Text oder Gedicht?
Theoretische und praktische Betrachtungen

von Helmut Heißenbüttel


Experiment
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Wollte man, falls so etwas überhaupt noch vorstellbar ist, eine Poetik des 20. Jahrhunderts entwerfen, insbesondere eine, die noch die Erfahrungen der siebziger Jahre in aller Konsequenz mit verarbeitete, so würden darin möglicherweise zwei Wörter, zwei Begriffe eine vergleichbare, wenn auch verschieden ausgerichtete Rolle spielen, ja man käme auch dann, wenn man das mit diesen Wörtern, diesen Begriffen Gemeinte als nicht entscheidend verstehen würde für diese Poetik, nicht um diese Wörter, diese Begriffe herum. Es sind die Wörter, die Begriffe Experiment und Text.

Experiment

Experiment und Experimentelles als Kategorien literarischen und poetischen Verhaltens sind wahrscheinlich zuerst im Untertitel der Zeitschrift "Transition" verwendet worden und meinen Arbeiten von James Joyce, Samuel Beckett, Gertrude Stein, Ezra Pound, Kurt Schwitters, Carl Einstein und anderen. Ausdrücklich programmatisch wird der Begriff des Experimentellen dann von Gottfried Benn und Max Bense ab 1949 eingesetzt. Von daher ist er in den allgemeinen literaturkritischen Sprachgebrauch übergegangen. Er wird im Deutschen heute meist synonym mit dem Begriff der konkreten Poesie verwendet. Über die internationale Bewegung des Konkreten ist er auch in anderen Sprachgebieten geläufig. Wichtig ist, daß überhaupt ein solcher Begriff in den literarischen Raum eindringt und was er dort zu erfassen versucht. Die Offenheit, der Versuchscharakter, auf die der Begriff des Experiments und des Experimentellen gerichtet ist, hat zugleich nichts, was sich inhaltlich deuten ließe; er ist in bezug auf Inhalte, Gehalte und Ideologien neutral und neutralisierend. In dieser neutralen und neutralisierenden Funktion zeigt sich nun eigentlich das, was den Begriff des Experiments in der Literatur des 20. Jahrhunderts so charakteristisch macht. Experimentell meint ja nicht erneuernd, aufbrechend oder revolutionär, sondern setzt an die Stelle des zusammengesetzten Vorgangs, der sich, der Überlieferung gemäß, aus dem Ineinander von Methode und Qualität herstellt, etwas Unteilbares, Einziges. Man kann, wie es die Apologeten tun, sagen, experimentell dichten heißt schon Qualität einschließen. Oder man kann, kritisch, sagen, der Begriff läßt sich sinnvoll nur verwenden, wenn man annimmt, daß in dem unteilbaren Vorgang die Frage nach Qualität außer Kraft gesetzt oder beiseite gelassen wird.

Text

Dem Begriff des Experiments entspricht der des Textes insofern, als auch er neutralisiert und objektiviert. Man kann von ihm wie von dem des Experiments sagen, daß es zunächst nicht darauf ankommt, ob er andere Begriffe verdrängt, ob er eine neue Perspektive anzeigt oder gar das Werden des Poetischen als etwas völlig Verändertes erkennbar, gemacht habe sondern darauf, daß es ihn überhaupt gibt, daß er überhaupt verwendet wird, daß er eine symptomatische Funktion erfüllt. Er bezieht sich jedoch nicht unmittelbar auf den Herstellungsprozeß eines literarischen Werks, sondern erst auf dessen fertigen Zustand. Während der Begriff des Experiments eingesetzt worden ist für den aktiven Vorgang selbst, bleibt der des Textes zuerst einmal im Bereich des Beurteilens. Er hat daher auch mehr Verbreitung in Kritik und Wissenschaft als in programmatischer Theorie. Beide Begriffe haben allerdings einen Koppelungseffekt. Wer experimentell schreibt, der schreibt eben Texte.

