Die Beziehung von Haroldo de Campos zur deutschen konkreten Poesie, insbesondere zu Max Bense



von Elisabeth Walther

Am 7. Juli 1959 erhielt Max Bense eine kleine Notiz von einem jungen brasilianischen Schriftsteller, der nach Deutschland gekommen war, um Kontakte zu knüpfen. Sie hatte folgenden Wortlaut:

"Je suis un ami d'Eugen Gomringer, lié au mouvement de poésie concrète au Brésil. J'aimerais beaucoup vous connaître personellement, et vous montrer des travaux de notre groupe. Est-ce que vous pourriez me donner un rendez-vous? Merci
beaucoup.

    Haroldo de Campos
Nous sommes au Brésil tres interessés au sujet de votre nouvelle esthétique."

Wie kam es zu dieser Anfrage eines brasilianischen Schriftstellers? Dazu muß ich kurz auf die Vorgeschichte eingehen: Max Bense war 1953 als Gastprofessor an die Hochschule für Gestaltung in Ulm berufen worden, wo er Eugen Gomringer, der ab 1954 Sekretär von Max Bill, dem ersten Rektor der Schule, war, kennenlernte. Eugen Gomringer hatte mit seinen "Konstellationen" von 1953 das Interesse von Max Bense erregt, der bekanntlich allen literarischen Experimenten gegenüber sehr aufgeschlossen reagierte. Da er 1954 mit dem Verleger Karl Georg Fischer eine literarisch-kulturelle Zeitschrift gegründet hatte, die er in Erinnerung an Sören Kierkegaards Zeitschrift "augenblick" nannte, veröffentlichte er 1955 im 2. Heft des 1. Jahrgangs Eugen Gomringers Manifest der konkreten Poesie "vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen dichtung". Bei Gomringer hatten wir 1955 Décio Pignatari, einen Freund von Haroldo de Campos, getroffen, der mit Gomringer übereinkam, die Dichtung, die sie beide hervorbrachten, "konkrete Poesie" zu nennen. Schon aus diesem Grund und nicht nur wegen des Hinweises auf seine Ästhetik war Max Bense daran interessiert, einen weiteren Vertreter der brasilianischen Dichter kennenzulernen.

Die erste Begegnung mit Haroldo de Campos im Juli 1959 verlief so anregend und positiv, daß Max Bense sofort beschloß, die neue Literatur der brasilianischen Gruppe in der Studiengalerie der Technischen Hochschule Stuttgart, die er kurz zuvor gegründet hatte, auszustellen. Schon im September 1959 kündigte Haroldo de Campos eine Postsendung mit Arbeiten seiner Gruppe, das heißt, mit Einzelblättern, Fotos, Zeitungsausschnitten usw. an. Die Gruppe von Schriftstellern um Haroldo de Campos nannte sich übrigens "Noigandres", ein Name, der sich nicht übersetzen läßt. Ihre Schriften wurden schon im Wintersemester 1959/60 in der Studiengalerie als erste Ausstellung konkreter Poesie in Deutschland gezeigt. Im Zusammenhang mit diesen Texten veranstaltete der Arbeitskreis "Geistiges Frankreich" des Studium Generale der Technischen Hochschule Stuttgart, der von Max Bense und mir geleitet wurde, einen Abend, der nur der Noigandres-Gruppe gewidmet war. Zur Ausstellung erschien auch ein kleiner Katalog mit Texten von Augusto de Campos, Haroldo de Campos und Ronaldo Azeredo, sowie außerdem von Gerhard Rühm, Helmut Heißenbüttel, Eugen Gomringer, Claude Shannon, Francis Ponge und Max Bense selbst. Rühm, Shannon und Ponge gehörten zwar nicht zu den Stuttgarter Dichtern, Rühm und Ponge standen ihnen aber nahe.

Aber kommen wir zu Haroldo de Campos zurück. Vor seinem Besuch in Stuttgart hatte die Gruppe um ihn verschiedene Arbeiten in brasilianischen Tageszeitungen veröffentlicht. So hatte zum Beispiel Haroldo de Campos selbst einen Aufsatz über Kurt Schwitters mit dem Titel "Kurt Schwitters ou o jubilo do objeto" am 28. Oktober 1956, "poema concreto - conteudo - communicação" am 1. Juni 1957 und "panorama em português: joyce traduzido" am 15. September 1957 publiziert; Augusto de Campos hatte einige Stücke von Joyce ins Portugiesische übersetzt und mit Erläuterunqen unter dem Titel "Em Finneganscopio" am 29. Dezember 1957 veröffentlicht.

