Die poetologische Bedeutung der Konkreten Poesie in
zenbuddhistischer Sicht
von AHN Mun-Yeongl, Chungnam National University
Das Problem der deutschen Literatur der Moderne ist vor allem das Problem der Sprache. In den Überlegungen von Novalis, der den Dichter einen "Sprachbessenen" nannte und ihm als höchstes Ziel setzte, den ursprünglichen Geist in Worten wiederzubeleben, zeigte sich schon deutlich das Problembewußtsein der Sprache. Obwohl er glaubte, die magische Einheit von Leben und Geist durch die poetische Sprache zurückgewinnen zu können, wiederholt sich seine tiefe Einsicht in der Ohnmacht der Sprache bei den Dichtern des 20. Jahrhunderts. Der "Chandos- Brief" (1900/1) von Hoffmannsthal war nur ein Auslöser für eine ganze Reihe von Bekenntnissen zur dichterischen Ohnmacht im Angesicht der unfaßbaren Wirklichkeit dieses bereits in seine Endphase geratenen Jahrhunderts. Während das Rügen des Dichters als "Lügner" (Nietzsche) oder die programmatische Ablehnung der Metapher durch die Naturalisten immer noch eine sprachoptimistische Poetik enthielt, führte der "Konflikt mit der Sprache" (Bachmann) inmitten des technischen Zeitalters zur radikalen Sprachskepsis. Die Sprache als die Bedingung der Möglichkeit des poetischen Daseins wird von Grund auf neu reflektiert und teilweise negiert. Aus diesem Krisenbewußtsein der Sprache entstand das Ideal der "Sprache der Fische" [des Schweigens] (Rilke) oder der paradoxe Wille des Gedichts, ein Ort zu sein, "wo alle Metaphern und Tropen ad absurdum geführt werden" (Celan). So ist ein Grundcharakter des Gedichts im 20. Jahrhundert durch den Thematisierungsvorgang der poetologischen Reflexion im Spannungsverhältnis mit der Sprachskepsis gekennzeichnet. Die Konkrete Poesie prüft auch die Bedingungen der Möglichkeit des poetischen Daseins auf der Ebene der minimalen linguistischen Zeichen (Phonem bzw. Graphem). Im folgenden seien zwei Texte der Konkreten Poesie in diesem Zusammenhang analysiert. Ein konkreter Text, den Reinhard Döhl 1965 für die Bildseite einer Postkarte entwarf, trägt den Titel "Apfel mit Wurm" und sieht wie folgt aus: Dieser Text, dessen Umriß in der vereinfachten Form eines Apfels mit den Wörtern "Apfel" und einem Wort "Wurm" gefüllt ist, ist ohne weiteres dem poetischen Piktogramm zuzuordnen. Die Darstellung in diesem Text scheint so konkret zu sein, daß jeder, der diesen Text sieht, unmittelbar daraus den Sinn eines wurmbefallenen Apfels herauslesen würde. Wenn das Ziel der poetischen Sprache in der treffenden Darstellung des Gegenstandes läge, würde dieser Text einen Idealfall der Posie repräsentieren, in dem die Sprache als Darstellungs-Mittel mit dem dargestellten Gegenstand auf genuine Weise zusammenfällt. Auch die Einheit von Inhalt und Form in diesem Text, dessen Thema "Apfel mit Wurm" in einer Apfelform verwirklicht wird, scheint erfolgreich erreicht worden zu sein. Rilkes Frage, "Wo ist zu diesem Innen / ein Außen?" (Das Roseninnere), könnte eine Antwort in dieser einheitlichen Textgestalt als einem von Innen gefüllten Außen finden. Die Maßgabe für einen gelungenen literarischen Text, sei es die treue Wiedergabe der Wirklichkeit, sei es die Form-Inhalt-Einheit, erweisen sich jedoch als unangemessen an diesem Text, dessen Sinn für jeden zweifellos deutlich zu sein scheint, wenn man die semantische Struktur des Textganzen genauer betrachtet.Trotz der