgt. 6 Ich weiß nicht mehr, was ich Werner Schreib für diese Geburtstagsfeier und und das nie erschienene "MERZ 25" geschickt habe. 1986 habe ich mit der Collagen-Serie "MÄRZ 26" versucht, noch einmal an diesen Plan und Werner Schreib zu erinnern, ohne großen Erfolg. Schreibs explizite Hinwendung zu Kurt Schwitters in der zweiten Hälfte der 60er Jahre war keine Neuorientierung, allenfalls die Konkretisierung einer Zuneigung. Auf Grund seines grundsätzlichen Interesses am Dadeismus hatte ich in ihm für Probleme meiner Arp- und Dadaforschung stets einen interessierten Zuhörer. Gemeinsam war uns das Interesse an Hugo Balls Tagebuch "Die Flucht aus der Zeit" und damit an der aufregenden Existenz eines Künstlers, der in den 60er Jahren allenfalls als Hesse-Biograph noch bekannt war. Schon im August 1954 hatte Werner Schreib zusammen mit einem Freund im Taunus "ein DADA-Memorial" und "Hugo-Ball-Gedächtnis-Piknik" (sic, R.D.) (34) veranstaltet, das durch ein Foto belegt ist. Als später die Happening-Bewegung auch in der Bundesrepublik an Bedeutung und Boden gewann, verwies er wiederholt vergeblich auf diesen frühen eigenen Beitrag, so noch am 26.8.1968 in einem Brief an Wolf Vostell, in dem er das "Einwickeln" eines Menschen ergänzend zu und entsprechend einer 1966 erstellen Liste "semi-mechanischer Prozesse" "Empaquetage" nannte (34a). Kurt Schwitters aber war und blieb in der Zeit unserer Bekanntschaft der am meisten bedachte Künstler. Eher zufällig hatte ich in dem frühen Gehversuch "Carette" (35) des späteren Verlegers Jens Petersen dieses Interesse Schreibs entdeckt, der Kurt Schwitters dort eine Zinkätzung und die Zeilen gewidmet hatte: Wenn die Kirschen reif sind Nachdem wir eine Weile darüber gestritten hatten, ob nicht Bild und Text auch von Kurt Schwitters hätten sein können bzw. warum nicht, entwickelte sich bald so etwas wie eine freundschaftlich konkurrierende Schwitters-Rezeption. Beide besaßen wir das 1958 von Stefan Themerson in London in der Gaberbocchus-Press editierte "Kurt Schwitters in England" und zitierten gerne: When I am talking about the weather, einen Satz, der zeitweilig fast den Wert einer privaten 'Parole' hatte. Was in den frühen 60er Jahren eher spärlich von/über Schwitters erschien, wurde ausführlich diskutiert, so 1962 das Hausmann/Schwittersche Projekt "PIN and the story of PIN", 1964 der von Jes Petersen besorgte Reprint der "Memoiren Anna Blume in Bleie" oder 1965 die von Ernst Schwitters nicht sehr zuverlässig zusammengestellte Ausgabe von "Anna Blume"-Texten: "Anna Blume und ich". Spätestens mit den letztgenannten Publikationen waren auch die Anregungen für Schreibs "Poésie arithmétique" aus dem Jahre 1966 gegeben, deren geplanter Titel LA POÉSIE ARITHMÉTIQUE nicht von ungefähr an den Zweittitel der "Memoiren [...]" erinnert: Eine leichtfaßliche Methode zur Erlernung des Wahnsinns für Jedermann; deren Inhalt dagegen von Texten aus "Anna Blume und ich" provoziert wurde (vgl. dort vor allem die Seiten 126, 128 f. und 182 f.). Daß und in welcher Konsequenz uns auch die bildnerischen Arbeiten Schwitters', insbesondere seine Gattungsverwischungen beschäftigten, zeigen einige meiner Text-Grafik-Integrationen und, in Korrespondenz, ein "wundervolles f-gedicht", das mir Werner Schreib Anfang 1963 als Postkarte schickte. Als 1966 "Das Buch Es Anna" (36) erschien, nahm Werner Schreib dies zum Anlaß, Es Anna durch eigenhändige Unterschrift in die Reihe der Sympathisanten seiner "Proklamation" eines