Am wichtigsten war aber die Publikation des "plano pilôto para poesia concreta", die Augusto und Haroldo de Campos mit Décio Pignatari gemeinsam präsentierten. Kurz und prägnant legen sie darin ihre Auffassung von konkreter Poesie dar. Der erste Satz: "konkrete dichtung: produkt einer kritischen formentwicklung", stellt sofort auf die vorwiegend formalen Vorstellungen der Gruppe ab, die den "grafischen raum" als "strukturelles agens" und die in der Physik betonte Raum-Zeit in in die Dichtung einbezogen. Auch wird auf die Vorläufer hingewiesen: Pound, Fenollosa, Appolinaire, Mallarmé, Joyce, Oswald de Andrade und Cabral de Melo Neto. Auch wichtige Musiker wie Webern, Boulez und Stockhausen sowie die entsprechenden Maler: Mondrian, Bill und Albers werden erwähnt. Auffallend sind die vielen theoretischen Begriffe aus verschiedenen modernen Wissenschaften, die hier eine Rolle spielen, zum Beispiel: Kommunikation, Gestaltpsychologie, Pragmatik, Phänomenologie, Koinzidenz, Simultaneität, Isomorphismus, magnetisches Feld, Relativität, Zufall, Kybernetik, feed-back und viele andere. 1958 veröffentlichte Haroldo de Campos einen langen Artikel mit dem Titel "poesia concreta no Japão: Kitasono Katue". Schon im "plano pilôto" war von der "Affinität zu isolierenden Sprachen (chinesisch)" die Rede. Die Beziehungen der Brasilianer zu Japan waren schon ganz früh sehr eng, vor allem durch die Vermittlung ihres Freundes Vinholes, der in Japan lebte. Ich möchte noch auf zwei Arbeiten von Augusto de Campos hinweisen: "O lance de dados do Finnegans Wake" (1958), der auf Mallarme und Joyce bezogen ist, und auf "Gertrude Stein e a melodia de timbres" (1959), in denen diesen beiden Vorläufern der konkreten Dichtung in Brasilien die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

Seit dem 17. Januar 1960 benutzte die brasilianische Gruppe, zu der zunächst neben Haroldo und Augusto de Campos, Décio Pignatari, Cassiano Ricardo, Edgar Braga, José Lino Grünewald, Mario Chamie, Pedro Xisto und Alexandre Wollner gehörten, den Namen "invençao" (Erfindung), um ihre Texte im "Correio Paulistano", einer der größten Tageszeitungen von São Paulo, zu kennzeichnen. In dieser Ausgabe schrieb Haroldo de Campos z. B. über seine Begegnung mit Ezra Pound in Rapallo im August 1959 unter dem Titel "I Punti Luminosi". Am 6. März 1960 folgte ein konkreter Text mit dem Titel "Montagem: Max Bense, no seu quinquagésimo aniversario". Dieser Gruß zum 50. Geburtstag war dem Ästhetiker, Semiotiker und Schriftsteller Bense gewidmet. Ausführlich hatte Haroldo de Campos die Ästhetik Benses bereits am 21. März und am 4. April 1959 im "Suplemento Literario" der Zeitung "O Estado de São Paulo" dargestellt. Von Max Bense waren damals bereits die ersten drei Bände der "Aesthetica" erschienen, auf die Haroldo de Campos Bezug nahm.

Das Interesse der Noigandres-Gruppe galt jedoch nicht nur den literarischen und sonstigen künstlerischen Experimenten in aller Welt, die sie in Brasilien bekannt machten und kritisch darstellten, sondern insbesondere auch den theoretischen, insbesondere den ästhetischen Begründungsversuchen künstlerischer Produktionen. Daß Namen wie Kurt Schwitters, James Joyce, Gertrude Stein, Ezra Pound, Francis Ponge, Stephane Mallarmé, Guillaume Appolinaire, E. E. Cummings, Arno Holz und viele andere neben den brasilianischen Dichtern zum geistigen Erbe der Gruppe gezählt und ausführlich dargestellt wurden, zeugt von einer Aufgeschlossenheit gegenüber dem Experiment in Literatur und anderen Künsten, die wohl als einmalig bezeichnet werden darf. Alle Vertreter der "poesia concreta" oder des "poema concreto" waren intensiv schöpferisch tätig. Sie veröffentlichten ihre Texte in den Literaturbeilagen der großen brasilianischen Zeitungen, später in der eigenen Zeitschrift "invenção" und in vielen hervorragend gestalteten Büchern. Es würde zu weit führen, sie alle zu nennen. Auf ein theoretisches Werk möchte ich wenigsten hinweisen: "Teoria da Poesia Concreta. Textos, criticas e manifestas 1950-1960", das 1965 von Augusto und Haroldo de Campos sowie Décio Pignatari herausgegeben wurde. Auch das Buch von Haroldo de Campos "metalinguagem. ensaios de teoria e critica literária" von 1967 soll wenigstens genannt werden.

Es ist nicht erstaunlich, daß die Korrespondenz zwischen Max Bense und Haroldo de Campos, der für uns der Wortführer der Gruppe war, nach dieser ersten Ausstellung in Stuttgart zu einem intensiven Gedankenaustausch führte. Der Wunsch, die Gruppe der konkreten Dichter in Brasilien selbst kennenzulernen, wurde bei Max Bense so stark, daß er Haroldo de Campos um eine offizielle Einladung von seiten einer brasilianischen Institution bat. Inzwischen war Benses "neue Ästhetik" nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und Übersee bekannt geworden, und so erhielt er im Februar 1961 von der brasilianischen Regierung die ersehnte Einladung, noch im selben Jahr nach Brasilien, das heißt nach São Paulo, Rio und anderen Orten zu reisen, um Vorträge über seine ästhetischen Untersuchungen zu halten sowie das Land und seine wichtigsten Künstler kennenzulernen.