Dabei stehe ich, was das Wort Text betrifft, vor anderen und anders gerichteten Schwierigkeiten wie bei dem Wort Experiment. Der Begriff Experiment hat seinen exakten Bedeutungsraum in der Naturwissenschaft. Übertragen auf ästhetische Fragen, wird er analog gebraucht. Die bloß analoge Anwendung bewirkt, daß der Anschein des Präzisen sich verflüchtigt in die bloß gewohnheitsmäßige und von Zufällen abhängige Bedeutungsannahme. Auch der Begriff Text wird in der heutigen Aesthetik und Theorie nicht exakt verwendet, wenn auch mit einem höheren Grad an Exaktheit als der Begriff Experiment, sondern in Analogie. Aber die Ableitung ist eine völlig andere. Ursprünglich nur ein Sammelbegriff, der aber in dieser Sammelfunktion ästhetisch nicht verwendet wurde, hatte der Begriff des Textes seine spezifische Bedeutung in der Abgrenzung zu etwas anderem. So in der Verwendung der Zusammensetzung Textkritik, in der es nicht um Aesthetik geht, sondern um die literar-archäologische Wiederherstellung eines Urtextes; auch dieser nicht ästhetisch gemeint, sondern als etwas, das vor jeder Aesthetik anzusetzen ist. Man spricht auch vom Text der Bibel oder vom Text eines Gesetzes. Oder im Wort Textbuch ist im herkömmlichen Sprachgebrauch Text gemeint im Gegensatz zu Musik, es gibt Textbücher zu Opern oder Liedern.

Text ist dabei nicht nur alles, was literarisch aktuell hergestellt wurde, er erfaßt auch den journalistischen Kommentar oder das Interview mit dem Politiker. In der Vorstellung, daß die historisch überlieferten und allmählich durchlässig oder unhandlich gewordenen Differenzierungen der Gattungen aufgenommen werden konnten von etwas Umfassenderem, eben dem Textbegriff, steckte auch eine gute Portion Optimismus. Jener Optimismus nämlich, der im Übergang von den fünfziger in die sechziger Jahre glaubte, es sei möglich, an bestimmten Stellen bestimmte Probleme zu lösen. Ich selber, als schreibender Autor, bin nicht unberührt geblieben von diesem Optimismus. Ich begann die Bücher, die ich zusammenstellte, einfach Textbücher zu nennen, ein Entschluß, der nicht unbeeinflußt war von Ratschlägen, die mir 1959 Alfred Andersch gab. Die optimistische Vorstellung von der Verwendbarkeit des Begriffs Text erschien als eine praktikable allgemeine Lösung. Text war alles, was sich als Sprache abgrenzen ließ von Musik oder bildender Kunst. Die Übergänge von Sprache zu Musik und umgekehrt konnten mit dem Begriff der Grenzüberschreitung benannt werden. Mit der umgreifenden Verwendung des Begriffs Text schien der andere der Grenzüberschreitung zu korrespondieren.

Strukturelle Kriterien

Schien? War es nicht so? Ist es nicht so? Ist das nicht etwas, das unverändert Gültigkeit hat Wirkungen zeigt, die sich weiter und weiter durchzusetzen versucht? Ja und nein. Ja insofern, als inzwischen von Theorie und Wissenschaft Ansätze geliefert worden sind, nach denen das, was unter dem Deckmantel des Geralbegriffs der Differenzierung entzogen schien, doch erneut differenziert werden kann. Wenn die äußerste phänomenologische Interpretation des Gattungsbegriffs sich selbst auflöst, maß man, so scheint es, die Disziplin wechseln. Man muß nicht mehr philosophisch-ästhetisch-philologisch argumentieren, sondern linguistisch. Der Begriff des Textes wurde erst in dem Augenblick wirklich benutzbar, in dem erkannt wurde, daß es nicht länger möglich war, poetologische Unterscheidungen auf herkömmliche Weise zu treffen, in dem erkannt wurde, daß es darauf ankam, auch den literarischen und poetischen Text den Einsichten einer allgemeinen Sprachwissenschaft zu unterstellen. Merkwürdigerweise ist es dabei leichter gewesen, Literatur historisch vergangener Epochen linguistisch zu erfassen, als das, was heute unter dem Einfluß linguistischer Unterscheidungen entstanden ist.

