Konkrete Poesie


von Helmut Heißenbüttel


Der Begriff einer konkreten Poesie wurde gebildet in Analogie zur bildenden Kunst, vor allem zur Malerei. Dort löste er sich ab aus den theoretischen Vorstellungen Mondrians, der Stijl-Gruppe und Kandinskys. Ausdrücklich verwendet wurde der Zusatz "konkret" wohl zuerst von Max Bill für eine Ausstellung in der Basler Kunsthalle, die vom 8. März bis zum 10. April 1944 dauerte, später dann in den "Bulletins" der Ausstellungen der "Galéries des faux vives 1944~45 in Zürich. Der Begriff meint dabei etwas, was man kunstgeschichtlich allgemein Konstruktivismus nennt oder, nach der Pariser Ausstellung von 1948, "Réalités nouvelles".

Als das "Konkrete" eines Bildes wird danach nicht das angesehen, was ein Bild an konkreten Erscheinungen abbildet, sondern das, was die Eigengesetzlichkeit des Bildes ausmacht. Das aber sind, nach Mondrian und dem Stijl, die geometrischen Einteilungsprinzipien der Bildflöche und die Verhältniswerte der in die Felder eingetragenen Grundfarben Schwarz, Weiß, Rot, Gelb und Blau. Das heißt, nach Kandinsky und den meist von ihm ausgehenden französischen Konstruktivisten, die Reduzierung der Bildelemente auf Punkt, Linie, Fläche, wobei Fläche durchweg als geometrisch-mathematisch bestimmbar angesehen wird. Eine Reduzierung auf rational faßbare Grundelemente also. Bezeichnend ist, daß die Gegenbewegungen gegen den Konstruktivismus die Begriffe konkret, real oder objektiv (wie er bei Bill manchmal vorkommt) gar nicht oder nur zufällig verwendet haben. Die Begriffe sind eindeutig im Sinne einer rationalen Verfügbarkeit und Berechenbarkeit festgelegt. Das ist insofern für die Übertragung auf den sprachlichen Bereich wichtig, als es auch hier wesentlich auf die rationale Erfaßbarkeit der Sprache ankommt. Weniger wichtig ist die Analogie zur Musik, in der, etwa seit Ende des letzten Krieges, der Begriff konkret ebenfalls gebraucht wird. Die von Pierre Schaeffer ins Leben gerufene Richtung der "Musique concrète" versteht jedoch als konkret das, was im Gegensatz zur Abstraktion des Instrumentaltons "konkret" hörbar im realen Leben vorkommt, nämlich das Geräusch. Der Rückgriff auf Geräusche ist dabei nicht konstruktiv gemeint, er

bedeutet mehr eine Ausweitung des expressiven Bereichs oder eine Erweiterung des Tonmaterials.

Der Begriff einer konkreten Poesie ist meines Wissens zuerst (in Anlehnung an Bill) von Eugen Gomringer 1953 verwendet worden, im Erscheinungsjahr seiner "Konstellationen" und der ersten Nummer der Zeitschrift "Spirale". Etwa gleichzeitig sprachen mehrere brasilianische Lyriker von "poesia concreta". Die Gruppe, die damals Augusto und Haroldo de Campos, Décio Pignatari und Ronaldo Azeredo umfaßte, trat am deutlichsten in der dritten Folge ihrer Schriftenreihe "Noigandres" 1956 in Erscheinung, sie entwickelte aber auch weiterhin, zum Teil in Tageszeitungen, eine rege publizistische Tätigkeit.

Worum geht es? Gomringer hat einmal in einem Vortrag gesagt, das ideale konkrete Gedicht dürfe im Grunde nur aus einem einzigen Wort bestehen. Die Vokabel als solche wird damit zum eigentlichen Konkretum der Sprache. Er meinte damit, daß sich sprachlich eine größere Konkretion erreichen ließe, wenn ich etwa nur das Wort Schnee oder Schweigen gebe, als wenn ich über den Schnee schreibe oder eine verschneite Landschaft schildere oder das Schweigen analysiere oder von einem schweigenden Menschen spreche oder Schnee oder Schweigen metaphorisch gebrauche. Polemisch ließe sich dagegen sagen, daß dann ja der "Duden" die eigentliche und einzige Anthologie etwa der deutschen konkreten Poesie sei. Nun gibt es meines Wissens kein Zeugnis konkreter Poesie, das im wörtlichen Sinne nur aus einer einzigen Vokabel besteht. Die Beispiele "Schnee" und "Schweigen" habe ich deswegen angeführt, weil beide Wörter in zwei "Gedichten" ohne andere Zusätze verwendet worden sind, allerdings in abgezählter Vervielfältigung. Die Vokabel ist in beiden Fällen typographisch-symmetrisch arrangiert worden.

