Reinhard Döhl | Ansichtskarten

Man schickt von einer Reise Ansichtskarten, um den Daheimgebliebenen zu sagen, daß man sie nicht vergessen hat. Man unterläßt es, einem Freund, der in bescheidenen Verhältnissen lebt innerhalb eines Sommers Karten aus Ragusa, Capri und Nizza zu schicken. Auch wäre es taktlos, einem Bürokollegen eine Karte zu schicken und einen anderen zu übersehen. Dem Chef und hochgestellten Persönlichkeiten schickt man nur dann Ansichtskarten, wenn man mit ihnen privat befreundet ist Man läßt auch nicht zufällige Urlaubsbekanntschaften ihre Namen auf Karten kritzeln, da diese Leute für die zu Hause Gebliebenen keinerlei Bedeutung haben. (Gutes Benehmen Dein Erfolg)


1
Es gibt Ansichtskarten und Ansichtskarten. Immer wieder fallen den Leuten Ansichtskarten ein in meinen Briefkasten mit jeder Postwurfsendung. Immer wieder muß ich viele Ansichten auseinander halten. Ich habe mir einen Karteikasten gekauft und eine Systematik gemacht. Ich sammle Ansichten die mir mein Briefträger zuträgt. In meinem Karteikasten sammeln sich die Ansichten einer ganzen Welt die sie beschreiben.

2
Ansichtskarten sind Ansichtssache und leicht überschaubar. Man schätzt ihren Umgang. Sie sind genügsam. Man kann sie sich an den Hut und hinter den Spiegel stecken. Man kann sie unbesehen zerreißen verbrennen verlegen. Man kann sie jederzeit vorholen und oberflächlich betrachten. Man kann sie ganz genau betrachten. An ihren Ansichtskarten kann man sie erkennen.
Ansichtskarten sind nicht jedermanns Sache.

3
Es gibt schwarzweiße Ansichtskarten, die von den Schwarzweißsehern verschickt werden. Immer noch verteilen die Schwarzweißseher ihre gebildete Ansicht. Die schwarzweißen Bilder der Welt sind billig zu haben. An allen Kiosken der Welt wird eine um die andere Ansicht für bare Münze gehalten Sie ist wiederholbar für jeden erschwinglich. Täglich sichten die Schwarzweißseher den Bestand der verteilbaren Welt und lassen ihn umgehen.

4
Ansichtskarten sind keine kleinen Mädchen die bunt angemalt sind. Die buntangemalten Ansichtskarten ändern ihre Meinung nicht von heute auf morgen. Sie hängen ihr Mäntelchen nicht nach dem Wind Man kann sie erinnern. Ein Kreuz mit Tinte bezeichnet die Stelle der Wohnungnahme. Viele Leute machen ein Kreuz und möchten sich hinter verstecken. Ansichtskarten sind keine Regenbögen die bunt angestrichen sind.

5
Von allen bekannten Blumen sind Ansichtskarten die schönsten Sie blühen nicht im Verborgenen Sie sprechen von sich aus. Sie sagen nicht: laßt Blumen sprechen. Und sprechen nicht durch die Blume oder in Rätseln. Sie sprechen in Bildern. Sie haben sich eine Ansicht gebildet. Sie haben sich eine genaue Ansicht gebildet. Sie besagen nichts weiter.

6
Die Ansichtskarten Günther C. Kirchbergers haben eine Ansicht die sonst niemandes Ansicht ist. Man kann sie keinem Menschen vorlesen. Man kann sie in keine Sprache übersetzen. Man kann sie nicht vom Blatt singen. Sie bezeichnen eine Welt die es sonst auf der Welt nicht gibt. Die es nirgendwo auf der Welt mehr gibt. Und die gezeigte Welt ist jedesmal eine andere.

7
Die Ansichtskarten sind jetzt alle verteilt, Man hat sich seine Ansicht gebildet hiervon und davon. Man weiß was auf den Ansichtskarten drauf ist. Man hat säuberlich die Häuser von den Bäumen und den Himmel von der Erde geschieden. Man spricht darüber und läßt es Tag und Nacht werden. Man spricht immer noch darüber. So ward aus Abend und Morgen ein anderer Tag.

[1963; Druck in Prosa zum Beispiel, 1965, S. 40-42]