Wenn ich dabei Text als das verstehe, was die grammatischen Sonderformen, als die ich die Gattungen formal beschreiben kann, in die Grammatik selbst zurückzieht, setze ich strukturelle Kriterien, die aus der Grammatik stammen, an die Stelle von Vers, Strophe, Metrum, Reim. Ich muß Vers, Strophe, Metrum, Reim usw., etwa im Sonett von Gryphius oder im vierzeiligen Gedicht von Eichendorff, in der Form von Sätzen, Satzteilen, Deklinationen, Konjugationen usw. definieren, muß in die strophische oder metrisebe Struktur die grammatische hineinlesen oder aus ihr herauslesen. Das Entscheidende dabei ist, daß ich in dieser doppelten Lesung nicht die gleichen Ergebnisse erhalte wie in der jeweils einfachen. Und die Frage bleibt, auf welche Prioritäten man sich in den entstehenden hin und her verweisenden Relationen festlegen will. Wenn Roman Jakobsohn und Grete Lübbe-Grothues in ihrer Analyse "Ein Blick auf 'Die Aussicht' von Hölderlin" das gesamte Arsenal sowohl der linguistischen wie auch der poetologischen wie zusätzlich noch der biographischen und psychologischen Argumentation aufbieten, so bleibt das vorerst ein Einzelfall, aus dem sehr schwer allgemeine Schlüsse zu ziehen sind, es sei denn der, daß man von Fall zu Fall anders verfahren müsse.

Wenn der Begriff Text wie der des Experiments dabei nicht ganz aus seinem gegenwärtigen Gebrauch heraus abgegrenzt werden kann, so vielleicht deshalb, weil dieser Begriff noch keine genügende Übereinkunft auf sich versammelt hat. So sollte man möglicherweise an einen Punkt zurück oder seitab gehen, an dem dieser Begriff Text in einer gewissen altmodischen Eindeutigkeit auftritt. Das war und ist zum Beispiel der Fall dort, wo Text im Gegensatz zu Musik verwendet wird. Der Komponist Arnold Schönberg hat zu einigen seiner Musikstücke selber Texte verfasst, etwa zu der Oper "Die glückliche Hand". Er hat diese Texte 1926 gesondert herausgegeben und zu dieser Ausgabe ein Vorwort geschrieben. Dieses Vorwort beginnt: "Das sind Texte; das heißt: etwas Vollständiges ergeben sie erst mit der Musik zusammen. Nicht ist das jedoch in der Absicht gesagt, ihnen mehr Nachsicht zu erbitten, als meiner Musik gegönnt wird. Denn die Qualität des Endgültigen, die man im Auge hat, ist wohl nicht abhängig von der Qualität der Komponenten, da jede jeweils nur so gut sein muß, als die Sachlage es für ihren Teil fordert: so und auf solche Art gut! Es sieht aber einer, der das Ganze erschaut hat, dieses auch in seinem kleinsten Teil und könnte nichts als geeignet passieren lassen, was es nicht in jeder Hinsicht wäre."

Das Ganze

Das Erschauen des Ganzen, von dem Schönberg spricht und das für ihn natürlich das Ganze aus Text und Vertonung ist, würde in übertragenem Sinne bedeuten, daß die Herstellung von Texten nur unter der Voraussetzung geschehen kann, daß der Hersteller ein Ganzes aus Formuliertem und Unformuliertem nicht schaut, sondern annimmt, ahnt, als Entwurf, als Projektion oder wie immer. Das heißt, daß er sich, wenn er schreibt, des grundsätzlichen Charakters des Fragmentarischen im Text bewußt sein muß, will er überhaupt etwas herstellen, das, wie Schönberg sagt, nur dann als geeignet passieren kann, wenn es nicht wiederum in jedem seiner kleinsten Teile die Erschauung des Ganzen erkennbar macht. Linguistisch würde das den Gesamtbereich des sprachlich Artikulierbaren bedeuten, soziologisch und psychologisch die versuchte Einsicht in Gesellschaft wie in Subjektivität, beide nicht festgelegt, offen, erst zu entwerfen, der Entwurf eher destruktiv als abschliessend.