Von Bill stammt die Vorstellung, daß Kunst ein Gegenstand für den geistigen Gebrauch sei, das heißt, daß Kunst etwas sei, das sich in der Realisierung und Darstellung einfacher und rational faßbarer Maßverhältnisse erschöpft. Oder, um es mit Gomringers Worten zu sagen: "Es scheint heute darum zu gehen, die strukturmerkmale der geistig-vitalen situation unserer zeit aufzudecken, um schließlich selber an dieser struktur mitwirken zu können." Diesem Ziel dient die Reduzierung auf möglichst unflektierte Wörter, auf Wortreihen oder einfache Formelketten, soweit sie einfache Wortbeziehungen darstellen wie Addition, Negation, Umkehrung oder Frage. Eine gewisse Analogie besteht dabei zu den Grundformeln der symbolischen Logik. Alles, was unbestimmt ist, was kompliziert oder verschleift, muß außer acht gelassen werden. Oder, wie Gomringer sagt: "Den konkreten dichter interessiert der sprachaufbau mehr als der redefluß." Das "ungeteilte wort" erscheint als ein "brauchbares ding". Diese brauchbaren Dinge werden auf durchschaubare Weise zueinander in Beziehung gebracht, die Beziehung läßt sich aus dem meist geometrisch geordneten Schriftbild ablesen. Die so entstandene "Konstellation" ist ein Muster für die Einstellung zur Welt. Die Verwandtschaft mit den Praktiken der Werbegraphiker ist ohne Schwierigkeit zu erkennen.

An dieser Stelle ließe sich die Methode der konkreten Poesie leicht der Einseitigkeit überführen. Das wäre jedoch oberflächlich. Das Problem, das dahintersteckt, ist nicht dadurch zu erledigen, daß man eine radikale und ohne Umweg zu endgültigen Lösungen strebende Methode (die wie alle Radikalismen ihre Verführungskraft besitzt) polemisch abwehrt. Das Wort, die zusammenhanglose Vokabel hat tatsächlich, wenn man so sagen kann, ihren Status gewechselt. Sprache besteht bis heute aus einem System syntaktischer und grammatischer Zusammenhänge. Diese Zusammenhänge sind historisch und gesellschaftlich vorgeprägt. Alle herkömmlichen Redeweisen, bis zur höchsten Dichtung, bildeten lediglich Modulationen des Systems. Das System war so etwas wie ein Spiegel, in dem die Welterfahrung aufgehoben werden konnte. Dieses System zeigt nun offenbar Zerfallserscheinungen. Oder anders ausgedrückt, es scheint, als ob das menschliche Bewußtsein in eine Situation geraten ist, in der Erfahrungen und Impulse nicht mehr voll mit dem vorgeprägten System in Deckung gebracht werden können. Dabei wird offenbar das freigesetzt, was die Sprache an einfachen Benennungen enthält. Diese Benennungen geben etwas von der Energie, die bisher von den Verknüpfungen verbraucht wurden, her, und das Einzelwort erscheint nun in sich tatsächlich "konkreter" als in irgendeinem syntaktischen Zusammenhang.

Diese etwas summarischen Feststellungen sollen nur andeuten, in welcher Weise man über den relativ engen Rahmen hinaus, den Gomringer und die Brasilianer sich zunächst gesteckt haben, von konkreter Poesie sprechen könnte. Neben einer Ahnengalerie, die so verschiedene Autoren wie Joyce, Gertrude Stein, Arp, Schwitters, Wallace Stevens oder Cummings umfaßt, könnte man hier etwa die Franzosen Queneau, Tardieu oder Dufrêsne nennen, auch gewisse Erscheinungen des "Nouveau Roman", in Deutschland vor allem die Bestrebungen Max Benses, die Versuche Franz Mons und Hans G. Helms'. (Der Überblick ist willkürlich und soll nur zeigen, wie weit sich das Feld abstecken ließe.)

All diesen Versuchen ist eins gemeinsam, nämlich, daß sie sich nicht mehr auf literarische Realisationen innerhalb des vorgeprägten syntaktischen Systems verlassen. Das bedeutet aber nicht nur Reduzierung auf eindeutige zeichenhafte Restpartikel, es bedeutet gleichzeitig die Gewinnung neuer Nuancen und Bedeutungsfelder durch Überlagerungen der freigewordenen Grundelemente. Besonders deutlich ist das bei Mon und, in anderer Weise, auch bei Helms.

Man darf bei alldem jedoch nicht vergessen, daß man sich dabei in einem Dilemma befindet. Denn die im Zerfall des Systems freiwerdenden Sprachelemente (auch die neuen Bedeutungsschattierungen) haben ja ihren ursprünglichen Sinn innerhalb dieses Systems gewonnen. Man benutzt etwas entgegen dem überkommenen Sinn, ohne daß man es ganz daraus lösen kann. Wobei hinzugefügt werden muß, daß dieser Sinn im allgemeinen, öffentlichen und offiziellen Sprachgebrauch noch als intakt konserviert erscheint und die Abschleifungsvorgänge und Aufsplitterungen durch einen fast alexandrinischen syntaktisch-grammatischen Purismus eingedämmt werden. Ob die literarischen Versuche dagegen zukünftige Möglichkeiten vorausprojizieren oder nur ein spezielles Dilemma ausdrücken, ist ganz offen.

Deutsche Zeitung, 13./14.5.1961