versuchten Potenzierung der Wortbedeutung durch die Visualisierung des darzustellenden Gegenstandes in einer graphischen Form und die tautologische Zusammensetzung von Inhalt und Form erreicht dieser Apfel-Text niemals jene Konkretheit eines Apfels, der in der Außenwelt real existiert, und dies nicht etwa weil hier der Stiel [sic] fehlt. Die Anordnung der zur Visualisierung des Wortsinns zusammengesetzten Schriften gleicht der Komposition auf einer zweidimensionalen Fläche, die keine zeichentechnische Perspektive für die kubische Wirkung enthält. Wenn auch die Bedeutung der Wörter "Apfel", die in der Flächenkomposition zum waagrecht und senkrecht aufeinander folgenden Muster tendieren, die runde Form dementsprechend als eine Apfelform bestimmen mag, bleibt das semantische Verhältnis zwischen den einzelnen Wörtern und der damit gebildeten Form ambivalent, und zwar aus dem schlichten Grund der Inkongruenz der Zahl, nämlich der Mehrzahl der inhaltbildenden Wörter gegenüber der Einzahl der Form als der Summe der einzelnen Wörter. Was für ein Witz ist dieses Ergebnis, daß aus so viel "Apfel" keine Äpfel sondern nur eine apfelförmige Gestalt entsteht! Wenn diese eine Form des Apfels für jeden anderen "Apfel" steht und damit ernst gemeint sein soll geht dieser Apfel-Text im ganzen vom bloßen Piktogramm zum poetischen Ideogramm über, das die einzelnen Schriften versammelnd einen Sammelbegriff zeigt. Wegen der ausgeprägten Flächenhaftigkeit der Schriftanordnung gerät die semantische Beziehung zwischen den Wörtern "Apfel" und "Wurm" ins Wanken. Die grammatisch so deutliche Präpositionalbindung der beiden Wörter im Titel ("Apfel mit Wurm") läßt jedoch noch nicht entscheiden, ob der Wurm "in" dem Fruchtfleisch eines Apfels steckt, oder ob er "auf" der Apfeloberfläche kriecht, oder ob ein Wurm "auf" der Schnittfläche eines Apfels bloßgestellt ist oder sich unter den vielen Äpfeln befindet. Demzufolge kann man auch das Thema dieses Textes nicht auf den "wurmbefallenen Apfel" beschränken. "Apfel mit Wurm" kann auch bedeuten den "Wurm auf der Oberfläche des Apfels", den "Wurm, der eine Stelle des Apfels aufgefressen hat", oder auch den "Wurm, der unter vielen Äpfeln kriechen, liegen, oder einfach sich befinden mag. Diese semantische Ambiguität steht dem eindeutigen Eindruck des visuellen Textes schroff entgegen. Von seiner syntagmatischen Struktur her betrachtet, stellt der Apfel-Text eine Anhäufung von Reihen eines sich immer wiederholenden Wortes dar, während eine beschränkte Zahl von Buchstaben in senkrechter Richtung miteinander (ApfApf, pepe, flfl, AeLAel) abwechselt. Das senkrechte Element in den Buchstaben "f" und "l", die in der paradigmatisch gleichen Stelle des Textes aufeinandergestellt sind, ist so deutlich ausgeprägt, daß die Text-Fläche durch die daraus entstehenden Schnittlinien in sieben Teile geteilt werden kann. Durch die Prägnanz des optischen Eindrucks lenkt der Apfel-Text das Augenmerk vom tautologischen Verhältnis der Wörter zur abwechselnden Beziehung der Buchstaben. Der semantische Wert der sprachlichen Zeichen (Phonem, Morphem, Lexem), der bei der waagerechten Lektüre noch erhalten bleibt, wird bei der senkrechten Bewegung der Augen in sinnlose Lautsplitter aufgelöst. In der bloßen Regelmäßigkeit der Wiederholung und der Abwechslung wird sogar die Funktion der traditionellen Metrik (Stab-, Binnen-, Endreim) sowie