Prag Stuttgart und zurück.
von Bohumilá Grögerova / Josef Hiršal
Unser Beitrag zum "Symposium Max Bense" besteht aus einer kurzen historischen
Skizze der tschechischen konkreten bzw. experimentellen Poesie und ihrer
Beziehungen zur Stuttgarter Gruppe/Schule im engeren und weiteren Sinne.
Da wir keine Theoretiker sind, wird dieser Beitrag nicht den Charakter
einer wissenschaftlichen Analyse haben, sondern vor allem Fakten und
Informationen bieten.
Die tschechische Poesie der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wurde
- kurz zusammengefaßt und von dem überdauernden Einfluß
der älteren Generationen abgesehen - von den surrealistisch spielerischen
Versen Vítezslav Nezvals, dem poetistischen Liederschaffen Jaroslav
Seiferts, den metaphysisch-expressiven Kompositionen Vladimír
Holans, der sparsamen Wörteräquilibristik František Halas'
und der überraschend reifen originellen Jünglingspoesie Jirí
Ortens repräsentiert.
In den schwersten Jahren der stalinistischen Ära sprach uns durch
seinen befreienden grotesken Humor der deutsche Dichter Christian Morgenstern
am meisten an, und zwar dermaßen, daß wir beschlossen, seine
Werke selbst zu übersetzen. Ganze 15 Jahre haben wir der Arbeit
an der Übersetzung seiner "Galgenlieder" gewidmet, einem Werk,
welches auf uns eine große Faszination ausübte und nach wie
vor ausüben wird. Diese Sammlung, obwohl bereits zu Beginn unseres
Jahrhunderts entstanden, wurde durch ihre Beziehung zur Sprache und
- mit Max Bense gesprochen - durch ihr hohes Maß an ästhetischer
Information zum Vorzeichen vieler Tendenzen und Strömungen
der neueren Poesie. Ihre Übersetzung, die zum Teil in der Zeit
der Auflockerung (nach der bekannten Rede Chruschtschows über den
Persönlichkeitskult Stalins 1956) erscheinen durfte (1), hatte
direkten Einfluß auf viele Repräsentanten der nonkonformistischen
tschechischen Poesie. Sie brachte nämlich unter der beherrschenden
und tyrannisierenden Doktrin des sozialistischen Realismus eine echte
Erleichterung und fegte die konformistischen Produkte der Regimepoeten
vom Tisch. Der Band der Morgensternschen Gedichte war sofort vergriffen,
die Textproben wurden unzählige Male vom Rundfunk gesendet, sie
wurden auch häufig auf kleinen Theaterbühnen inszeniert und
auf Schallplatten aufgenommen. Das war einerseits Ausdruck eines langsamen
Erwachens aus einer durch die politische Profanisierung und den Mißbrauch
des Wortes erzeugten Lähmung, auf der anderen Seite entsprach es
dem Wusch, die Sprache zu reinigen.
Dies ist auch der Zeitpunkt, an dem die Namen Jirí Kolár
und Ladislav Novák genannt werden müssen. Sie waren damals
die ersten Bahnbrecher einer erweiterten Poesie, des poetischen
Experiments. Die damaligen Sammlungen Kolár', "Hold Kazimiru
Malevicovi" [Huldigung an Kasimir Malewitsch], "Y 61", "Gersaintuv vývesní
štít" [Gersaints Aushängeschild] und das "Sklenená
laborator" [Glaslaboratorium] Nováks waren Signale einer radikal
neuen Beziehung zur Poesie. Und es kann gesagt werden, daß sie
zugleich die ersten tschechischen Äußerungen der postapollinaireschen
visuellen Poesie waren.
Einen weiteren Durchbruch in diesen Bereich bedeutete für uns das
Kennenlernen der Arbeiten der Wiener Gruppe - H.C. Artmanns, Gerhard
Rühms, Friedrich Achleitners - anläßlich der Ausstellung
"Das österreichische Buch", die 1959 nach langem Fasten in Prag
stattfand.
Ein Bekannter Kolar', der Komponist Vladimír Šrámek, brachte
uns im August 1961 ins Café Slavia vier Nummern der Vierteljahresschrift
"Augenblick" mit dem Untertitel "Zeitschrift für Tendenz und Experiment",
als deren Herausgeber Max Bense, als deren Redakteurin Elisabeth Walther,
Stuttgart, genannt waren. In der ersten Nummer des 4. Jahrgangs (Oktober-Dezember
1959) war mit einer kurzen Einführung von Bense eine Décollage
Reinhold Koehlers abgedruckt, die Probe eines stochastischen Textes,
der aus dem Wortmaterial von Franz Kafkas "Das Schloß" programmiert
war, ferner vier Texte Helmut Heißenbüttels sowie Arbeiten
von Nathalie Sarraute und Jean Genet. Außerdem lasen wir dort
den Essay Benses, "Text und Kontext". Die weiteren drei Nummern waren
nicht weniger ansprechend und interessant, die in ihnen enthaltenen
Materialien von solcher Art, daß wir beschlossen, Bense Textproben
aus Kolár' "Hold Kazimiru Malevicovi" zu schicken. Es war hier
ja jedes Wort ein neuer Begriff, ein neuer Blick auf die geschriebene
Literatur. Und dazu zahlreiche kürzere und längere Texte -
Konstellationen, konkrete Gedichte, Ideogramme, Artikulationen mit uns
damals unbekannten Autorennamen: Alfred Andersch, Heißenbüttel,
Franz Mon, Arno Schmidt, Eugen Gomringer, Reinhard Döhl, Ferdinand
Kriwet, Diter Rot, Emmet Williams, Konrad Bayer sowie die uns bereits
bekannten Rühm, Achleitner, Artmann. Es erschien hier eine gewisse
Linie, eine gewisse Tendenz, in die auch die letzten Sammlungen Kolar'
perfekt passen würden. Aus allen Nummern wurde ersichtlich, daß
sich um Bense eine Gruppe gesammelt hatte, die sich mit experimenteller
bzw. konkreter Poesie befaßte. Anreger schienen uns dabei der
Schweizer Eugen Gomringer mit seinen "konstellationen", wichtiger aber
die Gruppe der Brasilianer um die Zeitschrift "Invençâo"
gewesen zu sein.
Kurze Zeit später fiel uns auch das "Erste Manifest der permutationellen
Kunst" in die Hände, in dem der französische Musikwissenschafler
Abraham A.Moles unter anderem sagt: Wir treten in die Epoche der
permutationellen Kunst ein. Die Permutation ist eine Kombinatorik einfacher
Elemente mit begrenzter Verschiedenheit, die der Wahrnehmung die Unermeßlichkeit
des Feldes der Möglichkeiten öffnet. [...] Das Wirkliche ist
das, was wir konstruieren, ist das, was wir als konstruiert wahrnehmen,
und die Kultur ist definitionsgemäß der Ausdruck der Künstlichkeit
einer Umgebung (2).