Dies ist eine Spekulation, die andeuten soll, wie weit und in welcher Richtung, meiner Ansicht nach, der Begriff des Textes vorangetrieben werden könnte. Diese Spekulation wäre auf verschiedene Weise lesbar. Es könnte aus ihr gefolgert werden, daß der Begriff des Textes nicht einfach als Nachfolgebegriff für den der Gattung gewählt werden kann, daß die Vereinheitlichung der abgeschliffenen Gattungsmerkmale, die Demokratisierung der Literatur im Begriff Text nicht eine Lösung bedeutet, mit der man nun munter weitermachen darf, als sei nichts geschehen. Sondern Möglichkeit und Gültigkeit dieses Begriffs würden unlösbar zusammenhängen mit dem dekonstitutionierten Zustand der derzeitigen Literaturpraxis, aber auch der Wissenschaft, die sich dieses Begriffs bedient. Das würde bedeuten, daß ich alles sagen kann, daß ich alles zu Literatur erklären kann, daß diese jedoch niemals aus ihrem bloß versuchten Status herauszutreten vermag. Den Versuch, Sprache selbst als Poesie zu lesen, wie es etwa in der konkreten Poesie geschehen ist, müßte man auffassen als definitive Kapitulation vor dem Bestreben, sprachlich exemplarisch zu dichten in dem Sinne, in dem das bis an die Grenze der Romantik oder noch im restaurierenden Symbolismus vorgegeben war. Die Vorgabe müßte man abbauen und das Abgebaute, vom gegenwärtigen aktuellen Standpunkt aus, in neue Perspektiven einschneiden.

In meiner eigenen literarischen Praxis bedeutete das die Aufgabe des Optimismus, der zur Verwendung des Textbegriffes geführt hatte. Als ich Gelegenheit bekam, die Textbücher als Gesamtkomplex zu veröffentlichen, teilte ich die "Texte" in zwei Gruppen, eine, die "Prosa", und eine, die "Gedichte" umfasste. Eine Kapitulation? Ich meine nicht. Der Begriff des Textes hatte, im Gebrauch, seinerseits eine gewisse Unschärfe erfahren, und da schien es nicht mehr wichtig, auf ihm zu bestehn, ihn gar, wie es doch noch manchmal geschieht, zu ideologisieren. Ich habe mir angewöhnt, eine Gruppe dessen, was ich schreibe, Gelegenheitsgedichte zu nennen. Ich habe den Begriff des Projekts verwendet. Ich habe angefangen, Märchen, historische Novellen, wahre Begebenheiten und Herbste zu schreiben. Der Begriff des Textes ist in den des Klappentextes abgewandert.

Noch einmal: eine Kapitulation? An dieser Stelle möchte ich für den Pluralismus von Text und Gedicht plädieren. Nicht im Sinne einer sich mit Trendargumenten entschuldigenden Unverbindlichkeit. Sondern ich verwende Text wie Gedicht mit Vorbehalt. Dieser Vorbehalt ist konstitutiv. Ich behalte mir, als Prinzip, vor, in welcher Richtung ich Unstimmigkeiten stehenlasse, abbaue oder erweiternd präzisiere. Ich rede und schreibe: als ob. Dieses Als-ob gibt mir jedoch nicht einen Freibrief, sondern verpflichtet mich, strikt bei der Sache zu bleiben. Ich erfülle das Als-ob mit aller Verbindlichkeit, die mir zur Verfügung steht. Ist das nicht ein Paradoxon? Nur in ihm öffnet sich, so meine ich, der Weiterweg.


Neue Zürcher Zeitung 23./24.6.1979. Leicht veränderter Auszug aus: Text oder Gedicht? Anmerkungen zur theoretischen und praktischen Aktualität dieser Frage - ein Abschweifung. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg 1.4.-4.4.1979. Berlin: Schmidt 1983, S. 3-24