der Rhetorik (Anapher, Epiphora) aufgeboben. Auf der Schwundspur des semantischen Wertes verwandeln sich die Buchstaben als sprachliche Zeichen in das Element des Schrift-Musters, dessen Brechbarkeit wiederum an den abgeschnittenen Schriften am Rand des Textes deutlich wird. An diesem schriftlichen Textrand, wo die Zerstörung des sprachlichen Zeichens paradoxerweise am deutlichsten eine konkrete Form annimmt, erfährt gerade das symbolistische Prinzip Mallarmés ("poésie sans les mots") oder das nihilistische Prinzip der poetischen Form von Benn jeweils dessen buchstäbliche Konsequenz. Die absolute Überlegenheit der Form bzw. die Auslöschbarkeit des semantischen Zeichens stellt den notwendigen Sinnzusammenhang zwischen dem Ganzen (der Apfel-Form) und den Teilen (den Wörtern "Apfel") in Frage. In diesem paradoxen Verhältnis zvvischen dem Sinnverlust des Zeichens und der Sinngewinnung der Form treibt der Apfel-Text die linguistische Einsicht von Saussure, daß die Verbindung von signifié und signifiant ursprünglich arbiträr sei, auf poetische Weise auf die Spitze. Mit anderen Worten wird die Arbitrarität des Bezeichnens eines Gegenstandes durch eine bestimmte Bezeichnung in die Beliebigkeit der semantischen Funktion des schriftlichen Zeichens je nach dem Raumverhältnis in einem Text übertragen. Angesichts dieser semantischen Ambivalenz soll jedem Leser die Festlegung irgendeiner Wortbedeutung des Textes vorbehalten bleiben. Die Frage, was eigentlich an diesem Apfel-Text "konkret" ist, bleibt auch dahingestellt. Weil sich jedes Konkrete in seiner Einzigartigkeit grundsätzlich jedem sprachlichen Zugriff entziehen muß, der immer die begriffliche Reaktion auf die Wirklichkeit bedeutet, ist das Wort "konkret" für die Bestimmung des ontologischen Status eines Textes, solange dieser aus den sprachlichen Zeichen besteht, nicht nur unangemessen, sondern im streng philosophischen Sinne sogar falsch. Die mystische Einsicht "individuum est ineffabile" verbietet schon seit jeher die Verwechslung des Einzelnen, d.h. des Konkreten mit dem sprachlichen Begriff als dessen Bezeichnung. Der von den Dichtern selbst angestrebte "visuelle" Charakter eines "konkreten" Textes muß auch dort nachgeprüft werden, wo es sich um "Konstellationen" der Wörter handelt, wie sie ein bekannter Text von Gomringer beispielsweise darstellt: worte sind schatten worte sind spiele sind schatten worte sind spiele worte sind worte schatten sind worte spieleAuf den ersten Blick scheinen "worte" das Hauptthema dieses Textes zu bilden, dessen Aussage sich etwa folgendermaßen zusammenfassen läßt: "worte sind schatten und spiele". Diese Verse Gomringers können jedoch keine Originalität in ihrer Aussage behaupten. Denn die Position des ersten Verses wurde schon vertreten in der negativen Literatur-Auffassung Platons, der den Dichter aus dem idealen Staat verbannen wollte, während der dritte Vers seinen Vorläufer in der sprachphilosophischen Bestimmung von Wittgenstein findet. Worauf es hier ankommt, ist deshalb das Verhältnis zwischen der philosophischen These und der Sprache der Poesie. Ist das Gedicht bloß eine Hülle der philosophischen Weltanschauung? Oder bietet die Literatur eine ausgezeichnete Methode des Philosophierens, wie es in der metaphorischen Darlegung Platons oder in der Zarathustra-Sprache Nietzsches zun Ausdruck kommt? Läßt sich überhaupt der Text