Als der Autor die Versuche mit der Tonalseite des Wortes erwähnt,
führt er nach Morgenstern, Marinetti, nach den Dadaisten Ball,
Hausmann, Schwitters, den russischen Konstruktivisten Chlebnikov, Kamenskij,
Krutschenych und Zdanewitsch auch die Franzosen Albert-Birot, Pétronio,
Artaud und als letzte Dufrêne, Bernard Heidsieck und Henri Chopin
an.
Und so machten auch wir uns an gemeinsame experimentelle Texte. Manche
schrieben wir nach der Systematik Benses - grammatische, logische, stochastische
und Intertexte - bei anderen erfanden wir die Methoden und Vorgänge
selbst: Textentstehung, Sprichwörter, Partituren, Portraits, Mikrogramme,
Koazervate, syngamische Texte und Objektagen. Die Systeme waren freilich
offen und beweglich, innen zogen wir keine Grenzen sondern schufen uns
im Gegenteil einen möglichst großen Raum. Es war eine königliche
Unterhaltung, wie wenn wir Käfige öffneten und den Vögeln
die Freiheit gäben.
Durch den bibliothekarischen Austauschdienst hatten wir uns den Sammelband
"movens" besorgt, der 1960 im Wiesbadener Limes-Verlag von Franz Mon
in Zusammenarbeit mit Walter Höllerer und Manfred de la Motte herausgegeben
war. Wie schon mehrmals zuvor schrieben wir mit der Hand ab, was uns
interessierte, da es in Prag keine Kopiermöglichkeit gab. Auf die
selbe Art haben wir uns den Essay "Plakatwelt" von Bense und die 3.
Nummer der Reihe "material" ausgeborgt. Emmet Williams hatte hier seine
"konkretionen" abgedruckt, in denen er erprobte, was ein systematisches
Ausnutzen der Möglichkeiten der Schreibmaschine leisten konnte.
Weiter müssen hier die Namen Rot, Gomringer, André Thomkins,
J.R.Scott, Claus Bremer, Jean Tinguely genannt werden, von denen wir
manche aus dem "Augenblick" oder den Studien Benses bereits kannten.
Wir hatten beschlossen, jetzt erst recht zu beginnen. Wir hatten an
Bense geschrieben. Der antwortete innerhalb von zwei Wochen mit der
kurzen Mitteilung, daß er sich überwiegend mit Texttopologie
befasse, und schickte uns eine umfangreiche Sendung einzelner Nummern
der Zeitschrift "Augenblick", der Reihe "rot", die er gemeinsam mit
Elisabeth Walther herausgab und deren Hefte einzelnen Autoren gewidmet
waren, sowie einige Hefte der "Grundlagenstudien aus Kybernetik und
Geisteswissenschaft" mit reinen Fachtexten.
Unser gemeinsames Werk beendeten wir im März 1962, nannten es "JOB-BOJ"
[= Josef/Bohumila, Bohumila/Josef] und schickten es in Form einer Kopie
an Bense. Gleichzeitig schrieben wir ihm:
Ende April soll in der Redaktion der Zeitschrift "Svetová
literatura", die in der Auflage von 24.000 erscheint, ein Dichter- und
Übersetzersymposium veranstaltet werden, wo wir vorhaben, über
Ihre Arbeit zu berichten und der Redaktion einige Artikel von der Zeitschrift
"Augenblick" sowie Texte von Heißenbüttel, F. Mon, D. Rot,
E. Williams, H.G. Helms u.a. anzubieten. Da bei uns all diese Tendenzen
total unbekannt sind - erst vor kurzem hat in Prag der erste Vortrag
über Kybernetik und synthetische Musik stattgefunden - wird solch
eine Information in unserer besten Literaturrevue äußerst
nützlich sein.
Bereits in der Zeitschrift "Augenblick" erweckten die reduzierten Texte
Helmut Heißenbüttels unser Interesse. Seitdem begegneten
sie uns sporadisch und je mehr wir sie lasen, desto mehr zogen sie uns
an. Seinen ersten Gedichtband "Kombinationen" von 1954 kannten wir bisher
nicht, doch über den internationalen Austauschdienst konnten wir
uns seine "Topographien" von 1957 ausleihen. Wieder schrieben wir mit
der Hand die ganze Sammlung ab.
Im Juli bot uns Dr. Arsen Pohribný an, im Dezember im Klub der
bildenden Künstler Mánes einen Vortrag mit Leseproben und
Bildprojektionen über die neuen Typen der Poesie zu veranstalten.
Dieses Angebot haben wir dankbar angenommen, und am 20. Dezember war
der Klubsaal bis zum letzten Platz besetzt. Den Vortrag hatten wir "Über
die Philosophie der Sprache, die statistische Ästhetik und das
zeitgenössische literarische Experiment" betitelt. Nach der theoretischen
Einführung, in der viele Studien, Essays, Manifeste und Artikel
von Moles, Gomringer, Bense, der Noigandres-Gruppe, Döhl, Pierre
Garnier, den Autoren der Wiener Gruppe etc. zitiert wurden, folgten
Bildprojektionen von Konstellationen, Textpartituren, Konkretionen,
Permutationen, Realisationen und Variationen und anschließend
Leseproben. Es waren insgesamt zweiunddreißig Autoren, die wir
vorstellten. Das größte Interesse erweckten aber die logischen
Texte Heißenbüttels, und nach dem Vortrag teilte uns Vladimir
Kafka, Redakteur des Verlags Mladá fronta mit, daß er diesen
Autor gerne herausgeben möchte.
Zu Beginn des Jahres 1963 kam es zu weiteren schriftlichen Kontakten.
Von Gomringer bekamen wir einige Nummern der Reihe "konkrete poesie/poesia
concreta" und aus Sao Paulo schrieb Haroldo de Campos. Bense hatte bei
einem Besuch in Brasilien die Mitglieder der Noigandres-Gruppe über
die neuen Tendenzen bei uns informiert und empfohlen, Kontakte aufzunehmen.
Haroldo de Campos selbst übersetzte Chlebnikow, Jewtuschenko, Wosnessenski;
die Gedichttechnologie Majakowskis stellte er in Zusammenhang mit der
statistischen Ästhetik Benses. Wir waren Bense sehr dankbar, daß
er uns mit den Brasilianern bekannt machte. Er schickte uns einen Ausstellungskatalog
der Noigandres-Gruppe und weitere Unterlagen. Wir schickten ihm wiederum
fortlaufend alles, von dem wir vermuteten, daß es ihn interessieren
könnte.