Kurt-Schwitters-Gedenkjahres 1967 einzureihen. Von den Feuilletons, auf die ich bei meiner Arbeit über Schwitters gestoßen war, wählten wir, nach einer der Forschung bis heute offensichtlich unbekannt gebliebenen Quelle, der "Prager Presse" vom 20. Mai 1926, "Das geliehene Fahrrad" aus, um es zusammen mit einem Aufsatz von mir zum 80sten Geburtstag Kurt Schwitters' in der "Stuttgarter Zeitung" zu publizieren (37). Schließlich haben wir auch meinen 1969 erschienen Aufsatz über "Kurt (Merz) Schwitters" während der Niederschrift noch mehrfach diskutiert (38). Ich lebe bewußt, wie ich lebe. Das Ziel ist Ernst, der Weg humorvoll. Oder sarkastisch. Oder Spiel. So ist das ganze Leben aller Menschen, wenn sie ohne äußeren Zwang leben. Wir spielen, bis uns der Tod abholt, hatte Kurt Schwitters am 24.7.1946 dem Freund der Hannoverschen Jahre, Christof Spengemann, geschrieben. Werner Schreib starb am 20. September 1979 bei einem Autounfall, Unmittelbar nach der Eröffnung seiner Ausstellung in unserer Baden-Badener Galerie, wie der Verlag Hauswedell am 16.3.1970 für die Freunde Werner Schreibs und des Verlages betonte. Die "SUITE ASTRONAUTIQUE", eine Folge von 9 Radierungen und einem Text von Paul Scheerbart, erschien 1970 nurmehr mit Nachlaßtempel und Signatur Ingeborg Schreibs, 1971 von den "Monumenten aus dem Zwergenkabinett", "hucke / nucke / wucke / wack" gefolgt. Im März 1972 bekam Werner Schreib, nicht in der Galerie der Edition Hansjörg Mayers die bereits 1969 geschlossen hatte, sondern in der Galerie Folkmar von Kolczynski doch noch, wenn auch posthum seine immer gewünschte Stuttgarter Einzelausstellung - Erinnerung an einen Künstler, der wie viele Stuttgart in den 60er Jahren berührt hatte, auf der Durchreise: Werner Schreib, Reinhold Koehler, Andre Thomkins, Arthur (Ady) Køpcke u.a., ohne daß die Stadt sie wahrnahm.
Hucke nucke wucke wack. Zur Werner-Schreib-Retrospektive in Hilden, Ludwigsburg, Bamberg u.a. Wer rückblickend etwas über das Werk Werner Schreibs sagen will, darf nicht nur über Bilder, er muß auch über den Künstler sprechen, der vielseitig und umtriebig auf mancher Kirchweih oder Sandkerwa trefflich zu tanzen verstand. Konkret möchte ich deshalb mit etwas beginnen, was der Besucher einer Kunstausstellung am wenigsten erwartet, nämlich mit dem Verlesen von 5 Gedichten. Das erste ist ein Vierzeiler ohne Uberschrift und lautet: Mimi Max und Manni Mix Das zweite Gedicht ist ausgesprochen akustischer Natur und "Gedicht zum Schreien!" überschrieben: iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiih Wer es derart mit Vokalen treibt, treibt es auch mit Konsonanten, Teilen oder der Gänze des Alphabets. Daß dies durchaus nicht ohne Hintersinn geschah, belegt ein Gedicht, zu dessen Verständnis ich vorwegschicke, daß 1957 Max Frisch's "Homo Faber" erschienen war, ein Roman, dessen Held ein ausschließlich technologisch-mathematisches Weltverständnis hat, das ihn blind macht für Unwägbarkeiten und Zufälle jenseits der Gesetze von "bloßer Addition" und planer Logik. Und: daß Faber jene Firma ist, die dem Schriftsteller seine Blei-, dem Zeichner seine Blei- und Farbstifte liefert. alle wurden getötet ein mensch ohne mücke ohne namen ohne otto ohne puppe ohne quinte ohne reue ohne tüte ohne ulkus ohne vw Wer derart mit dem Alphabet, mit quinte doppeldeutig doppeldeutig auch den maler lothar quinte (an)spielt und mit dem s sich selbst ausspart, spielt auch mit Zahlen. Und so finden wir bei unserem Autor selbstverständllich