Gomringers als Ideengedicht oder Gedankenlyrik bezeichnen? Um solche Fragen beantworten zu können, soll vor allem die poetische Funktion des philosophischen Themas geklärt werden. Der poetische Text Gomringers verhält sich zu den philosophischen Thesen von Platon und Wittgenstein als Zitat aus den originalen Quellen. Die Art und Weise des Zitierens bestimmt daher die poetische Grundstruktur des Gomringerschen Textes. Die beiden sprachphilosophischen Thesen von den Vertretern der antiken und der modernen Philosophie werden durch Gomringer jeweils in der Form der Gleichung (A = B, A = C) vereinfacht. Diese syntaktische Struktur, in der zwei selbstständige Nomen durch eine Kopula verbunden und sinugemäß identifiziert werden, stellt gleichzeitig die logische Grundstruktur (p = q) aller philosophischen Thesen dar. Die zwei Begriffe "schatten" und "spiele", die syntaktisch gleichermaßen als die Gleichsetzungsnominative zum Subjekt "worte" fungieren, stehen zueinander als zwei Paradigmen, die den Anschein erwecken, nur zufällig mit "worte" in einen Zusammenhang gebracht zu sein. Die ersten zwei Wörter im 1. und 3. Vers "worte sind", die die anaphorische Figur der traditionellen Rhetorik annehmen, bilden ein syntaktisches Grundgerüst für die "Ersatzprobe", bei der die syntaktische Funktionsfähigkeit jedes Satzgliedes in verschiedenen Wortstellungen geprüft wird. Auf diesem Gerüst, das von vornherein auf die Austauschbarkeit der Wörter absieht, verlieren die beiden Wörter "schatten" und "spiele" die absolute Position als einzig geltende Bestimmung für das thematische Stichwort "worte". Die syntaktische Relativität des Wortes kommt der Relativität des Wahrheitsgehaltes seines Begriffes gleich. Daß auch Gomringer durch seine Zitate aus den Philosophen auf solches Relativieren abzielt, darauf weisen der 2. und der 4. Vers hin. Die "worte" stehen hier an der Stelle des Endreims und bilden wieder eine rhetorische Figur (Epiphora) mit dem vorhergehenden Verb "werden". Andererseits stellen diese Verse die Kommentare Gomringers zur jeweils zitierten These dar. Zu beobachten ist der Wechsel der syntaktischen Stelle zwischen Subjekt und Ergänzung, wie auch der Wechsel des Zustandsverbs "sind" durch das Vorgangsverb "werden". Sind es die Metaphern für die Entstehung der "worte"? Das Verb "werden" beinhaltet hier weder die Verwandlung in der Natur noch die religiöse Transsubstantation [sic] noch die mythische Metamorphose im Sinne von Ovid. Es weist lediglich darauf hin, daß die philosophischen Thesen, in denen ein Begriff mit einem anderen in ein Identitätsverhältnis gesetzt wird, zunächst und vor allem, abgesehen von der Wahrheit oder Lüge ihrer Aussage, ein sprachliches Ereignis darstellen. Der Sinn des Satzes "schatten werden worte" kann daher folgendermaßen ausgelegt werden: das Wort "schatten" wird zur Bestimmung des Wortes "worte" gesetzt oder: aus dem Wort "schatten" wird das Wort "worte" gemacht. Dieser Sachverhalt scheint durch die eigentümliche Anordnung der darauffolgenden Verse in einer Reihe von Distichen untermauert zu werden. Ab dem 5. Vers beginnt die Erläuterung über die logischen Verhältnisse zwischen den drei Nomen "worte, schatten, spiele". Auf den ersten Blick fällt die Tatsache auf, daß die Verben hier an die erste Stelle des Verses qua Satz vorgerückt sind. Die Satzform vom 5. bis 12. Vers läßt sich jedoch nicht