Hans Arp: "Kaspar ist tot". Beispiel einer 'Parodie'
von Reinhard Döhl
Zwei Gedichte des Dadaismus haben erstaunliche Popularität erlangt und erscheinen häufig selbst dort in Anthologien, wo man dem Dadaismus als "Satyrspiel nach der Tragödie", als "literarischem (bzw. künstlerischem) Ulk" sonst keinen Raum gewährt: Kurt Schwitters" "An Anna Blume" und Hans Arps "Kaspar ist tot". Von Arps Gedicht liegen dabei eine Vielzahl Drucke und Fassungen vor. 1919 wird es in der Doppelnummer 4-5 der Zeitschrift "Dada" (1), wie Prosa abgesetzt, als zweiter einer Reihe von Texten unter der Sammelüberschrift "aus die wolkenpumpe" zum ersten Mal veröffentlicht: weh unser guter kaspar ist tot wer trägt nun die brennende fahne im zopf wer dreht die kaffeemühle wer lockt das idyllische reh auf dem meer verwirrte er die schiffe mit dem wörtchen parapluie und die winde nannte er bienenvater weh weh weh unser guter kaspar ist tot heiliger bimbam kaspar ist tot die heufische klappern in den glocken wenn man seinen vornamen ausspricht darum seufze ich weiter kaspar kaspar kaspar warum bist du ein stern geworden oder eine kette aus wasser an einem heissen wirbelwind oder ein euter aus schwarzem licht oder ein durchsichtiger ziegel an der stöhnenden trommel des felsigen wesens jetzt vertrocknen unsre scheitel und sohlen und die feen liegen halbverkohlt auf den scheiterhaufen jetzt donnert hinter der sonne die schwarze kegelbahn und keiner zieht mehr die kompasse und die räder der schiebkarren auf wer isst nun mit der ratte am einsamen tisch wer verjagt den teufel wenn er die pferde verführen will wer erklärt uns die monogramme in den sternen seine büste wird die kamine aller wahrhaft edlen menschen zieren doch das ist kein trost und schnupftabak für einen totenkopfEin Jahr später begegnet der Text, typographisch wie ein Gedicht angeordnet, als Text 1 und 2 von fünf numerierten Texten unter der Überschrift "Die Schwalbenhode" in dem von Richard Huelsenbeck besorgten "Dada Almanach" (2), ohne textliche Änderung überdies und also ohne inhaltlichen Zwang, die äußere Form zu ändern. Für diese augenscheinliche Unsicherheit dem typographischen Arrangement gegenüber könnte man eine zweifache Erklärung versuchen. Einerseits ließe sich sagen, daß hier im einzelnen nicht mehr entschieden werden kann, ob es sich nun eigentlich um Lyrik oder um ein Stück wenn auch lyrische Prosa handelt; auf der anderen Seite könnte man davon sprechen, daß die traditionellen Gattungskriterien keine Verbindlichkeit mehr besitzen, daß sich die Grenzen zwischen Lyrik und Prosa verwischen, daß kein innerer, vom Sujet her bedingter Zwang mehr besteht, ein Gedicht oder ein Stück Prosa zu schreiben. Das gewählte graphische Arrangement wäre gewissermaßen unverbindlich geworden, die Entscheidung des Autors zufällig und die Form eine Äußerlichkeit. Und schließlich könnte man noch sagen, daß diese Unsicherheiten dem formalen Bild gegenüber dadurch bedingt sind, daß keine Identität mehr besteht zwischen dem, was gesagt wird, und der rhythmisch-metrischen Struktur; eine historische Erfahrung überdies, die bereits für die Sonette Platens gilt und bei Rilke sehr deutlich wird, wenn sich Vers- und Satzstruktur seiner Gedichte nicht mehr decken. Und noch etwas ist bei dem zweiten Druck im "Dada Almanach" von Interesse. Wie gesagt, erscheint hier der Text als Text 1 und 2, so daß man auch weiterlesen und die von 1 bis 5 