auch Zählgedichte, eine Poesié Arithmétique, die sich - ebenso selbstverständlich - "bloßer Addition" und mathematischer Logik entzieht, z.B.: 1 und 2 ist 3 Diese Poesié Arithmétique war über das Zahlenspiele hinaus, die wir damals spielte, auch eine Hommage à Kurt Schwitters, von dem noch zu reden sein wird. Im Augenblick möchte ich mich mit einem letzten Gedicht endgültig der heutigen Retrospektive nähern. Es nennt den Künstler beim Namen und spielt zugleich mit einer Aufforderung der Deutschen Bundespost: Schreib mal wieder Wer "Mal" heißt, Als Antwort auf jene gutgemeinten Ratschläge mancher Freunde, die Werner Schreib ausschließlich auf das Malen verpflichten wollten, ist dieser Vierzeiler zugleich eine typisch Schreibsche Antwort. 1. indem sich Werner Schreib genau jenes Mediums bedient, das man ihm verbieten wollte, des Gedichts. 2. indem er seine Antwort mit Adolph Strauch zeichnet. Da ist assoziativ natürlich Wilhelm Busch nicht weit. In einem anderen Fall hat Werner Schreib eine gezeichnete Collage Adolf von Menzel signiert, auf einer Postkarte seinen Namen zu Errnes Wichbar anagrammiert. Beispiele, die sich vermehren ließen. Ein solches Spiel mit Namen, ein solches Maskenspiel - denn Werner Schreib trat auch unter solchen Masken auf, als Daedalos zum Beispiel, Ingenieur, Feuerwerker und Architekt. Entwerfer von Luftskulpturen. Urgroßvater von Leonardo da Vinci. War in jungen Jahren Mitglied der Gewerkschaft IG Metall - Ein solches Maskenspiel, sagte ich, war ebenso typisch für Werner Schreib wie - nicht nur in seinem literarischen Werk - das Nebeneinander von Sinn und Unsinn. Das läßt sich im Vergleich zweier autobiographischer Skizzen verdeutlichen. Ich wähle aus ihnen jeweils den Passus, der die letzten Kriegsjahre und das direkte Kriegsende betrifft. Und lese dann in der ersten Skizze: 1943 wurde ich von der Hochschule weg eingezogen. Ich hatte mich eigentlich mehr darauf eingestellt, Ingenieur zu werden, eine Lehrzeit als Mechaniker und eine Gesellenprüfung hatte ich hinter mir. Der Krieg trat in seine entscheidende Phase ein, ich wurde sehr bald auch zum Leutnant in einem Artillerieregiment befördert, wahrscheinlich war ich ein guter Soldat. In dieser Eigenschaft machte ich den großen Rückzug mit - von Rußland auf vielen Umwegen bis nach Schleswig-Holstein. Die Soldaten, die dann noch übrig waren, wurden interniert. Man schrieb 1945. In bäuerlicher Umgebung entwickelte ich mein Zeichentalent. Ganz anders liest sich diese einschneidende Lebensspanne in der zweiten autobiographischen Notiz: [...] so wurde in mir der gedanke lebendig, der bald greifbare formen annahm: ich wollte general werden. kaum, daß ich diesen beruf gelernt hatte, bekam ich schon wieder Ärger mit der allerobrigsten obrigkeit. als general in einem artillerieregiment hatte ich es mir angewöhnt, mit meiner batterie stets nur signalgranaten zu verschießen, die beim aufschlag einen farbigen rauchpilz nach wahl hinterlassen, rot, blau oder gelb. durch vermischen der grundfarben konnte ich fast jede beliebige farbnuance herstellen, es war lediglich eine frage der jeweiligen menge. an manchen tagen waren regelrechte farbexplosionen das resultat meiner schießübungen. natürlich fiel das auf, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre ich vor ein kriegsgericht gekommen. zum glück war der krieg inzwischen beendet und die nachfrage nach generalen sank auf den nullpunkt. ich begab mich auf längere auslandsreisen. Ein solches Neben-, ja