eindeutig als eine Reihe von Fragesätzen ansehen, nicht zuletzt weil hier jedes Satzzeichen fehlt. Denn die Eigentümlichkeit der deutschen Syntax erlaubt es, mit dem Verb an erster Stelle nicht nur den Fragesatz, sondern auch den Imperativ- sowie den Konditionalsatz in gekürzter Form (d.h. ohne "Wenn") zu bilden. Wie sich die Verben "sind" und "werden" zueinander als sprachliche Mittel für Zitat und Kommentar verhalten, so können die vier Verspaare ab dem 5. Vers nicht als acht selbstständige Fragesätze, sondern als vier syntaktische Einheiten gelten, die jeweils aus einem Konditionalsatz und dessen Hauptsatz bestehen. In dieser Hinsicht kann jedes Vers- paar ergänzt werden: wenn schatten worte sind, dann werden worte spiele. Auf Grund dieser semantischen Struktur läßt sich der logische Zusammenhang in jedem Verspaar erkennen: Voraussetzung und Folgerung. Dem ganzen Text scheint daher die Struktur der logischen Verhältnisse der drei Grundwörter zugrundezuliegen. Das heißt, die Wörter "schatten" und "spiele" werden auf Grund ihres gemeinsamen Verbindungswortes "worte" in eine logische Kette von Voraussetzungen und Folgerungen geordnet. Charakteristisch bei solcher Konstellation der Verse ist die tautologische Zirkelstruktur, in der die Sukzession der Verse keinen logischen Kausalnexus bewerkstelligt. Der logische Zusammenhang in jedem Verspaar, der in dem Verhältnis zwischen Voraussetzung und Folgerung zu liegen scheint, entpuppt sich daher als eine Suggestion der logischen Begründung ohne echte Konsequenz. Von hier aus läßt sich die Bedingung des poetischen Prinzips in dieser Konstellation weder in der Wahrhaftigkeit der philosophischen These noch in der logischen Kausalität, sondern in der Möglichkeit der syntaktischen Verbindungen der fünf Wörter allein finden. In der Tat enthält dieser Text alle möglichen Satzformen, die das Wort "worte" jeweils mit anderen Wörtern zu bilden vermag. Unter der gegebenen Wortzahl als Bedingung gibt es prinzipiell nur zwei Satzbaupläne, die auf Grund der beiden Verben "sind, werden" möglich sind: (1) Subjekt + Prädikat + Gleichsetzngsnominativ, (2) Prädikat + Subjekt + Gleichsetzungsnominativ. Die folgende Tabelle zeigt alle möglichen Sätze, die das Wort "worte" nach diesen beiden Satzbauplänen bilden kann: (1) Subj. + Präd. + GN (2) Präd. + Subj.+ GN w + sd + sch sd + w + sch sch + sd + w wd + w + sch (Anm: w=worte, sch=schatten, sp=spiele, sd=sind, wd=werden)In seinen Text nimmt Gomringer nur 4 Sätze aus den 8 Möglichkeiten nach dem 1. Bauplan auf. Er scheint dabei der "Ökonomie" des poetischen Sprechens zu folgen, denn die Funktion der Nomen im Plural (worte, schatten, spiele) bleibt ambivalent, gleich ob als Subjekt oder als Gleisetzungsnominativ [sic] links oder rechts von den Verben. Zum Beispiel sind die beiden spiegelbildartigen Sätze semantisch identisch: worte sind schatten vs schatten sind worte. Unter diesem syntaktischen Aspekt teilt sich der ganze Text in zwei Gruppen je nach der Stellung der Verben ein: Vom 1. - 4. Vers stehen die Verben an der zweiten, vom 5. - 12. Vers an der ersten Stelle. Der Wechsel der Stellung der beiden Verben fungiert motorisch für die Fortbewegung der Verse. Die Anordnung der Nomen scheint auch einem Prinzip der Verkettung zu folgen. So läßt sich die Reihenfolge der Nomen vom 1. - 4. Vers wie folgt rekonstruieren: worte - schatten / schatten - worte / worte - spiele / spiele - worte. Das gleiche gilt auch vom 5. - 8. Vers: schatten - worte / worte - spiele / spiele - worte / worte - schatten. Diese Reihenfolge ist umgekehrt zwischen dem 9. - 12. Vers. Durch die Abwechslung der Verben und die Verkettung der Nomen wird die tautologische Zirkelstruktur auf der sprachlichen Ebene perfektioniert. Die philosophischen Thesen Platons und Wittgensteins nimmt Gomringer schließlich zum Material seines Wortspiels. Kann der strenge Philosoph Wittgenstein diese Spielart Gomringers tadeln, der seine These nur wortwörtlich nimmt und ein Bei-Spiel der Tautologie als eines philosophischen Kernsatzes des Meisters demonstrieren will? Hat Platon dazu nichts zu sagen? Von einer Schuld bei der unfrommen Aufnahme der Platonschen Lehre könnte Gomringer freigesprochen werden, wenn die Ernsthaftigkeit seines Spiels im Text nachgewiesen wurde. Seine Unschuld liegt in seinem Unterlassen der einen Möglichkeit, die in der Nähe der Wörter zwischen "spiele" und "schatten" besteht. Das heißt Gomringer unternimmt nicht einmal Wortfügungen wie "schatten sind spiele" oder "spiele werden schatten". Die Implikation solcher Sätze, die sämtliche philosophischen Darlegungen Platons zum "Schatten-Spiel" degradieren könnte, verbirgt Gomringer diskret unter den Schatten seines privaten Wortspiels. In solchem Schatten-Spiel liegt vielleicht der verborgene Sinn jedes "visuellen" Textes. Wegen der prinzipiellen Unterlassung der Verweisfunktion der Sprache ist die Methode der Konkreten Poesie als eine anti- poetische Meditation über die Bedingung der Möglichkeit der poetischen Sprechweise zu verstehen. Seit der Mitte der fünfziger Jahre wird solche Methode gleichzeitig in verschiedenen Sprachen auf dem ganzen Erdteil erprobt. Es fragt sich, ob die Dichter der konkreten Texte dabei ahnen, daß ihre Methoden den Wurzeln nach in der tausendjährigen Tradition des Zen-Buddhismus stehen. Es war einmal ein Mönch in einem altchinesischen Tempel, der sehr stolz auf das Niveau seines Wissens und die Übungen in der Lehre des Zen-Buddhismus war. Aus der allgemeinen Anerkennung seiner Begabung und Fähigkeit in zenbuddhistischer Disziplin ging die Erwartung unter den Mönchen im gleichen Tempelhof hervor, daß dieser zweifelsohne der Nachfolger des 5. Patriarchen, dessen Tod damals schon nahestand, werden sollte. Als wenn er auf die Erwartungen seiner Kollegen antworten wollte, hängte er ein Blatt an eine Holzsäule des Tempels, auf dem der folgende Vierzeiler stand: Unser Körper ist eigentlich der Boddhi-BaumDas Glück dieses Gedichtes ist die Geschicklichkeit des Vergleichs. Es war der Lindenbaum, unter dem Buddha nach neunundvierzigtägiger Meditation die ewige Erleuchtung gewann. Seitdem hieß dieser Baum der Boddhi-Baum, der Baum der Erleuchtung. Das reine Herz, das wie der klare Spiegel alles Aufgenommene wieder zurückgibt, ist das höchste Ziel der Meditation. Die Aussagekraft dieses Gedichts geht also auf die Macht der Metapher zurück, die den Kern der zenbuddhistischen Lehre zusammenfaßt und im klaren Bild veranschaulicht. Den besonderen Reiz dieser Metapher empfanden sicherlich die strebenden Mönche in der wiederholten Bestätigung, daß der Weg zur ewigen Erleuchtung für jeden offen und gangbar ist, wie es einst Buddha selbst lehrte. Denn der Dichter-Mönch weist nachdrücklich darauf hin, daß der Weg zum fernsten