numerierten Texte als einen Text in fünf Abschnitten interpretieren könnte. Damit deutet sich eine weitere Eigenart des Literarischen Werkes von Hans Arp an: die ständige Möglichkeit, einen Text zu erweitern oder gar - an anderer Stelle - Teile eines Textes zum Ausgangspunkt neuer Texte zu machen (3); eine Erfahrung, die etwa auch für die Lyrik Trakls gilt. D.h.: nicht nur die Gattungskriterien sind unverbindlich geworden, es besteht nicht nur kein Zwang mehr, eine ganz bestimmte Form der Aussage zu wählen, es besteht auch kein unmittelbarer Zwang mehr zu einer bestimmten Aussage. Auch die Inhalte scheinen unverbindlich, können beliebig gewechselt, vertauscht und montiert werden. Damit wäre aber ein Punkt erreicht, wo der Glaube des 19. Jahrhunderts an eine Verbindlichkeit der dichterischen Aussage in Frage gestellt wird durch eine Unverbindlichkeit der Aussage. Hatte Arp den Text 1920 noch ohne textliche Änderungen in seinen ersten Gedichtband "Der Vogel selbdritt" (4)aufgenommen, so verwundert es dennoch nicht, wenn wir bei einem späteren Druck in "On my Way" (5) Varianten und Einschübe feststellen: kaspar ist tot weh unser guter kaspar ist tot weggis 1912Für den bio-bibliographischen Zusammenhang ist die hier zum ersten Mal zugesetzte, später in der Arp-Monographie Carola Giedion-Welckers (6) wieder begegnende Datierung "Weggis 1912" von Bedeutung, weil sie wahrscheinlich macht, daß dieses stets dem Dadaismus zugeordnete Gedicht schon vor Entstehung des Dadaismus (1916) geschrieben wurde. (7) Daß es dennoch dem Dadaismus, wohl auch aus Unkenntnis dieser Datierung, zugeordnet wird und zugeordnet werden kann, läßt sich als ein Indiz dafür werten, daß der Dadaismus nicht auf einen Schlag in Zürich erfunden wurde, daß er vielmehr bereits vorbereitet war. (8) 1912 (nach anderen Angaben 1911) hat Arp Kandinsky in München besucht. "Es war die Zeit", erinnert er sich später, "da die abstrakte Kunst sich in die konkrete Kunst zu verwandeln begann, d.h. die fortgeschrittensten bildenden Künstler setzten sich nicht mehr vor einen Apfel, eine Guitarre, einen Menschen oder eine Landschaft, um diese in farbige Kreise, Dreiecke und Vierecke zu verwandeln und aufzulösen, sondern schufen aus eigenster Lust und eigenstem Leide, aus Linien, Flächen, Formen, Farben, selbständige Gebilde. Kandinsky ist einer der ersten, sicher der erste, der es bewußt unternahm, solche Bilder zu malen und entsprechende Gedichte zu schreiben". (9) Es ist nicht nachprüfbar, ob das Gedicht "Kaspar ist tot" in Folge dieses Besuches, was ja denkbar wäre, in einer ersten Fassung niedergeschrieben wurde. Aber selbst wenn man diese Möglichkeit unterstellt, wäre der von Kandinsky vermittelte Impuls auf vorbereiteten Boden gefallen. Bereits für die Jahre 1908 bis 1910 erinnert Arp, "die ersten Versuche, die anerzogenen, konventionellen Kunstformen zu überwinden. Es war eine qualvolle Zeit. Ich lebte einsam am Fuße der Rigi zwischen Weggis und Greppen, in der Schweiz. Im Winter sah ich monatelang keinen Menschen. Ich las, dichtete, zeichnete, malte, bildhauerte winzige Plastiken und schaute aus dem Fenster meines kleinen Zimmers in die von Schneewolken verhangenen Berge. Es war eine abstrakte Landschaft von kompromißloser Strenge. Während ich mit der abstrakten Kunst wie Jakob mit dem Engel rang..." (10) In diesem Zusammenhang läßt sich das vorliegende Gedicht fraglos zu den Versuchen Arps zählen, die "anerzogenen, konventionellen Kunstformen zu überwinden"; bezogen auf den Kandinsky-Besuch, an der Grenze zwischen abstrakter und konkreter Kunst, wobei wir sogleich einschränkend anmerken müssen, daß Arp selbst die Begriffe abstrakt/konkret in keinem Falle sehr streng scheidet. Wenn wir uns jetzt dem Text selbst zuwenden wollen - wir wählen für unsere Interpretation die erste gedruckte Fassung aus dem Jahre 1919 -, so können wir ihn in einer ersten Annäherung als eine Art Totenklage bezeichnen. Er setzt ein mit der Klage ("weh unser guter kaspar ist tot"). Es folgt eine Gruppe von drei Fragen, die zugleich Eigenschaften bzw. Handlungen des Toten in Erinnerung bringen ("wer trägt nun die brennende fahne im zopf wer dreht die kaffeemühle wer lockt das idyllische reh"). Der Klagende erinnert zwei weitere Eigenschaften des Toten ("auf dem meer verwirrte er die schiffe mit dem wörtchen parapluie und die winde nannte er bienenvater"). Wiederum setzt mit einem dreimaligen Weh die Klage ein ("weh weh weh unser guter kaspar ist tot"), die mit einem Ausruf bzw. einer Anrufung wieder aufgenommen wird ("heiliger bimbam kaspar ist tot"). Die durch Kaspars Tod eingetretene Situation wird angedeutet ("die heufische klappern in den glocken wenn man seinen vornamen ausspricht darum seufze ich weiter kaspar kaspar kaspar"); an Stelle des dreimaligen Weh tritt die Anrufung des Toten, gleichsam seine Beschwörung, die in einer disjunktiven Frage aufgegriffen wird ("warum bist du ein stern geworden oder eine kette aus wasser an einem heissen wirbelwind oder ein euter aus schwarzem licht oder ein durchsichtiger ziegel an der stöhnenden trommel des felsigen wesens"). Die durch Kaspars Tod eingetretene Situation wird als beklagenswert konstatiert ("jetzt vertrocknen unsere scheitel und sohlen und die feen liegen halbverkohlt auf den scheiterhaufen jetzt donnert hinter der sonne die schwarze kegelbahn und keiner zieht mehr die kompasse und die räder der schiebkarren auf"). Noch einmal folgen drei Fragen, die zugleich an Eigenschaften bzw. Handlungen des Toten erinnern ("wer ißt nun mit der ratte am einsamen tisch wer verjagt den teufel wenn er die pferde verführen will wer erklärt uns die monogramme in den sternen"). Zwar wird man durch sein Abbild das Gedächtnis des Toten bewahren ("seine büste wird die kamine aller wahrhaft edlen menschen zieren"), doch vermag das nicht über die Trostlosigkeit der durch seinen Tod eingetretenen Situation hinwegzutäuschen ("doch das ist kein trost und schnupftabak für einen totenkopf"). Ist es noch verhältnismäßig leicht, diese Gliederung aufzuzeigen, gerät der Interpret bei näherem Hinsehen sofort in Schwierigkeiten. So bleibt z.B. unklar, ob "totenkopf" den beklagten Toten oder den Klagenden meint. Nur der Hinterbliebene bedürfte des "trostes" und des "schnupftabaks". Dann wäre der Hinterbliebene durch "totenkopf" gekennzeichnet. Semantisch gehört "totenkopf" aber zu einem Toten, dem man (das wäre ja denkbar) "schnupftabak" mit ins Grab legen könnte. Doch bedarf der Tote wiederum nicht des "trostes". Schließlich ließe sich noch die Lesart vertreten, daß die "büste" kein "trost und schnupftabak", also kein Ersatz für einen Toten ("totenkopf") sei. Diese Schwierigkeiten lassen sich auch deutlich an vier bisher vorliegenden
Interpretationsversuchen ablesen, die wir aus instruktiven Gründen
hinzuziehen wollen. Ein erster Erläuterungsversuch stammt von Wolfdieter