Die Reise vom 17. Oktober bis 3. November 1961 führte zunächst nach Rio. Bereits am 20. Oktober kamen Haroldo und Augusto de Campos, Déecio Pignatari, José Lino Grünewald mit ihren Frauen nach Rio, um uns zu treffen. Am 23. Oktober konnten wir nach Brasília fliegen, wo wir João Cabral de Melo Neto im Ministerium besuchten und von ihm zum Flugplatz begleitet wurden, um nach São Paulo weiterzufliegen. Dort erlebten wir im Hause von Haroldo de Campos mit Augusto de Campos, Décio Pignatari, Ronaldo Azeredo und ihren Frauen einen langen anregenden Abend mit lebhaften Diskussionen über Literatur und Kunst. Wir besuchten in São Paulo auch die Bienale, wo wir mit Alexandre Wollner und Mario Pedrosa zusammentrafen. Einige Brasilianer, die wir in Brasilien wiedersahen, kannten wir aus der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Zur Gruppe der konkreten Maler gehörte auch der früh verstorbene Waldemar Cordeiro, dessen pop-krete Malerei, eine Kombination von konkreter und Pop-Malerei, Max Bense sehr interessierte, so daß er ihm später ein Vorwort für seinen Katalog schrieb.

Die Besuche in den Ateliers von Aloisio Magalhães, Roberto Burle Marx und Bruno Giorgi gewährten uns außerdem Einblicke in das brasilianische Design und die bildende Kunst, durch die Max Bense zu weiteren ästhetischen Überlegungen angeregt wurde. Auch wenn wir nur die Städte Rio de Janeiro, Brasília und São Paulo besuchen konnten, waren die Eindrücke zahlreich und sehr stark. Die Vorträge, die Max Bense im Museo de Arte Moderna in Rio hielt, die Diskussionen mit Malern und Designern, Architekten (u.a. Lucio Costa, dem Gestalter von Brasília) und Schriftstellern wie Clarice Lispector und João Guimarães Rosa neben Cabral de Melo Neto und den Noigandres zeigten uns ein intellektuell geprägtes Brasilien, das, auch wenn es nur einen kleinen Ausschnitt der Gesamtbevölkerung repräsentierte, rational und sensibel die Probleme der modernen Welt zu lösen versuchte. Übrigens interessierte uns auch das Alphabetisierungsprogramm, das von Aloisio Magalhães und anderen Intellektuellen entwickelt worden war, da es praktische Fragen der Semiotik betraf. Max Bense hat in seinem Buch "Brasilianische Intelligenz" (1965) diese und viele andere Beobachtungen, die er auch in den drei folgenden Jahren in Brasilien machen konnte, zusammenfassend dargelegt.

1961 hat die Noigandres-Gruppe, wie gesagt, ihre eigene Zeitschrift "invenção" gegründet. Haroldo de Campos berichtete uns von seiner Studie über Majakowski - er hatte, um ihn übersetzen zu können, Russisch gelernt -, die er unter dem Titel "Maiakovski em Português" (1961) publizierte. Majakowskis Begriff der "Neuigkeit" hat ihn zum Vergleich mit Benses Begriff der "Originalität" angeregt, wie er schrieb. Außerdem teilte er sehr zufrieden mit, daß er den "Phantasus" von Arno Holz in der Ausgabe des Insel-Verlags von 1916 erworben habe. Haroldo hat verschiedentlich, allein und zusammen mit Augusto, über Holz geschrieben und einige seiner Texte übersetzt. Er hat immer wieder von dieser großartigen, bewundernswerten dichterischen Kraft und Modernität, die er im Werk von Arno Holz entdeckt hat, gesprochen und dadurch vielleicht auch Max Bense angeregt, einen langen Radio-Essay "Wörter und Zahlen. Zur Textalgebra von Arno Holz" für den Süddeutschen Rundfunk Stuttgart zu schreiben, der im Dezember 1964 gesendet wurde. In diesem Brief von Haroldo de Campos wird auch Cabral de Melo Neto erwähnt, dessen Buch "O cão sem plumas" wir in der Übersetzung von Willy Keller als "rot", text 14 der Reihe, unter dem Titel "Der Hund ohne Federn" im April 1964 publizieren konnten. Cabrals Gedichtsammlung "Terceira feira" [Dienstag] erschien kurz danach und wurde uns im Januar 1962 mit der Anmerkung Haroldos zugeschickt: "cabral, c'est un peu notre william carlos williams, un peu notre ponge ..." Wir erinnerten uns dabei an unser anregendes Gespräch mit Cabral über Ponge in Brasília. Auch Haroldo de Campos bewunderte die Schriften von Francis Ponge und publizierte 1962 seinen Aufsatz "Francis Ponge. A Aranha e sua Tela" [Francis Ponge, Die Spinne und ihr Netz]. Was wir aber ganz besonders in seinem Brief schätzten, war die Mitteilung, daß sowohl Carmen Portinho, die Direktorin des Museums für Moderne Kunst in Rio als auch Mario Pedrosa, der Direktor des entsprechenden Museums in São Paulo, Max Bense für weitere Vorlesungen über Ästhetik gewinnen wollten, das hieß, daß wir die Beziehungen zu den brasilianischen Künstlern und selbstverständlich auch zu den konkreten Dichtern weiter würden ausbauen können.