Miteinander von Unsinn und Sinn ist, wie gesagt, typisch für Werner Schreib. Jeder, der durch eine Ausstellung vorzüglich seiner bildnerischen Arbeiten geht, sollte dies mitbedenken. Aber auch, daß bei Werner Schreib literarische und bildnerische FiLtion oft kaum zu trennen sind. Denn hinter der Maske des Generals verbirgt sich auch der seine Farben mischende Maler. Die vom General erzeugten farbexplosionen lassen sich auch und 1. beziehen auf den tachistischen Automatismus, die Malerei des Informel, die Werner Schreib in seiner künstlerischen Entwicklung durchaus gestreift hat. Sie finden 2. in den späteren pyrografischen Aktionen Werner Schreibs ihre Entsprechung. Schließlich haben die längere[n] auslandsreisen Werner Schreib nach dem Kriege durch fast alle europäischen Länder geführt. Seine Tagebücher geben instruktive Auskünfte darüber, daß Werner Schreib zu einer Zeit, als viele deutsche Künstler und Kunstinteressierte noch mit den Sehstörungen des tausendjährigen Reiches kämpften, bereits Anschluß an die Errungenschaften der Kunstrevolution fand, Kontakte zur internationalen aktuellen Kunstszene knüpfen konnte. Anschluß an die Errungenschaften der Kunstrevolution heißt dabei vor allem: Anschluß an Dadaismus und Surrealismus. Konkret: an Kurt Schwitters und Max Ernst. Ablesbar wäre dies z.B. den Arbeiten, die Max Ernst herbeizitieren oder sich der Handschrift Kurt Schwitters', der Collage, bedienen. Kontakt zur internationalen Kunstszene meint konkret, daß Werner Schreib 1959 oder 1960 den italienischen Maler Luciano Lattanzi kennenlernte, sich mit ihm anfreundete und mit ihm zusammen zu Beginn der 60er Jahre die "Semantische Malerei" durch zahlreiche Ausstellungen in die Kunstgeschichte einschrieb. Ich darf mir eine im Trockenkurs eher ermüdende Erklärung ersparen, möchte aber auf eine Besonderheit dieser "Semantischen Bilder" hinweisen. Werner Schreib hat bei ihrer Herstellung nicht nur das zunächst weiche Kunstharz mit dem Spachtel oder anderen geeigneten Werkzeugen auf den Bildgrund aufgebracht, er hat seine Bilder auch "gesiegelt". Was heißen soll: er hat in das noch nicht erhärtete Material Formkürzel unserer technischen Zivilisation eingeprägt: Rädchen, Zahnräder, Zylinder, Hülsen, Schrauben und Gewinde, Muttern, Plaketten, Münzen undsofort. Durch solche Einstempelungen werden seine Bilder auch lesbar. Sei es, daß der Betrachter das spiegelverkehrte Zeichen einer Firma namens (Hoechst) entdeckt, aber in ihrer Nachbarschaft auch ein wei wei entziffern kann, sei es, daß sich von EHDEN zu DEATH ein Bogen spannt, sei es, daß Entzifferbares sich gleichsam zum Text ordnet, z.B. zu hucke nucke wucke wack, einer unsinnigen Wort- und Lautfolge, die Werner Schreib so gut gefiel, daß er sie zum Titel eines seiner schönen Grafik-Bücher, den "Monummente[n] aus dem Zwergenkabinett" machte. Der italienische Kunstschriftsteller Umbro Apollonio hat angesichts der "Semantischen Bilder" von einer Petrifikation des Informel gesprochen und mit dieser Formel sagen wollen, daß in der "Semantischen Malerei" der tachistische Automatismus, die informelle Spontaneität gleichsam erstarre. Da derartige Versteinerungen bei Werner Schreib zugleich Formkürzel unserer Zivilisation einschließen und bewahren, "konstituieren" sie, wie Hanno Reuther festgehalten hat, die archäologische Aura dieser Bilder. Sie haben aber heute, füge ich hinzu, wo wir beginnen, den Segnungen der technischen Zivilisation gegenüber kritischer zu werden, dieser archäologischen