Mit den Brasilianern entfaltete sich eine umfangreiche Korrespondenz,
Haroldo de Campos überließ uns seine Texte und Texte seines
Bruders und seiner Freunde, dasselbe taten auch wir für seine Zeitschrift
"Invençâo", die später der tschechischen Experimentalpoesie
eine ganze Nummer widmete. Wir hatten viel mehr gemeinsam, als man von
Antipoden hätte erwarten können. So übersetzte Hiršal
chinesische, Haroldo de Campos japanische Poesie, und er wie auch wir
übersetzten Morgenstern.
Aus Rezensionen in der ausländischen Presse erfuhren wir, daß
Heißenbüttel seine ersten drei "Textbücher" herausgegeben
hatte. Wir schrieben ihm über die Adresse des Süddeutschen
Rundfunks, wo er die Redaktion Radio-Essay leitete. Nach nicht einmal
14 Tagen lag die Antwort Heißenbüttels vor. Er war über
uns von Bense informiert, schickte uns die drei "Textbücher", und
wir begannen mit der Redaktion der Zeitschrift "Svetová literatura"
und dem Verlag Mladá fronta wegen der Herausgabe zu verhandeln.
Anfang August hatte sich wieder jemand gemeldet. Diesmal aus dem französischen
Amiens. Garnier schrieb, daß er sich mit der visuellen und phonetischen
Poesie befasse und daß Bense, mit dem er die gemeinsamen Probleme
der zeitgenössischen Poesie besprochen habe, ihm unsere Adresse
gegeben und empfohlen habe, mit uns Konktakt aufzunehmen, da es auch
in der Tschechoslowakei ähnliche Tendenzen gebe. Er habe bereits
mit Dichtern, Malern und Bildhauern aus Frankreich, Belgien und Holland
eine Zusammenarbeit begonnen und stehe auch mit den Brasilianern in
Kontakt. Er schickte uns einige Nummern seiner Zeitschrift "Les Lettres".
Seinem nächsten Brief legte Garnier das "projet de plan-pilote"
der französischen Gruppe bei und bat, es zu studieren, unsere Bemerkungen
anzuschließen und, falls wir keine Einwände hätten,
Mitglieder des internationalen Komitees zu werden. Er führte Namen
französischer Dichter an, die sich mit den visuellen Kreationen
und überwiegend phonetischen Kompositionen befaßten, wie
Dufrêne, Heidsieck, Pétronio, Chopin. Er selbst und seine
Frau Ilse nannten ihre Kompositionen "sonies". Die "Position I du Mouvement
International" Garniers konsultierten wir mit Novák und Jan Grossman,
dem Dramaturgen des Theaters "Am Geländer", und alle gemeinsam
haben wir sie unterschrieben.
Wir bekamen jetzt so viele Unterlagen mit immer weiteren neuen Namen,
daß wir planten, Ende des Jahres im Mánes in Fortsetzung
des vorjährigen einen neuen Vortrag zu halten. Er trug den Titel
"Über die natürliche und die künstliche Poesie". Auch
diesmal war der Saal überfüllt. Einführend sprachen wir
wieder über die statistische Ästhetik Benses und über
die Ausgangspunkte des "Ersten Manifestes der internationalen Bewegung"
Garniers. Als Proben dienten hauptsächlich die Arbeiten der brasilianischen
Noigandres-Gruppe, die Visualkreationen Garniers und Texte Heißenbüttels,
die wir zum Teil ins Tschechische übersetzt hatten. Von der phonetischen
Poesie stellten wir die "poème-action" Ilse Garniers, den "Nachtgänger"
Nováks und die "Entropie I" von Nápravník vor.
Anfang 1964 besuchte Haroldo de Campos Stuttgart. Wir hatten dies ausgenutzt,
ihn für den März nach Prag einzuladen, um gemeinsam mit seinem
Freund, dem Komponisten Julio Medaglia in Mánes einen Vortrag
zu halten, Auf dem Programm ihres Besuches standen auch Atelierbesuche
bei dem Maler Vladimír Fuka, bei Jan Kotík, Karel Malich
und Kolár. Haroldo de Campos' Artikel über das künstlerische
Bestreben der Mitglieder der Gruppe "Noigandres" veröffentlichten
wir im Wochenblatt "Výtvarná práce" [Künstlerische
Arbeit] und sein Interview über die Position der Gruppe in der
brasilianischen Kultur in "Literární noviny" [Literaturzeitung].
Ende März kam aus Wien eine gemeinsame Karte von Ernst Jandl und
Döhl. Auch sie wollten mit uns Kontakt aufnehmen, schriftlich oder
persönlich. Döhl berief sich auf Bense. Die beiden Namen waren
uns nicht unbekannt. Jandl kannten wir aus der von Döhl herausgegebenen
Anthologie "Zwischen Räume - 8 mal Gedichte", Limes Verlag 1963,
und Döhl aus dem "Augenblick" und seinen "fingerübungen",
Limes Verlag 1962, die uns Haroldo de Campos mitgebracht hatte. An Döhl,
der uns als spiritus agens der Stuttgarter Gruppe erschien, schrieben
wir einen ausgiebigen Brief über alle Veranstaltungen, die wir
im Namen der neuen Poesie unternahmen, sowie über den neuen Plan,
eine umfangreiche Anthologie der internationalen Experimentalpoesie
zusammenzustellen, wie wir es bereits mit Bense und Haroldo de Campos'
besprochen hatten. Döhl regte seine Freunde Claus Henneberg, Ludwig
Harig und Franz Mon an, uns ihre Bücher und Typoskripte zukommen
zu lassen, und empfahl uns die österreichische Zeitschrift "Manuskripte"
und deren Chefredakteur Alfred Kolleritsch. Mit Döhl verwickelten
wir uns später in lange schriftliche Diskussionen, ob die neue
Poesie progressiv oder experimentell genannt werden solle,
über den russischen Formalismus und die russischen Futuristen Majakowski,
Chlebnikow und dessen "zaumnyj jazyk", an denen er im Rahmen seiner
Forschungen zur akustischen Poesie interessiert war.
Im ersten Ferienmonat dieses Jahres kamen, von uns eingeladen, Ilse
und Pierre Garnier mit einem Auto voller Bücher und Typoskripte
von sich selbst sowie von ihren Freunden nach Prag. Václav Danek
nahm mit Garnier ein Rundfunkinterview über die zeitgenössischen
progressiven Richtungen in der französischen Poesie auf, gemeinsam
besuchten wir die Ateliers von Kolár und Karel Malich, sprachen
mit Kunstkritikern und Verlagsredakteuren und machten auch einen Ausflug
auf die Burg Karlstein. Novák, der aus Trebíc die Garniers
begrüßen gekommen war, nahm dann die französischen Gäste
mit sich nach Mähren.