Inzwischen hatten wir text 7 der Reihe "rot" vorbereitet, der ausschließlich den Noigandres gewidmet war. Er erschien im Februar 1962 und enthielt Gedichte von Haroldo und Augusto de Campos, Décio Pignatari, Ronaldo Azeredo und José Lino Grünewald. Das Vorwort von Helmut Heißenbüttel "Über konkrete Poesie" und das Nachwort von Haroldo de Campos "noigandres / konkrete texte", übersetzt von Helmut Heißenbüttel, rahmte die Poesie ein. Im Nachwort von Haroldo wurde programmatisch festgestellt: "Die brasilianische konkrete Poesie ist verbalvokalvisuell: sie arbeitet mit visueller Form, mit Laut und Inhalt des verbalen Materials. In diesem Sinne ist sie gegen bloße typographische Poesie, gegen Lautgedichte, Lettrismus." Der kurze Text endet mit dem Satz: "Indem die brasilianische Poesie dem semantischen Element [...] eine so große Bedeutung zumißt, erkennt sie die Möglichkeit einer verbalen Kunst, die gleichermaßen revolutionär ist für die Form wie für den Inhalt. Vollständige Isomorphie. Engagement." Diese politisch zu nennende Haltung der Gruppe schätzte Max Bense deshalb so sehr, weil er in seiner eigenen ästhetischen und literarischen Arbeit von gleichen Prämissen ausging. Aber uns überwältigte geradezu die Schnelligkeit und Genauigkeit, mit der Haroldo de Campos die Veröffentlichungen in Deutschland verfolgte. Sein Lesehunger schien keine Grenzen zu kennen.

Am 13. Februar bestätigte Haroldo den Erhalt des detaillierten Programms für die Vorlesungen Max Benses in São Paulo und seines Textes über Brasília sowie meiner Arbeit über Peirce. Auch kündigte er die Übersetzung des 2. Kapitels meines Ponge-Buches an. Er wollte alles so schnell wie möglich publizieren. Am 17. Mai 1962 konnten wir zur zweiten Brasilienreise starten. Am 26. Mai trafen wir zwar Mario Pedrosa in Rio wegen der Vorlesungen in São Paulo, die jedoch aus finanziellen Gründen nicht zustandekamen. Wir lernten während dieses Aufenthaltes weitere Künstler wie Bruno Giorgi, Lygia Clark, Alfredo Volpi näher kennen, hatten Gespräche mit Alexandre Wollner, José Lino und Ecila Grünewald und trafen kurz mit Haroldo de Campos zusammen. Max Bense war mit dem Echo auf seine Vorlesungen und mit den vielen neuen Kontakten jedoch sehr zufrieden.

Der Austausch mit Haroldo vertiefte sich in der nächsten Zeit noch beträchtlich. Max Bense plante auch, verschiedene brasilianische Maler, die wir kennengelernt hatten, in der Studiengalerie der Technischen Hochschule auszustellen, da die Mittel für Transport und Versicherung von der brasilianischen Regierung zur Verfügung gestellt werden konnten. Schon im Dezember 1962 konnte er die Ausstellung von Skulpturen Bruno Giorgis eröffnen. Es folgte im Juli 1963 die Ausstellung von 15 Ölbildern Alfredo Volpis und im Februar diejenige der "bichos" (Tiere) von Lygia Clark. Im Juni 1965 zeigte er "Wege eines Zeichens" von Aloisio Magalhães - eine Foto-Dokumentation seines Zeichens für die 400-Jahrfeier Rios, das, obwohl ganz abstrakt, von der Bevölkerung in vielfältiger Weise angenommen worden war -, es folgten weitere Ausstellungen: im Januar 1966 noch einmal Skulpturen von Bruno Giorgi, im Januar 1967 Zeichnungen von Mira Schendel, im Dezember 1968 vier jüngere brasilianische Maler: Fonseca, Azevedo, Torres und Ianelli, im Februar 1975 visuelle Konstruktionen und transparente Texte von Mira Schendel und im Juni 1980 Ölbilder von Solange Magalhães.

Ich habe Almir da Silva Mavignier noch nicht erwähnt, der 1954 aus Rio de Janeiro an die Hochschule für Gestaltung in Ulm kam, um bei Max Bill und Max Bense zu studieren. Mavignier ist einer der konsequentesten konkreten Maler. Seine Bilder haben wir bereits 1958 in der Stuttgarter "Galerie Gänsheide 26" ausgestellt. Max Bense hat die Ausstellung eröffnet, die der eigentliche Beginn unserer Kontakte mit der brasilianischen bildenden Kunst war. Mavignier blieb übrigens in Deutschland, heiratete eine Ulmerin und wurde Profesor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, wo er noch heute lebt und arbeitet.