Aura eine durchaus neue Aktualität gewonnen. Biographisch hat das zitierende Aufbewahren von Formkürzeln technischer Zivilisation seine Entsprechung in Werner Schreibs ursprünglichem Berufsziel - dem Ingenieur. Kunstgeschichtlich findet sich für eine derartige ästhetische Kompensation eine weitere Entsprechung - im Werk von Kurt Schwitters. Auch der hatte, während des ersten Weltkriegs Werkstattzeichner im Eisenwerk Wülfel, in seine Zeichnungen, Aquarelle, Collagen und Assemblagen Teile von Rädern, Räder, ja ganze Räderwerke eingezeichnet, eingeklebt oder eingebaut. Wie sonst kein Künstler, ausgenommen Max Ernst, hat Kurt Schwitters Werner Schreib mehr als 20 Jahre immer wieder angeregt bis hin zu der Uberzeugung, daß wir den Begriff der "Kunst" erst los werden müssen, um zur "Kunst" zu gelangen. Schreibs Bezugnahme auf Kurt Schwitters erschöpft sich nicht nur in den parallelen Redeweisen der Zähl- und Alphabetgedichte (aus denen ich zitierte), in der parallelen Handschrift der Collage, in der vergleichbaren ästhetischen Kompensation zivilisatorisch-technischen Abfalls, sie geht bis zum wörtlichen Zitat und seiner Variation, z.B. in einem "Antrag auf Heiligsprechung von Schwitters", der wiederum so wörtlich auch nicht zu nehmen ist, was schon aus der Kleinigkeit erhellt, daß Werner Schreib die Schwittersche Tautologie Ewig währt am längsten (aus: ehrlich währt am längsten) mit Hinweis auf seine Adresse (die Paul-Ehrlich-Straße in Frankfurt) noch einmal banalisiert zu Paul Ehrlich bolzt am längsten. Hinter einer anderen Zeile - Kann man seine Witwe bolzen? - verbirgt sich assoziativ Wilhelm Buschs Witwe Bolte, die sich im Keller eine Portion ihres sprichwörtlichen Sauerkohls holt. Seinen 'Sauerkohl' fand Werner Schreib in Kurt Schwitters "Memoiren Anna Blumes in Bleie", in deren abschließender "Analyse" es heißt: Über das Hinterteil entscheidet das Vorderteil. Über das Vorderteil entscheidet die Beschwerde, respektive der Plättbolzen im Feuer, und einige Zeilen später: das Plätten ist heiß. Darüber entscheidet der Bolzen, woraus bei Werner Schreib ein permutierendes Spiel mit den Verben plätten und bolzen wird. Antrag auf Heiligsprechung von Schwitters Plättbolzen im Feuer macht heiß. Schließlich hat Werner Schreib, der kunstgeschichtliches Unrecht nicht ausstehen konnte, sogar einen regelrechten Feldzug für Kurt Schwitters und gegen die bundesrepublikanische Kulturpolitik geführt. Dieser Feldzug erreichte seinen Höhepunkt, als Werner Schreib das Jahr 1967 als Kurt-Schwitters-Jahr proklamierte, ernsthaft vorschlug, England, das Kurt Schwitters Asyl gewährt hatte, in Kurt-Schwitters-Land und die Geburtsstadt Hannover in Kurt-Schwitters-Stadt umzubenennen. Daß die Waldhausenstraße bei dieser Gelegenheit in Anna-Blume-Straße umzutaufen war, versteht sich von selbst; Werner Schreib hatte zu seiner hannoverschen Aktion bereits ein funkelnagelneues Straßenschild mitgebracht. Wie die Kunst ihre ästhetischen Feldzüge stets zu verlieren pflegt, so hat auch Werner Schreib seine Kampagne im Hannöverschen nicht gewonnen. Aber daß Kurt Schwitters, wenn auch nicht zu seinem 80sten, so doch wenigstens zu seinem 99sten Geburtstag in New York und Hannover eine große Retrospektive bekam, das hat Werner Schreib durch seine Aktionen (indirekt) mit vorbereitet. Neben dem literarischen Werk, den "Semantischen Bildern", den Collagen und zahlreichen Zeichnungen, den Punzen und Radierungen, auf die ich aus Zeitgründen nicht eingehen kann, haben auch diese Aktionen Werner Schreibs eine eigene Tradition im kunsthistorischen Kontext. 