Über konkrete Poesie


von Helmut Heißenbüttel


Es ist nicht mit Sicherheit mehr festzustellen, auf welchem künstlerischen Gebiet zuerst die Vorstellung des "Konkreten" auftauchte. Vermutlich hat Max Bill mit seinen Ausstellungen, 1936/38 und vor allem 1944, dem Begriff zum erstenmal programmatischen Charakter gegeben. Aber nur wenig später taucht er in den Studios des Club d'Essay am Pariser Rundfunk bei Pierre Schaeffer auf, während auf literarischem Gebiet wohl Eugen Gomringer als erster ausdrücklich von konkreter Poesie sprach ("Konstellationen" und "Spirale" 1953). In Brasilien haben schon vor dem Kontakt mit Gomringer die Ideen Bills anregend gewirkt.

Die Vorstellung einer konkreten Kunst hat sich jedenfalls innerhalb der Moderne relativ spät entwickelt, etwa in der ersten Hälfte der vierziger Jahre. Sie entstand auch nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, in Antithese zur sogenannten abstrakten Kunst, vielmehr bilden kunstgeschichtlich die Begriffe abstrakt und konkret eher Synonima. Bill ging aus von Kandinsky, Malewitsch und Mondrian, von der Rückführung der Malerei auf einfachste Elemente: ihre geometrischen Formalia und die Grundfarben. Diese Elemente faßte er als das eigentliche Konkretum der malerischen Kunst auf, die Beschränkung darauf nicht als Verlust, sondern als Gewinn.

An diesen Akt der Rückbesinnung auf einfachste Elemente muß man wohl auch denken, wenn man die Parallelen in Sprache und Musik erkennen will. Denn in diesem Akt und nicht in stilistischen Analogien (wie sie neuerdings etwa in der Vorstellung des Monochromen aufgetaucht sind) liegt die Bedeutung von künstlerischen Demonstrationen, deren primäre und sekundäre Auswirkungen heute noch gar nicht zu übersehen sind.

Steht dabei die Malerei am einen Ende der Skala, so die Musik am andern. Auch die "Musique concrete" geht auf Elementares zurück. Sie kommt jedoch nicht, wie Bill, auf die kleinsten formalen Bauteile, die Töne, sondern auf das Geräusch. Dem, was Bill an Mondrian entwickelte, würden eher Kompositionen von Hauer oder Webern entsprechen. Schaeffer und seine Schüler jedoch sehen in dem Element, das am wenigsten vom Menschen beeinflußt werden kann, im Geräusch das wahre Konkretum der Musik; etwas, von dem jeder Ton schon immer etwas kompliziert Abgeleitetes darstellt. Darin zeigt sich, im Gegensatz zur Malerei Bills, eine historisch aufschlußreiche Verschränkung zur informellen Malerei.

Sprache schließlich steht gewissermaßen zwischen Malerei und Musik. Haroldo de Campos betont denn auch die Gleichzeitigkeit von Visuellem und Akustischem. Nur tritt noch etwas Drittes hinzu: das Verbale, der, wie Campos es nennt, semantische Parameter. In dieser Komplexität, in dieser Mittelstellung der Sprache steckt aber das, was die Rückbesinnung und die Rückführung, wie sie in Malerei und Musik relativ einfach möglich waren, erschwert. Was ist das Konkrete der Sprache? Gomringer und auch die Brasilianer lösten diese Frage zunächst dadurch, daß sie als das eigentliche Konkretum der Sprache das Wort annahmen. Im Versuch, dieser These zu ihrer unumschränkten Konsequenz zu verhelfen, zeigten sich jedoch bald Grenzen. Im Akt der Rückbesinnung auf das isolierte Wort, der schlichten Benennung zeigt sich etwas anderes als bei der Herstellung von sprachlichen Modellen, die in neuer und unmittelbarer Form die alten Modelle, wie sie in den traditionellen literarischen Gattungen überliefert waren, ersetzen konnten. Denn darum ging es. Stellvertretende sprachliche Information, wie sie dem aktuellen Zustand der Sprache und des Sprechens angemessen scheint.

Die hier gesammelten Modelle von Haroldo de Campos, Décio Pignatari, Augusto de Campos, Ronaldo Azeredo und José Lino Grünewald zeigen Zustand der verbalen, vokabulären Reduktion. Die Verbindungen werden asyntaktisch durch Wortdeformierungen, Wortmischungen, Wortkettungen und Blockbildungen hergestellt. Lautgedicht und Typogramm werden theoretisch abgelehnt, sind aber immanent noch eingeschlossen. Was man diesen Modellen als erstes abliest, ist die Befreiung von allem metaphorischen Ungefähr.

Hier, im Akt dieser Befreiung, liegt zunächst die sprachliche Konkretisierung. Allerdings scheint die Tendenz, die trotz Widerrede zur tvpographischen Mumifizierung führt, noch zu stark, die Prinzipien zu eng. Wenn Haroldo de Campos so entschieden betont, daß es auf den semantischen Parameter ankäme, so scheint er etwas von der Gefahr der Verengung gespürt zu haben. Denn wenn man die Einheit aus visuellen, akustischen und semantischen Elementen, von der Campos spricht, ernst nimmt, so kann die Rückbesinnung auf die konkreten Gründe der Sprache und des Sprechens nicht bei der Vokabel als dem letzten Baustein stehenbleiben. Sie müßte elementare Funktionsschemata der Sprache bzw. der verschiedensten Sprachen herausarbeiten und etwa versuchen, mit dem Formelapparat der Logistik zu "dichten". Sie müßte noch stärker auf das Funktionieren der assoziativen Gleitketten achten, wie sie in den Berührungsebenen zwischen Semantik und Phonetik, Semantik und Typographie, Phonetik und Typographie verborgen sind. Was prädikative Verknüpfungen und was nichtprädikative Verknüpfungen bedeuten und bewirken, und wie sie in ihrem elementarsten Sinne zu verwenden sind, ließe sich uter anderem aus Vergleichen indogermanischer mit ostasiatischen Sprachen erfahren.

Ich denke mir die hier vorliegenden Modelle als Zeugnis einer Station, von der aus der Weg weiterführt, aber auf der man nicht stehenbleiben sollte. Die Gewähr dafür scheint gegeben. Denn wie sonst könnte Haroldo de Campos von einer nicht-imitativen dynamischen Ikonographie der konkreten Poesie sprechen.

Vorwort zu: noigandres / konkrete texte. rot 7, Stuttgart o.J. [1962]