Doch kehren wir noch einmal zum Jahr 1962 zurück. Der Austausch von Nachrichten zwischen Haroldo de Campos und uns blieb auch in den folgenden Jahren rege. Am 15. Juli 1962, kurz nach unserer Rückkehr, berichtete er von Décio Pignataris mehrsprachigem Gedicht über Cuba, das er mit Recht als "engagierte konkrete Poesie" bezeichnete. Er kündigte außerdem die Übersetzung von Benses Text über Brasília aus dessen Buch "Entwurf einer Rheinlandschaft" an, der in "Invenção", Heft 2, 1962 erscheinen sollte. Außerdem erzählte er von der Ausstellung konkreter Poesie in Tokyo, die I.C. Vinholes zusammen mit dem deutschen Kultur-lnstitut organisieren wollte. Er selbst plante, 1963 für längere Zeit nach Stuttgart zu kommen.- Da die "Noigandres" ihre Vorläufer nicht nur nicht verleugneten, sondern sich ausführlich mit ihnen auseinandersetzten, erstaunt es nicht, Spuren von Mallarmé, Cummings u. a. in dem politisch engagierten Gedicht "cubagramma" von Augusto de Campos wiederzufinden, das er uns ebenfalls zuschickte.

Haroldo de Campos und seine Freunde verstanden unter konkreter Poesie - ich zitierte einen ihrer Sätze bereits - nicht visuelle Poesie, das heißt Figurengedichte, wie man sie seit dem Altertum kennt; denn die Figur blieb bei den Noigandres sekundär, wichtig allein waren die Wörter, das sprachliche Material selbst in einem semiotischen Sinn: Wörter, die zwar eine eigene Realität besitzen aber gleichzeitig etwas anderes repräsentieren und Konnexe, das heißt Texte, bilden. Es erstaunt daher auch nicht, daß insbesondere Haroldo de Campos an fremden Sprachen und ihren Übersetzungen interessiert war, so daß er neben Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Latein und Griechisch auch Russisch, Japanisch und Hebräisch lernte. Sein Ziel war nicht die vollständige Beherrschung einer anderen Sprache, sondern die Möglichkeit, Literaturen anderer Sprachen lesen und in die eigene übersetzen zu können. Uns fiel immer wieder auf, wie kritisch er auch die fremdsprachliche Literatur erforschte. Trotzdem war er kein negativer Kritiker. Er erkannte neidlos andere Autoren, etwa die Bedeutung von Guimarães Rosa, Cabral de Melo Neto, Oswald de Andrade an, die er in seinen Briefen und in Gesprächen erwähnte. 1962 erschien sein Buch "servidão de passagem" [Vorübergehende Leibeigenschaft], das wir in deutscher Übersetzung gern in der Reihe "rot" publiziert hätten, was sich aber leider nicht realisieren ließ.

Während unserer 3. Brasilienreise im Oktober 1963 trafen wir Bruno Giorgi, die Grünewalds, Wladimir Murtinho, Guimarães Rosa, Clarice Lispector und die Magalhães. Diesmal hatten wir in São Paulo Gelegenheit, fast alle konkreten Dichter wiederzusehen: Haroldo und Augusto de Campos, Pedro Xisto, Edgar Braga, Ruben Martins, Ronaldo Azeredo, Zacharias, mit denen wir lange Gespräche über konkrete Literatur führten. Wir trafen auch mit Mario Pedrosa, Alfredo Volpi und Mario Schemberg, dessen große Kunst-Sammlung wir ansehen durften, zusammen. Zum zweiten Mal statteten wir auch Brasília einen Besuch ab. Wladimir Murtinho, hatte ein reichaltiges Programm dafür entwikelt, so daß wir nicht nur die Stadt, ihre Architektur und das beginnende urbane Leben, sondern auch die Universität mit ihren Instituten kennenlernen konnten. Max Bense berichtete nach unserer Rückkehr darüber in der "Stuttgarter Zeitung". In Rio besuchten wir mehrfach das Museum für moderne Kunst sowie die Hochschule für Gestaltung [Escola Superior de Desenho Industrial], an der einige ehemalige Schüler aus Ulm inzwischen Dozenten geworden waren. Die Bauhaus-Konzeptionen wurden und werden wohl auch heute noch treu bewahrt.