Ziel, zum Buddha, nirgendwo anders als im eigenen Leib eines jeden liegt. Indem der Fleiß, sich den eigenen Leib und die eigene Seele möglichst rein zu halten, als sicherster Weg zum Glück der Erleuchtung geboten wurde, glaubte jeder Mönch, der dieses Gedicht las, endlich eine gangbare Richtung für das tägliche Bemühen gewonnen zu haben. Keiner zweifelte an seiner Kompetenz für das nächste Patriarchat der Zen-Buddhisten der Tang- Dynastie. Das Glück des Dichter-Mönchs war die offene und zugleich heimliche Erwartung, als Nachfolger seines Lehrers anerkannt und ernannt zu werden. Seine Angst aber war das Schweigen unter den geschlossenen Augen des hochverehrten Meisters, der, an der Grenze zwischen Tod und Leben sitzend, die Atmosphäre im Tempel in einer erstickenden Spannung hielt. Aus der gespannten Angst wurde erschütterter Schreck, als man sah, daß irgend ein Unbekannter ein neues Blatt neben das erste über eine Nacht angeschlagen hatte. Der neue Vierzeiler lautete: Boddhi ist eigentlich kein Baum.Das neue Gedicht ist gekennzeichnet durch die Ökonomie des Ausdrucks. Die gleichen Wörter und die gleichen Bilder wurden vom ersten in dieses zweite Gedicht übergenommen. Nur die Sprechweise war von der positiven in die negative umgestellt. Dies bedeutet zunächst die Verneinung des Vergleichs im ersten Gedicht. Was im Gerüst des Vergleichs zusammengehalten wurde, wurde durch die Negation wieder gelöst. Nicht nur die Basis des Vergleichs (tertium comparationis) im ersten wurde dadurch vernichtet. Dem Sinn des Vergleichens überhaupt wurde der Boden entzogen. Denn die Negation im zweiten Gedicht stellt paradoxerweise die wahre Methode der zenbuddhistischen Methode dar, die die sinnbefreite und somit gereinigte Stelle des Herzens über die Grenze der Sprache hinausführt. Was das erste Gedicht zu entstauben versuchte, zeigte sich schon rein und hold in der negativen Sprechweise des zweiten Gedichtes. Der Vergleich als Mittel zum Zweck stand sozusagen gerade dem Ziel der Erleuchtung im Wege. Aus dem Glück des gelungenen Vergleichs wurde nun ein Unglück des Ahnungslosen. Der Dichter- Mönch wurde zum Anführer des Mordplans gegen seinen Konkurrenten. Der Verfasser des zweiten Gedichtes, der bis dahin nur als ein niedriger und schweigsamer Diener in der Küche des Tempelhofs bekannt war, erhielt die Kleider und das Geschirr seines Meisters, Symbole der Würde des Patriarchats, und entfloh seinem Verfolger im nächtlichen Dunkel. Dieser war der sechste Patriarchat des chinesischen Zen-Buddhismus der Tang- Dynastie, der zwischen 638-712 n. Chr. lebte. Mit ihm wurde das Zentrum der zenbuddhistischen Tradition vom Norden nach Chinas Süden verlegt. Das eigentliche Bestreben des gescheiterten Mönchs war als Ehrgeiz und Begierde nach der Anerkennung und der Macht des Patriarchats entlarvt worden. Diese waren auch seine verborgenen Gegner im eigenen Herzen. Diese Poesie der Negation des Zen-Meisters entspricht der grundsätzlichen Negation des sprachlichen Verweischarakters des Konkreten Textes. Zu fragen ist natürlich, ob der moderne Dichter mit seiner Konkreten Poesie wahre Erleuchtung erreicht hat. [JDZB. Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin. Veröffentlichungen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin, Bd 12. Symposium "Deutsche Literatur und Sprache aus ostasiatischer Perspektive", 26.-30.08.1991, S. 14-22.] |