Zu gleicher Zeit übersetzten wir für den Verlag Mladá
fronta die Texte Heißenbüttels und in der Zeitschrift "Plamen"
veröffentlichten wir eine umfangreiche Information über "Die
Poesie der Texte" [Poesie textu], bei der wir nach einer theoretischen
Einführung zwanzig Autoren mit Textproben vorstellten. Und wir
begrüßten sehr, daß unsere Publikation eine Umfrage
mit breiter Diskussion, "Was halten Sie von der konkreten Poesie", zur
Folge hatte.
Dank einer Einladung des Direktors der Kunsthalle Baden-Baden, Dietrich
Mahlow, zur Ausstellung "Bild und Bühne", die Ende Januar 1965
eröffnet wurde, konnten wir auch Stuttgart besuchen - einer nach
dem anderen, manchmal bekamen wir nämlich keine Erlaubnis, gemeinsam
auszureisen. Wir wurden sehr freundlich im Hause Döhl aufgenommen,
lernten persönlich Bense, Elisabeth Walther, Heißenbüttel
kennen und besuchten auch zwei Künstler, Günther C. Kirchberger
und Klaus Burkhardt. Durch Zufall hielt zur gleichen Zeit an der Technischen
Hochschule Stuttgart auch Hans Magnus Enzensberger, dessen Gedichte
wir damals übersetzten und der schon früher Prag besucht hatte,
einen Vortrag, in dessen Folge es zu einem poetologischen Streit zwischen
ihm und Döhl kam.
Unsere Kulturhorizonte erweiterten sich also endlich und mit ihnen die
Publikationsmöglichkeiten. Mit dem Direktor des Odeon-Verlags verabredeten
wir die Herausgabe einer Anthologie internationaler Experimentalpoesie
und die tschechische Übersetzung der "Theorie der Texte" Benses.
Im Verlag Ceskolovenský spisovatel deutete sich die Möglichkeit
an, einen Sammelband theoretischer Studien, Artikel und Manifeste der
Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herauszugeben, den
wir entworfen hatten. Das Gutachten sollte Jirí Levý schreiben,
vielleicht auch deshalb, weil er kürzlich an der Technischen Hochschule
in Stuttgart war, um Vorträge zu halten und Erfahrungen zu sammeln
(3). Im Verlag Mladá fronta waren inzwischen die Texte Heißenbüttels
bereits im Druck. Ende März veranstalteten wir einen Vortrag über
die auditive Poesie von den alten onomatopoetischen Schöpfungen
über Hausmann, Schwitters bis zu der heutigen phonischen Poesie,
die mit Hilfe der modernen technischen Mittel in den Rundfunkstudios
entsteht. Als Beispiele konnte das Publikum Lautgedichte Raoul Hausmanns,
die "Ursonate" Kurt Schwitters', das Souffle-Manifest und Spatial Garniers,
Ilse Garniers Sprechaktionen, Nováks "Samohlásky" [Selbstlaute]
und Artikulationen Mons hören. Falls es uns gelingen sollte, Aufnahmen
von Chopin, Kriwet und Jandl zu bekommen, war ein weiterer Abend geplant.
Vor allem suchten wir jedoch die auditiven Gedichte der russischen Futuristen
Chlebnikow, Krutschenych und Zdanewitsch, die jedoch kaum aufzutreiben
waren. Die selben Vorträge mit Hörproben organisierte auch
Novák an der Brünner Universität.
Im Mai 1965 eröffnete Max Bense in Stuttgart die Ausstellung "Konkrete
Poesie international", in der Texte von uns sowie die tschechischen
Kulturzeitschriften "Plamen", "Tvár", "Sešity", "Výtvarná
práce" und "Svetová literatura" vertreten waren. Aus gleichem
Anlaß erschien in der Edition Hansjörg Mayer die Mappe "konkrete
poesie international" mit einer Arbeit auch von uns, und ein Jahr später
als "futura 6" eine Auswahl aus "job boj". Bei der Gelegenheit luden
wir Bense und Elisabeth Walther nach Prag ein, beide versprachen zu
kommen, doch ihr Besuch hat sich leider nie verwirklicht.
Zwischendurch begann sich in Prag das Anthologiekarussell zu drehen.
Wir erhielten Beiträge aus Frankreich, Deutschland, Österreich,
England, Italien, Amerika, Brasilien, Belgien, Holland, Spanien und
auch Japan und rechneten mit 60 bis 80 Autoren.
Im Juli kam aus Paris Chopin und hielt in Prag einen Vortrag, bei dem
er seine phonische Kreation "L'énergie du sommeil" und einen
eigenen Film vorstellte.
Nach den Ferien erschienen in einer Auflage von 1200 Exemplaren im Verlag
Mladá fronta die Texte Heißenbüttels [Texty] und waren
am selben Tag vergriffen, wovon sich auch Mayer überzeugen konnte,
der damals gerade in Prag war, uns seine eigene typographische Serie
der "typoems" widmete und Beiträge für eine geplante Ausstellung
"Typovisuelle Komponenten in der avantgardistischen Poesie" suchte.
Von Bense erhielten wir kurze Zeit später eine offizielle Einladung
zu der Ausstellung, die Anfang des kommenden Jahres veranstaltet werden
sollte.
Im November kam erstmals auch Helmut Heißenbüttel nach Prag
und eröffnete in der Galerie auf dem Karlsplatz die Ausstellung
seines Freundes Koehler. Im Rundfunk wurde ein Interview mit ihm aufgenommen
und wir besuchten selbstverständlich gemeinsam den Verlag, einige
Redaktionen und Ateliers unserer Künstlerfreunde.
Wir waren inzwischen zu vielen Ausstellungen der Visualpoesie eingeladen
- nach Amerika, Spanien, Mexiko, England, - konnten aber an den meisten
wegen der riesigen Anhäufung von Arbeit an Ubersetzungen, Vorträgen,
Anthologien und eigenen Texten nicht teilnehmen.
Nach einem weiteren Besuch Chopins im März 1966 beschlossen wir,
in der Prager poetischen Weinstube Viola einen Abend mit experimenteller
Posie zu veranstalten und benannten ihn nach einem akustischen Text
Jandls "Bestiarium". Wir führten da die "Crirythmes" von Dufrêne,
"Lautgedichte" von Mon, "L'énergie du sommeil" von Chopin, Heidsiecks
"poème-particions", Garniers "Sprechaktionen", Döhls "Märchen"
und Nováks "Samohlásky" auf.