In der Zwischenzeit hatte der brasilianische Musiker Julio Medaglia, der in Freiburg Musik studierte, eine Ausstellung "Konkrete Poesie" vorbereitet, die Max Bense eröffnete und zu der ein kleiner Katalog erschien. Haroldo de Campos konkretisierte in dieser Zeit seine Absicht, im Januar-Februar nach Stuttgart zu kommen, um Vorlesungen über brasilianische Literatur zu halten. Wegen seiner theoretischen Interessen bat Haroldo um Zusendung von Max Benses Texttheorie und von Heißenbüttels "Dilemma im Mittelpunkt aller Erfahrung". Haroldo und Augusto de Campos hatten zu der Zeit verschiedene Stücke aus "Finnegans Wake" von James Joyce übersetzt sowie einen Artikel über Rosas "Liguagem do jauareté" [Sprache des Jaguars] veröffentlicht. Haroldo de Campos hielt an der Universität Stuttgart schließlich im Februar 1964 seine Vorlesungsreihe. Er sprach Französisch über: "Oswald de Andrade et le modernisme brésilien"; "Le langage de Guimarães Rosa"; "La poésie de Cabral de Melo Neto"; "La poésie concrète brési- lienne" und "Quelques poètes brésiliens et l'avantgarde". Seine Vorlesungen waren gut besucht und wurden ein großer Erfolg. (Vgl. auch den Bericht Reinhard Döhls in "Stuttgarter Leben. Tagebuch einer Stadt", März 1964). Ende April 1964 war dann die Übersetzung von Cabral de Melo Netos "Der Hund ohne Federn" als "rot", Text 14, erschienen. Haroldo nutzte übrigens die Gelegenheit, sich mit den tschechischen experimentellen Autoren und Künstlern, vor allem Bohumila Grögerová und Josef HirÕal in Prag zu treffen und in Paris Kontakte mit Henri Chopin, Pierre Garnier und weiteren Künstlern knüpfen zu können, bevor er nach São Paulo zurückflog. Aus Brasilien bestätigte er dann den Empfang von Benses >Brasilianische Intelligenz< (1965) und Peirces >Über Zeichen<, das in meiner Übersetzung als text 20 der Reihe "rot" veröffentlicht wurde.

Anatol Rosenfeld hatte inzwischen begonnen, Haroldo de Campos' "Galaxias" ins Deutsche zu übersetzen. Vier Stücke aus diesem Buch, je zwei in der Übersetzung von Anatol Rosenfeld und Vilem Flusser, konnten wir 1966 als text 25 der Reihe "rot" publizieren. Das Buch war ohne Anfang und Ende geplant, aber auf jeder Seite sollte ein festes Element, entweder "die Reise" oder "das Buch" vorhanden sein. Haroldo machte im Brief vom 26. Oktober dazu interessante theoretische Ausführungen. Das vollständige Buch "Galaxias" erschien Portugiesisch erst 1984. Am 9. Mai veröffentlichte Haroldo de Campos sein Interview mit Max Bense unter dem Titel "A Fantasia Racional". Mit Augusto schrieb er ein Buch über den brasilianischen Dichter Sousandrade, der seiner Meinung nach zu Unrecht vergessen worden war. Er arbeitete weiter an seinen "Galaxien", deren jede einzelne Seite er so gründlich wie ein Gedicht bearbeite, wie er uns schrieb.

Unsere Reise nach Brasilien im September-Oktober 1964 fand zwar statt, aber leider gelang es uns auch diesmal nicht, in São Paulo Vorlesungen zu halten. Da ich drei Wochen vor Max Bense in Rio eintraf, bot mir die Hochschule für Gestaltung an, im September sechs Vorlesungen über Semiotik zu halten. Max Bense sprach dort anschließend über Ästhetik und Design. Leider mußten wir danach unseren Aufenthalt in Brasilien plötzlich abbrechen. Nach unserer Rückkehr erhielten wir das neue Heft 4 der "invenção" mit Beiträgen von Max Bense, Reinhard Döhl und Helmut Heißenbüttel. Der Austausch wurde intensiv fortgesetzt. Haroldo de Campos plante mit seinen Freunden eine neue Zeitschrift mit dem Titel "debabel", in der er die babylonische Sprachverwirrung abbauen oder zumindest verringern helfen wollte. Die konkrete Poesie, die, auf wenige Worte beschränkt, ohne Syntax auskommt und dadurch in anderen Sprachen leicht verständlich ist, scheint für ein solches Programm prädestiniert zu sein. Die konkrete Poesie ist immer eine internationale Bewegung gewesen, die von den persönlichen, und häufig freundschaftlichen Beziehungen der Autoren getragen wurde. Um diese Internationalität der konkreten Poesie aufzuzeigen, organisierten wir 1965 in der Studiengalerie der Universität Stuttgart eine erste internationale Ausstellung mit Texten von Autoren aus Island, Schottland, Dänemark, USA, Tschechoslowakei, Belgien, Frankreich, England, Mexiko, Italien, Österreich, Finnland, Schweden, Brasilien, der Türkei, der Schweiz und Deutschland. Neben dem Katalog zur Ausstellung erschien auch eine der ganz frühen Anthologien der konkreten Poesie als text 21 der Reihe "rot". Verschiedene Autoren, vor allem aus Skandinavien und Deutschland, konnten an der Eröffnung teilnehmen.

Als die Universität von Mexico D.F. eine Ausstellung konkreter Poesie im März 1966 plante, wurde Max Bense eingeladen, sie zu eröffnen und einen Vortrag über seine Ästhetik zu halten. Mathias Goeritz, der Architekt, Kunsthistoriker, Dichter und bildende Künstler, hatte die Ausstellung organisiert, die ein großes positives Echo auslöste. Übrigens hatte Goeritz unter dem Pseudonym Werner Bruenner bereits im April 1962 sein später weit verbreitetes Gedicht "oro" in der englischspanischen Zeitschrift "el corno emplumado", die der experimentellen Literatur gewidmet war, veröffentlicht. Selbstverständlich waren die Brasilianer in Mexico ebenfalls vertreten.