1956 bereits packten Werner Schreib und Gustl Stark für den Film "Zeichen an der Autobahn" ihre Kunstwerke kurzerhand auf einem Parkplatz aus und arrangierten sie zu einer kurzweiligen Freilichtausstellung. Kann man im Falle dieser spontanen Freilichtausstellung streiten, das von Werner Schreib Ende der 50er Jahre veranstaltete Hugo-Ball-Gedächtnis-Picknick im Taunus, das durch ein Foto belegt ist, ist zweifellos ein frühes Happening zu einer Zeit, in der die gleichnamige Bewegung in den USA noch gar nicht geboren war. Kunstgeschichtlich wäre dieses Hugo-Ball-Gedächtnis-Picknick einer Tradition zuzuordnen, die sich von vergleichbaren dadaistischen und surrealistischen Aktionen herschreibt. Einer Tradition, auf die Werner Schreib mit Namensnennung Hugo Balls, später Kurt Schwitters' ausdrücklich verweist. Wenn Werner Schreib Mitte der 60er Jahre dazu übergeht, seine Ausstellungen in Aktionen umzuwandeln, ja zunehmend anstelle von Ausstellungen in Mannheim, Büdingen, London, Wolfsburg, Hannover, Kassel und anderen Orts Aktionen zu starten, versucht er also nicht an einer inzwischen aktuellen Happening-Bewegung zu partizipieren, sondern er zieht lediglich Konsequenzen aus etwas, das er für sich selbst längst vorbereitet hatte. Der General mit den Signalgranaten steht Pate, wenn Werner Schreib dabei zunehmend den Feuerteufel spielt, verbal und faktisch ein ästhetisches Feuerwerk zündet, auf der 4. documenta in Kassel gar ein eigenes Bild in die Luft sprengt. Daß solche Aktionen auch politischen Hintersinn haben konnten, belegt das Fumagieren eines Ludwig-Erhardt-Plakats 1966 auf dem Londoner Destruction-in-Art-Symposion, nachdem der Politiker kurz zuvor die Künstler als Pinscher abqualifiziert hatte. destruction et transformation poetique lautet ein Stempeltext, den Werner Schreib in jener Zeit häufig verwandte. Er scheint in der Tat der geeigneteste Nenner, auf den sich seine ästhetischen Spiele mit durchaus tieferer Bedeutung bringen lassen. destruction et transformation / poetique hatte Werner Schreib 1966 auch ein Statement überschrieben, das dazu aufforderte, die Destruktionen im bildnerischen Medium [...] nicht isoliert zu betrachten, sondern im Kontext zu anderen bildnerischen Prinzipien. Sie vermögen letzten Endes die Antithese von Destruktion und Creation aufzuheben. Die Essenz [...] müßte daher lauten: destruction et transformation poetique - wobei ich Poetik im Sinne der brillanten Definiton von Lautreamont verstehe. Gemeint war jenes in der Übersetzung durch Max Ernst zumeist verkürzt zitierte aber polüpulär gewordene Diktum von der Schönheit als zufälliger Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf dem Operationstisch. Ich lebe bewußt, wie ich lebe. Das Ziel ist ernst, der Weg humorvoll. Oder sarkastisch. Oder Spiel. So ist das ganze Leben aller Menschen, wenn sie ohne äußeren Zwang leben. Wir spielen, bis uns der Tod abholt. Das schrieb Kurt Schwitters in einem seiner letzten Briefe, kurz vor seinem Tode, aus England. Als dieser und andere Briefe Kurt Schwitters 1974 in Deutschland endlich erschienen, konnte Werner Schreib sie nicht mehr lesen. Er war am 20. September 1969 bei einem sinnlosen Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Wie lebendig Werner Schreib in seinem Werk geblieben ist, belegt für den bildnerischen Teil die heutige Retrospektive. |
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