Im Sommer brachte Garnier eine neue Sache in Gang, einen detalliert
dokumentierten Band mit dem Titel "Connaisez-vous le spatialisme?",
eine Anthologie mit theoretischen Studien und neuen Poesiearten. Gomriger
kam zu einem Kurzbesuch nach Prag und wir konnten endlich die Ubersetzung
der "teorie textu" [Theorie der Texte] Benses beenden. Sie erschien
1967 mit einem Vorwort von Levý und unseren Anmerkungen im Verlag
Odeon. Ein Kapitel aus diesem Buch, "Die Grundlagen der modernen Ästhetik",
wurde in unserer Revue "Estetika" veröffentlicht. Den Essay "Text
und Kontext" nahmen wir in die Anthologie theoretischer Arbeiten "Zur
Ästhetik der technischen Kultur" (4) auf.
Die Herbsteinladung der Darmstädter Akademie für Sprache und
Dichtung war großzügig bemessen. So konnten der Redakteur
des Verlags Mladá fronta, Kafka, und wir diese Einladung auch
zu einem Besuch in Stuttgart ausnutzen, wo wir wieder im Hause Döhls
Aufnahme fanden. Wir besuchten die Galerie der Edition Mayer, in der
gerade das Alphabet "abfhilnouvxyz" von Siegfried Cremer ausgestellt
wurde, den Buchhändler und Galeristen Wendelin Niedlich und den
Sammler Hanns Sohm in Markgröningen, wo wir die umfassenden Sammlungen
der konkreten und visuellen Poesie, der Fluxus- und Happening-Bewegung
bewunderten (5). Den letzten Abend vor der Abreise verbrachten wir in
Botnang mit Heißenbüttel und Döhl.
Schmidt teilte uns aus Karlsruhe mit, daß das nächste europäische
Augustforum in Alpbach zum Thema "Macht-Recht-Moral" stattfinden solle.
An ihm wollte Hiršal allein teilnehmen, 1968 auch Bohumila Grögerová.
Zu dieser Zeit begannen sich jedoch auf unserer politischen Bühne
Szenen abzuspielen, denen wir zuerst keine Aufmerksamkeit schenkten,
die für uns alle allerdings umwälzend und schicksalhaft werden
sollten.
Im Februar 1968 eröffnete Hans Peter Riese im Nürnberger Museum
für moderne Kunst die Ausstellung "Konstruktive Tendenzen aus der
Tschechoslowakei", in der auch viele unserer Freunde vertreten waren.
Am anderen Ende der Welt, im amerikanischen Bloomington in Indiana,
fanden den ganzen Februar über eine Reihe von Vorträgen, Ausstellungen,
Konzerten, Aktionen und Autorenlesungen statt - alles im Namen der konkreten
Poesie, Musik und Computergraphik. An diesen Veranstaltungen war auch
unsere Gruppe, Jirí Kolár, Ladislav Novák, Václav
Havel, Jirí Valoch und wir zwei, beteiligt.
Im März erschien endlich in den Buchhandlungen unsere Anthologie
"experimentální poezie" [Experimentelle Poesie]. Statt
der Autorenhonorare verschickten wir Autorenexemplare, der Rest war
schnell restlos vergriffen.
Das Kulturgeschehen trat jedoch in den Hintergrund. Ausstellungen und
Vorträge wurden nurmehr sporadisch besucht, dafür fanden immer
mehr Treffen mit Politikern statt. Bedeutende Umwandlungen brachte auch
die Plenarsitzung des Verbands der tschechoslowskischen Schriftsteller.
Während die Wahl zum neuen Staatspräsidenten lief (nach dem
zurückgetretenen Antonin Novotný wurde es Ludvík
Svoboda), nahmen wir in Nürnberg am Kolloquium "Denkprinzip Collage"
teil, zu dem uns der ehemalige Leiter der Kunsthalle Baden-Baden und
jetzige Direktor des Instituts für moderne Kunst, Mahlow, eingeladen
hatte. Weitere Teilnehmer waren Mon, Eberhard Roters, Bremer, Tadeusz
Kantor, Klaus Hashagen und andere. Aus Nürnberg fuhren wir nach
München zu Konrad Balder Schäuffelen und beteiligten uns an
einer Lesung von Texten Heißenbüttels.
Fast gleichzeitig erschien nach vielen Komplikationen im Verlag Ceskolovenský
spisovatel unsere Sammlung "JOB-BOJ" und im Verlag Mladá fronta
ein weiterer Band mit Texten Heißenbüttels, "Prohlášení
nosorozce" [Die Erklärung des Nashorns]. Gleich nach Erhalt der
Druckfahnen kam Heißenbüttel nach Prag, machte ein Interview
für den Rundfunk und nahm bei uns zu Hause einige seiner Texte
auf. Kurz danach trafen wir ihn wieder in Karlsruhe auf einem von Schmidt
organisierten Symposium, das von einer Ausstellung der Collagen Kolar'
und Autorenlesungen (Heinz Gappmayr, Rühm, Peter Weiermair u.a.)
umrahmt war. Wie bei anderen Veranstaltungen dieser Jahre erzielten
unsere "Variationen auf einen Satz von Josef Stalin" trotz ihrer Länge
nicht nur einen Heiterkeitserfolg.
Die Arbeit wuchs uns über den Kopf, machte aber immer weniger Spaß,
da wir uns kaum noch auf sie konzentrieren konnten. Die Spannung der
Tage und Wochen spürte man immer stärker, in allen Richtungen.
In dieser Atmosphäre lud uns Döhl mit einem formalen Schreiben
zu den Tagen für "Neuen Literatur in Hof" ein und präzisierte
das Datum auf Oktober. Vorher erwartete uns aber noch das Forum in Alpbach,
wohin wir gemeinsam am 16. August fuhren. Und dort überraschte
uns der Einmarsch der sowjetischen Truppen. Aus Alpbach übersiedelten
wir nach Wien, wohin unsere Familien nachkamen. Eine unschätzbare
Hilfe gewährten uns die "Österreichische Gesellschaft für
Literatur" und deren Direktor Wolfgang Kraus. In diesen schweren Tagen,
wo wir uns entscheiden mußten, ob wir nach Hause zurückkehren
oder emigrieren sollten, wußten wir den guten Willen und die finanzielle
Hilfe unserer Freunde Döhl, der nach Wien kam, um uns nach Stuttgart
zu holen, Schmidt, der uns eine Anstellung anbot, Jandl und Friederike
Mayröcker, die uns in Wien auf alle erdenklichen Arten halfen,
außergewöhnlich zu schätzen. Bohumila Grögerová
kehrte schließlich als erste nach Prag zurück, während
Hiršal noch die Frankfurter Buchmesse, die Documenta in Kassel besuchte
und an den Tagen für "Neue Literatur in Hof" teilnahm. Auf Initiative
der Gruppe 47 fand im November unter der Schirmherrschaft der Gesellschaft
Pro Helvetia ein Treffen tschechischer und slowakischer Schriftsteller
mit Peter Bichsel, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Günther
Grass, Uwe Johnson und anderen im Schweizer Rischlikon statt.