Wir hatten in der edition rot inzwischen eine Reihe konkreter Texte und grafischer Arbeiten veröffentlicht, von denen die folgenden noch nicht genannt wurden: Hellmut Geissner: "elliptoide", 1964; Ernst Jandl: "lange gedichte", 1964; Max Bense: "experimentelle schreibweisen", 1964; Friederike Mayröker: "metaphorisch", 1964; Georg Nees und Max Bense: "computer grafik", 1965; Konrad Balder Schäuffelen: "en gros & en detail", 1965; Klaus Burkhardt und Siegfried Maser: "strukturen berechnungen", 1965; Franz Mon: "5 beliebige fassungen", 1967; Mira Schendel: "grafische reduktionen", 1967; Francis Ponge: "praxis der sprache aus Malherbe" [übersetzt von Elisabeth Walther], 1967; Witold Wirpsza: "bruchsünden und todstücke" [übersetzt von Maria Kurecka] 1967; Diter Rot: "80 wolken", 1967; Timm Ulrichs: "lesarten und schreibweisen", 1968; Johannes Ernst Seiffert: "hier sei kühl", 1968; Günter Neusel: "Fachwerke", 1968; George David Birkhoff: "einige mathematische elemente der kunst" [übersetzt von Elisabeth Walther], 1968; Max Bense: "kleine abstrakte ästhetik", 1969; Aloisio Magalhaes: "der weg eines zeichens", 1969; Klaus Burkhardt und Reinhard Döhl: "poem structures in the looking glass", 1969; "konkrete poesie international 2" [mit Texten aus Japan, England, USA, Schweiz, Spanien, Türkei, Irak, Brasilien (aber ohne die Noigandres), Argentinien und Deutschland], 1970; Friederike Roth und Gabbo Mateen: "minimal-erzählungen", 1970; Bernard Bolzano: "semiotik", 1971; Charles Sanders Peirce: "graphen und zeichen. prolegomena zu einer apologie des pragmatizismus" [übersetzt von Friederike Roth], 1971; Carole Spearin McCauley: "six portraits", 1972; Yona Friedman: "gruppen - netzwerke" [übersetzt von Rita Helmholtz und Gerald Blomeyer], 1974; Charles Sanders Peirce: "zur semiotischen grundlegung von logik und mathematik" (übersetzt von Grudrun Scholz) 1976. Diese Aufzählung zeigt, daß wir neben den konkreten Dichtern auch theoretische, das heißt ästhetische und semiotische Texte sowie Computergrafik publizierten.

Haroldo de Campos reiste im Sommer 1966 nach Mexico und New York, um verschiedene Kontakte zu knüpfen, zum Beispiel mit Mathias Goeritz und Roman Jakobson. Max Bense hatte im März 1967 Gelegenheit, im Goethe-lnstitut in Paris über konkrete Poesie zu sprechen, wobei Lily Greenham konkrete Texte vortrug. Es war, wie schon gesagt, auch eine rege Reisetätigkeit mit der konkreten Poesie verbunden. Haroldo de Campos war in New York übrigens durch Marshall MacLuhan auch mit elektronischen Techniken in Berührung gekommen. Im Frühjahr 1969 konnte er mit einem Stipendium einige Wochen lang in Paris arbeiten und durch unsere Vermittlung Francis Ponge, den er schon lange sehr schätzte, aber noch nicht persönlich kennenlernen konnte, in Nizza und Bar-sur-Loup besuchen, wo Ponge mit seiner Frau den Sommer über wohnte. Leider konnten wir ihn während dieses Europa-Aufenthaltes nicht sehen. Er schrieb aber von der Vorbereitung der brasilianischen Ausgabe der "Kleinen abstrakten Ästhetik" von Max Bense, die er übersetzte. Haroldo kam im Januar 1970 wieder nach Paris und es gelang ihm, für einige Tage auch nach Stuttgart zu fahren. Es war ein anregendes Wiedersehen. In der Festschrift zum 60. Geburtstag von Max Bense im Februar 1970 erschienen dann Beitrage von Cabral de Melo Neto, Haroldo und Augusto de Campos sowie José Lino Grünewald. Haroldo kam im Frühjahr 1971 ein weiteres Mal nach Paris, aber auch diesmal konnten wir ihn nicht treffen. Max Bense eröffnete am 24. März 1971 im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart, zusammen mit Uwe M. Schneede und Gomringer, die vom Stedelijk Museum, Amsterdam, unter Stuttgarter Mithilfe aufgebaute umfangreiche Ausstellung "akustische texte / ? konkrete poesie / visuelle texte", die große Beachtung fand.

Nachdem Haroldo de Campos 1971 fünf Monate in den USA verbracht hatte, schrieb er uns am 22. Mai aus New York. Inzwischen war Max Benses "Pequena Estetica" in der Übersetzung von Jaco Guinsburg, Ingrid Dormin und Haroldo de Campos erschienen. Das Buch enthält außer dem vollständigen Text der Ästhetik als ersten Teil, eine "Pequena Antologia Bensiana" als zweiten Teil. In ihr sind verschiedene, schon in Brasilien erschienen Texte von Max Bense enthalten. In seiner ausführlichen Einleitung zeigt Haroldo de Campos die Berührungspunkte auf, die zwischen der Ästhetik Benses und anderen ästhetischen und theoretischen Auffassungen bestehen, und ordnet sie in den größeren Rahmen zeitgenössicher Bemühungen um eine theoretische Durchdringung moderner künstlerischer Aktivitäten ein. Selbstverständlich macht er vor allem auf die Punkte aufmerksam, die den Vorstellungen und Werken seiner Gruppe der "Noigandres" nahekommen. Diese Einleitung mit dem schönen Titel "Umbral para Max Bense" ist eine der bisher wichtigsten Analysen der Ästhetik Max Benses.

Im Frühjahr 1972 kam Haroldo erneut nach Paris, doch wir hatten wiederum keine Gelegenheit, ihn zu treffen. Erst bei seinem nächsten Aufenthalt im September 1972 konnte er für einige Tage nach Stuttgart kommen. Der Austausch von Büchern, Schriften und Briefen ging weiter, und es wurden auch gemeinsame Bücherprojekte gemacht, die aber leider nicht realisiert werden konnten. Auch im Januar 1976 besuchte uns Haroldo mit seiner Frau vier Tage lang, und im Februar kamen Augusto de Campos mit Frau und Sohn für zwei Tage nach Stuttgart. 1977 sahen wir Haroldo mit Frau Ende Januar noch einmal für zwei Tage, aber dann dauerte es bis November 1984, ehe wir ihn wiedersehen konnten. Da wir damals die meiste Zeit des Jahres in Suzette/Vaucluse lebten, besuchte uns Haroldo am 4. Juli 1985 mit Ines Oseki-Dépré von Aix-en-Provence aus für ein paar Stunden. Dies sollte unsere letzte gemeinsame Begegnung mit Haroldo de Campos sein.

Erst nach dem Tod von Max Bense, im September/Oktober 1994, kam Haroldo de Campos noch einmal nach Stuttgart, als im Rahmen der "präzisen vergnügen. max bense zeichen und konkrete texte oder als stuttgart schule machte" seine "Galaxias" im Wilhelmspalais vom Trio Ex Voco und im Wilhelma-Theater "Il rio - Der Fluß" von Cabral de Melo Neto vorgestellt und aufgeführt wurden.

Was bleibt noch zu erwähnen? Am 23. September 1988 eröffnete Max Bense in der neugegründeten "Stiftung für konkrete Kunst" in Reutlingen die erste große Ausstellung konkreter Poesie aus unserer gemeinsamen Sammlung, wo selbsverständlich die Schriften und Bücher der Noigandres gut sichtbar gezeigt wurden. Im Anschluß an die Ausstellung haben wir unsere Sammlung dieser Stiftung geschenkt, damit sie öffentlich zugänglich werde. Max Bense hat damit seinen persönlichen Einsatz für die konkrete Dichtung aus aller Welt zu einem, wie ich sagen möchte, würdigen Abschluß gebracht. Er konnte nicht ahnen, daß sie bisher noch immer nicht öffentlich zugänglich ist, woran ihm so sehr gelegen war.

Es ist zwar heute nicht mehr so viel von konkreten Dichtern zu hören wie in den intensiven Sechzigern, aber die konkrete Bewegung hat durch viele Ausstellungen in den letzten Jahren immer wieder von sich reden gemacht und scheint durchaus lebendiger zu sein, als es gemeinhin scheint. War sie damals nur einem kleinen Kreis bekannt und wichtig, so dringt sie eigentlicht erst jetzt in das Bewußtsein einer größeren Öffentlichkeit. Auch die Beziehung zwischen Haroldo de Campos und seinen Freunden zur "Stuttgarter Gruppe" hat dabei sicherlich eine wichtige Rolle gespielt. Anzumerken wäre noch einmal, daß die Konkrete Kunst kein nationales Phänomen ist, wie behauptet wurde, sondern eine internationale Bewegung genannt werden muß. Fast gleichzeitig entstanden diese Formen nach den genannten Vorläufern wie Mallarmé, Joyce, Holz, Gertrude Stein und anderen in allen Teilen der Welt. Offensichtlich wurden die Anregungen der Vorläufer fast gleichzeitig an verschiedenen Punkten unseres Planeten aufgenommen und in eigenen Schöpfungen weitergeführt.

Ich möchte zum Schluß einen Satz von Francis Ponge zitieren, den Max Bense als Motto für sein Buch "Progammierung des Schönen. Allgemeine Texttheorie und Textästhetik" von 1960 genommen hat und der auch das Vorhaben der Noigandres und insbesondere Haroldo de Campos' genau ausdrückt:

"Damit wir nicht behaupten können, fähig zu sein, eine Realität der konkreten oder geistigen Welt repräsentieren zu können, muß ein Text zuerst die Realität seiner eigenen Welt erreichen: diejenige der Texte."

[Vortrag, Wilhelmspalais 10.9.1994; aktualisiert 1997]