Mitte Januar 1969 trafen wir - aus Prag (Bohumila Grögerová)
bzw. direkt aus Wien kommend (Hiršal) - in Nürnberg wieder zusammen
und fuhren weiter nach Stuttgart, wohin wir wie im Vorjahr von Döhl
offiziell zu einem Übersetzerkolloquium eingeladen waren. Selbstverständlich
besuchten wir bei dieser Gelegenheit Bense und Elisabeth Walther, die
mit Ludwig Harig zu Benses 60. Geburtstag statt einer Festschrift die
Anthologie "muster möglicher welten" vorbereitete, zu der wir gerne
unseren Beitrag versprachen.
Trotz der unerfreulichen Zukunftsaussichten machten wir mit Döhl
eine reiche Zusammenarbeit aus. Im Mánes soll er einen Vortrag
über den Dadaismus halten. Bohumila Grögerová übersetzte
eines seiner experimentellen Hörspiele und Hiršal arrangierte ein
Rundfunkinterview. Kafka organisierte die offizielle Einladung. Für
den Verlag Ceskolovenský spisovatel hatten wir als weitere gemeinsame
Arbeit eine Anthologie der Nonsens-Poesie mit einer Studie von Döhl
und in seiner Auswahl vorgeschlagen. Döhl vermittelte uns die Möglichkeit,
mit dem Hessischen (Grögerová: "Zweiäugiges Wortspiel")
und mit dem Westdeutschen Rundfunk zusammenzuarbeiten, für den
wir die Collage "Lunovis" schrieben (die Döhl 1970 aus Prag hinausschmuggelte).
Für Döhl wiederum ergab sich die Möglichkeit, mit dem
Experimentalstudio des tschechischen Rundfunks, welches in Liberec [Reichenberg]
errichtet wurde und an dessen Arbeit wir uns gleichfalls beteiligten,
zusammenzuarbeiten.
Mitte März kam Döhl tatsächlich nach Prag, wo er am 18.3.
seinen Vortrag "Uber das Wesen des Dadaismus" hielt und Hiršal in einem
Rundfunk-Interview Rede und Antwort stand. Natürlich lernte er
bei dieser Gelegenheit, oft im Café Slavia, auch unsere Freunde
Kolár, Novák, Havel, Jirí Valoch u.a. persönlich
kennen, besuchte mit uns die Ateliers von Kolár, Bela Kolárová,
Karel Trinkewitz u.a., diskutierte mit Vratislav Effenberger über
Karel Teige, für den sich Döhl im Rahmen seiner Forschungen
interessierte (6), und nahm auch an manchen der damals häufigen
politischen Sitzungen als interessierter Zuhörer teil.
Da man nach Prag erstaunlicherweise immer noch frei reisen konnte, kamen
Koehler, Henneberg, Schäuffelen, Gerhard Rühm und andere.
Im Juni war Hiršal auf Einladung Höllerers Gast des "Literarischen
Kolloquiums" in Berlin. Bei einem weiteren Besuch in Prag lud uns Klaus
Henneberg erneut zu den Tagen für "Neue Literatur in Hof" ein und
schloß einen Vertrag mit Zdenek Barborka und Bohumila Grögerová
für eine Edition in seinem neuen Verlag. An den "Tagen für
neue Literatur" beteiligten wir uns im Oktober gemeinsam mit Kolár
und versäumten nicht, auf paar Tage nach Stuttgart zu kommen.
Kaum waren wir wieder in Prag, wurde die westliche Grenze für die
tschechoslowakischen Bürger fast hermetisch gesperrt. Das bedeutete
auf lange Jahre das Ende unseres ganzen Reisens.
Im November 1969 kam Döhl ein weiteres mal nach Prag, um in der
Viola bei der szenischen Realisation von "Zed" [Die Mauer] anwesend
zu sein und den Vertrag für eine Anthologie der Nonsens-Poesie
mit dem Verlag Ceskolovenský spisovatel zu unterschreiben. Im
Dezember weilten noch auf Einladung des Verbands der tschechoslowakischen
Schriftsteller Jandl und Friederike Mayröcker in Prag. Wir dagegen
mußten unsere Einladungen ins Ausland - und es kamen damals sehr
viele - jetzt leider immer ablehnen. Als wollten sie uns helfen und
in unserer Hoffnung, daß die politischen Umwandlungen den Kulturbereich
nicht beträfen, unterstützen, kamen noch während des
Jahres 1970 viele Freunde: Harig, Schmidt, Claus Reichert, Mahlow, Henneberg
und zwei- oder dreimal Döhl, einmal mit Frau Ada Struve vom Stedelijk
Museum in Amsterdam, an dessen Wanderausstellung "klankteksten / ? konkrete
poëzie / visuele teksten" (Amsterdam, Antwerpen, Stuttgart, Nürnberg,
Liverpool, Oxford 1970/ 1971) wir uns noch beteiligen konnten. Döhl
sorgte auch dafür, daß Arbeiten unserer Gruppe in repräsentativer
Auswahl in den von ihm mitverantworteten Ausstellungen "text buchstabe
bild" (Helmhaus Zürich, 1970) und "Grenzgebiete der bildenden Kunst"
(Wanderausstellung der Staatsgalerie Stuttgart, 1972/3) in repräsentativer
Auswahl vertreten waren. Zu all diesen Ausstellungen erschienen umfangreiche
Kataloge.
Ende des Jahres 1970 hatte sich dagegen in unserem Kulturbereich die
Lage rapide verschlechtert. Der Verlag Ceskolovenský spisovatel
war der erste, der den Vertrag über den Sammelband der Nonsens-Poesie
mit uns löste, im nächsten Jahre folgten weitere Verlage.
Insgesamt 13 Verträge wurden annulliert. Es paßten weder
unsere Namen, noch die Titel, die wir herausgeben wollten, denn sie
entsprachen der herrschenden sozialistisch realistischen Doktrin nicht.
Die Informationsquellen und auch die Staatsgrenze blieben für uns
hermetisch geschlossen, die Postsendungen wurden kontrolliert, die Reisedokomente
beschlagnahmt. Nach der Unterschrift der "Charta 77" war Hiršal Polizeiverhören
ausgesetzt. Die gesamte Publikationstätigkeit wurde uns sowie vielen
unserer Freunde - Schriftstellern, Dichtern, Theoretikern und auch bildenden
Künstlern - verboten. Es blieb nur die Möglichkeit, Übersetzungen
der Klassiker unter fremden Namen zu publizieren. Damit war vor allem
für die Redakteure der Verlage, Zeitschriften oder des Rundfunks
das Risiko des Berufsverlustes verbunden.
In den Jahren des Publikationsverbots konzentrierten wir aus ethischen
Gründen unsere Arbeit eher auf das Schreiben von Memoiren in einer
Collageform, die dafür einigermaßen unüblich war. Durch
die Konfrontation von Aufzeichnungen und Dokumenten wollten wir ein
Zeugnis über die kulturelle Lage bei uns bieten. Obwohl sie nicht
offiziell erscheinen durften, wurden diese Memoiren maschinenschriftlich
in einigen Auflagen des legendären Samisdats herausgegeben, vor
allem das gemeinsame "Let let - pokus o rekospitulaci" [Der Flug der
Jahre - Versuch um eine Rekapitulation], den Zeitraum vom Jahr 1952
bis Ende 1968 festhaltend. Etwas gekürzt ist das Werk nach der
Revolution 1989 in 3 Bänden erschienen (7) und liegt, noch einmal
gekürzt, inzwischen auch in deutscher Übersetzung vor (8).
Auch Hiršals "Vínek vzpomínek" wurde zunächst als
Samisdat verbreitet, bevor es 1989 in London und ein Jahr später
auch zu Hause herauskam, genauso wie auch sein "Písen mládí",
welches 1988 im tschechischen Exilverlag in Toronto und nach 1989 auch
im Prager Verlag Odeon publiziert wurde. Unter dem Titel "Bohême
bohème" erschien das Buch in französischer Übersetzung
im Pariser Verlag Albin Michel und wurde mit dem Preis "Laure Bataillon"
ausgezeichnet. Die deutsche Übersetzung "Böhmische Boheme"
brachte der Salzburger Residensverlag heraus, eine amerikanische bereitet
die Northwest University Press in Chicago vor.
Erst nach der Revolution konnten endlich auch unsere Ubersetzungen der
Gedichte Jandls, eine große Artmann-Auswahl und unsere gemeinsamen
Prosa-Dichtungen "Trojcestí", bestehend aus "Preludium" [Präludium]
- "Mlýn" [Mühle] - "Kolotoc" [Ringelspiel, Karussel], Buch
werden. Die "Mühle" wurde separat auch in deutscher Übersetzung
1991 im Residenzverlag ediert.
Fast für einen Wunder hielten wir das Erscheinen einer Anthologie
tschechischer Experimentalpoesie, "Vrh kostek" [Der Würfelwurf],
die auf ihre Veröffentlichung 27 Jahre warten mußte (9).
Damit sie sich von ähnlichen Publikationen internationaler Provenienz
unterschied und das Spezifikum jedes einzelnen Autors klar zum Audruck
kam, hatten wir nicht nur eine genügende Anzahl von Textproben
versammelt, sondern jeden der Dichter aufgefordert, seine Kreationen
mit eigener Methodologie, Typologie und Arbeitsanalyse vorzustellen.
Der Sammelband war also endlich heraußen, obwohl seine 12 Autoren
inzwischen in alle Richtungen verweht waren. Valoch lebt als bekannter
Kunsthistoriker in Brünn, Ladislav Nebeský ist Mathematikprofessor
an der Prager Universität geworden, Jindrich Procházka ist
Patient einer psychiatrischen Klinik, Bohumila Grögerová
schreibt und übersetzt weiter, Bela Kolárová fotografiert
und stellt ihre Collagen aus kleinen Gegenständen aus, Zdenek Barborka,
Vladimír Burda und Josef Honys sind tot, Novák ist nicht
nur im Inland als Dichter und Künstler bekannt geworden, Emil Juliš,
Kolár und Hiršal sind Träger des größten tschechischen
Literaturpreises, des Jaroslav Seifert-Preises, Hiršal auch Träger
des Staatspreises der Tschechischen Republik für Übersetzer.
Kolár, der jetzt in Paris lebt, ist darüber hinaus ein international
anerkannter Künstler.
Obwohl sie in dieser Anthologie, deren Inhalt zu erweitern der Verlag
nicht ermöglicht hat, nicht vertreten sind, wäre es ein Unrecht,
in der Aufzählung der tschechischen Autoren und Theoretiker der
konkreten Poesie einige weitere Namen nicht zu nennen. Es sind dies
vor allem Karel Milota, Theoretiker, Dichter und Schriftsteller, Trinkewitz,
Schriftsteller und Künstler, der heute in Hamburg lebt und mit
Döhl mail-art-Kontakt hält, ferner Karel Adamus und die Künstler
Eduard Ovcácek und Miloš Urbásek, deren gemeinsame Austellung
mit Ladislav Novák und Klaus Warmuth Döhl bereits 1965 in
der Galerie Ruth Nohl in Siegen und 1966 im Frankfurter Club Voltaire
eröffnet hatte.
Ein Sonderkapitel sind die "Antikode" Havels, denn da war der Dichter
Havel dem Dramatiker Havel und um viele Jahre auch dem Staatspräsidenten
Havel voraus. Seine Sammlung, das erste Mal 1966 und das zweite Mal
1994 mit einem Vorwort Hiršals erschienen, unterschied sich in vielen
Richtungen von den künstlerischen Resultaten anderer Autoren der
tschechischen Experimentalpoesie. Mit diesen steht die Sammlung vor
allem im formalen Zusammenhang. Die Typogramme Havels stützen sich
im
wesentlichen auf die rationalen Systeme, Mathematik, Logik und Grammatik.
Trotz dieses objektiven, häufig wissenschaftlichen Prinzips steht
hinter jedem der Texte ein starkes und unverwechselbares Autorbewußtsein
des gesellschaftlichen Engagements.
Weiteres ist inzwischen möglich geworden. An Stelle der in den
60er Jahren nicht zustande gekommenen Anthologie der Unsinnspoesie konnten
wir mit Unterstützung des Tschechischen Kulturministeriums 1997
eine eigene vorlegen: "Nonsens. parafráze. paberky. parodie.
padelky" (10). Das "Pámatník Národního Písemnictví"
[Museum für Tschechische Poesie] veranstaltete eine umfassende
Ausstellung >Básen. Obraz. Gesto. Zvuk. Experimentální
poezie 60.let< [Gedicht. Bild. Ausdruck. Laut. Experimentelle Poesie
der 60er Jahre] mit tschechischen und internationalen Beiträgen,
dokumentiert durch einen umfassenden Katalog und Kommentare von Havel,
Josef Hlavácek und von uns (11). Diese Ausstellung stieß
auf ein erstaunlich großes Interesse, wurde ausführlich gewürdigt
und erweckte neues Interesse an der ganzen konkreten und experimentellen
Poesie. Die Sprach-, Kunst- und Literaturwissenschaftler der jüngeren
Generation beabsichtigen, die konkrete Poesie im ganzen neu - auch theoretisch
- zu studieren und ihre Ergebnisse zu publizieren. Das freut uns selbstverständlich,
weil unsere Arbeiten zu der ins Vergessen gefallenen und zum Schweigen
gebrachten Kulturperiode 1948-1989 gehören.
Und außerhalb? Im Juli/August 1994 organisierte Döhl, der
jetzt auch wieder häufiger zu Vorträgen und gemeinsamen Auftritten
(Goethe-Institut; Österreichisches Kulturinstitut) nach Prag kommt,
mit Bezug auf unsere Anthologie "Vrh kostek" bei Buch Julius in Stuttgart
die umfangreiche Austellung "Experimentale Poesie aus Tschechien", zu
deren Eröffnung wir aus der gerade in Übersetzung erschienenen
"Mühle" lasen. Wie wir es bewerten sollen, daß in keiner
der Stuttgarter Zeitungen, sondern nur in der "Böblinger Zeitung"
eine Besprechung dieser Ausstellung erschien, wissen wir noch nicht.
Am 9./10. September 1994 nahmen wir im Wilhelmspalais am "Symposium
Max Bense (I. Semiotik und Ästhetik / II. Ungehorsam der Ideen
/ III. Wirkungen)" teil. Im November 1994 veröffentlichten wir
"Prazský rozhovor s Reinhardem Döhlem" in "Literární
noviny", wo jetzt auch sein den tschechischen Freunden gewidmetes, in
tschechischer Sprache geschriebenes "Abeceda. Slovníkové
básne" erschienen ist. 1995 schrieben wir mit an dem von Stuttgart
ausgehenden internationalen Renshi "Auf der nämlichen Erde", 1996
waren auf der mail-art-Ausstellung "Reinhard Döhl und Freunde"
im Stuttgarter Wilhelmspalais auch die tschechischen Freunde gebührend
beteiligt. Und bei den internationalen Internetprojekten "Epitaph Gertrude
Stein" (vernetzt mit der Ausstellung "Memorial Gertrude Stein" bei Buch
Julius), der Hommage auf und dem Epilog für unseren Freund Helmut
Heißenbüttel ("H_H_H"; "Epilog") haben wir selbstverständlich
ebenso gerne mitgewirkt wie am "Poemchess" von 1997.
Wir sind der Meinung, daß für alle Autoren der tschechischen
Experimentalpoesie Emil Juliš sprechen kann, dem wir damit das letzte
Wort geben:
Die Experimentalpoesie ist ein hyperbolischer Versuch, der Sprache
der Musik oder der abstrakten Kunst nahe zu kommen, doch sie hat ihre
Besonderheiten. Sie kann keine paradiesische Sprache werden. Es steht
hinter ihr die mitteilbare Sprache, als ein Erzengel mit Flammenschwert.
Uber die Zwecklosigkeit, das Nichtberechtigtsein dieser Poesie zu sprechen
ist naiv, ist borniert. So könnte man nicht einmal auf dem Mond
landen. Der Blick in den Kosmos erweckt Erstaunen, das Gefühl des
Endlosen Schauders. Doch es geht nicht nur um das Kennenlernen des Menschen
und des Weltalls, sondern darum, die Erkenntnis und sämtliches
Wollen zu vergessen und ein selbstverständlicher Bestandteil der
Welt wie ein Embryo im Fruchtwasser zu sein. Aus der finsteren Höhle
der Sprache herauszugehen, das Gesicht aus dem Sumpf, aus der Angst
zu heben und zu der harmonischen Ständigkeit der veränderlichen
Wortwolken emporzublicken. Die Freiheit durch Freiheit zu schenken.
Anmerkungen
1) Weitere Ausgaben: Christian Morgenstern: Šibenicní písne.
Praha: Státní nakladatelství krásné
literatury, hudby a umení 1958; Christian Morgenstern. Palmström
a Palma Kunkel. Praha: Mladá Fronta 1964.; Christian Morgenstern.
Beránek mesíc. Praha: Státní nakladatelství
krásné literatury a umení 1965; Christian Morgenstern:
Bim Bam Bum. Praha: Ceskoslovenský spisovatel 1971; Christian
Morgenstern: Beránek m_síc. Praha: Odeon 1990.
2) Zit. nach Abraham A. Moles: Erstes Manifest der permutationellen
Kunst. rot 8. Stuttgart o.J., S 1 f. Eine Übersetzung des Manifests
publizierten wir in "slovo, písmo akce, hlas", siehe Anm. 3.
3) 1967 ist die Anthologie mit einem Nachwort Levýs unter dem
Titel "slovo, písmo akce, hlas. k estetice kultury technického
veku" als 63. Band der Reihe "Otázky a názory" erschienen,
mit Beiträgen von Heißenbüttel, Bense, Döhl, Gomringer,
Moles, Augusto und Haroldo de Campos, Garnier, Seiichi Niikuni, Hausmann,
Chopin, Mon, Dufrêne, Carlfriedrich Claus, Kriwet, Kolár,
Maciunas und anderen.
4) Siehe Anm. 3.
5) Die heute in der Staatsgalerie Stuttgart archivierte Sammlung Sohms
umfaßt auch wichtige Beispiele tschechischer experimenteller Literatur
und Kunst.
6) Ein erster Band der gesammelten Schriften Karel Teiges (Karel Teige.
Výbor z díla I. Svet stavby a básne. Studie z dvacátých
let) war 1966 im Verlag Ceskoslovenský spisovatel erschienen,
ein zweiter wurde zwar noch gedruckt aber nicht mehr ausgeliefert.
7) Let Let. Pokus o rekapitulaci Bd 1. Praha: Rozmluvy 1993; Let Let.
Pokus o rekapitulaci Bd 2, 3. Praha: Mladá fronta 1994.
8) Let Let. Im Flug der Jahre. Geleitwort: Václav Havel. Graz:
Literaturverlag Droschl 1994.
9) Praha: Torst 1993.
10) Praha: Mladá fronta 1997.
11) Zimní refektár Strahovského kláštera,
10.3.-2.6.1997.
[Vortrag, Wilhelmspalais 10.9.1994; aktualisiert 1997]