Schnurre (11), doch sollte man hier nicht eigentlich von einer Interpretation
sprechen, eher von einer feuilletonistischen Paraphrasierung eines vorliegenden
Gedichts. Einige Feststellungen Schnurres führen weit ab vom Text;
denn daß Kaspar "ein metaphysisches, wenn nicht gar göttliches
Wesen", "kein Geschöpf aus Fleisch und Blut" sondern "Geist", gar
die "Phantasie" war, läßt sich mit keiner Textstelle Den zweiten Erläuterungsversuch hat Peter Härtling unternommen. (12) Auch er weicht vor der augenscheinlichen Schwierigkeit der Interpretation in die Paraphrasierung aus. Doch sieht Härtling, was Schnurre übersieht: das Spielerische des Textes. Allerdings interpretiert er den Kaspar dabei u.E. zu sehr in die Figur des Puppenspiels hinein: "Kobold des Absurden", "Figur vieler Märchen", die Feen als "Kaspars holdester Umgang", "Kaspargeist" usw. Auch bleibt Härtling mit Erklärungen wie "Geist des 'Allesmöglichen', des kindlichen Hexens" bei dem vergeblichen Versuch, einen in sich unverständlichen Text in verständliche Umgangssprache zu übersetzen. Erwin Rotermund klammert von vornherein eine traditionelle Interpretation aus und projiziert den Text im Zusammenhang seiner Theorie, daß es sich um eine "integrale Parodie im strengen Sinne" handle, auf eine barocke Poetik: Es handelt sich hier um eine freie Imitation der Gattung Totenklage, deren bestimmende Elemente auch in diesem Gedicht vorhanden sind. das "Lob" Kaspars geschieht... in der Erwähnung der "Tugenden" ("schöne grosse seele"), der "herrlichen Thaten und Verdiensten" ("wer verjagt nun den sirokkoko teufel"). Die "Klage" liegt vor allem in den "Weh"-Rufen; die Aufforderung zur allgemeinen Trauer ist ersetzt durch ihre Darstellung ("die heufische klappern herzzerreissend vor leid", "darum seufze ich"). Das dritte zur Gattung Totenklage gehörende Element, der "Trost" für die Zukunft, ist nur kurz im letzten Satz vertreten: die Büste Kaspars "wird die kamine aller wahrhaft edlen menschen zieren". Mit dem Topos "alle Menschen" erscheint noch einmal das hyperbolische "Lob". Die Schlußwendung schränkt den "Trost" der Büste als "castrum doloris" abschließend wieder ein und erneuert dadurch die "Klage". Den Mittelpunkt des Gedichtes bildet die Apostrophe an "die Manes oder den Geist des Verstorbenen", die in der Leichenrede meistens am Schluß steht. In fast symmetrischer Anordnung gruppieren sich die Lob- und Klagepartien um den Mittelteil - ein Aufbau, dem die rhetorische Redeweise mit ihren zahlreichen Parallelismen und anaphorischen Wendungen entspricht. Dadurch, daß diesen Strukturschichten ein eigentlich ungemäßer Gegenstand, die grotesk-phantastisch umgebildete Kinder- und Märchenwelt um die Figur des Kaspar unterschoben wird, entsteht die Diskrepanz des Gedichts. (13)Die vierte, ebenfalls mit wissenschaftlichem Anspruch auftretende Analyse findet sich in Alfred Liedes Buch über die Unsinnspoesie im Kapitel "Hans Arp und der Tod". Liede führt im Anschluß an den zitierten Text, den er "eines der eindringlichsten" von Arps frühen Gedichten nennt, aus: Hier hält nicht mehr der Rhythmus volkstümlicher Dichtung sondern der einer sinnlosen Totenklage des größten Jammers die Kette der Bildassoziationen zusammen. Das Gedicht ist so sinnlos wie die Totenklage alttestamentlicher Klageweiber. Das Pathos der anaphorisch wiederholten Fragen usw. trägt eine Häufung eigenartiger Bilder. Hier nähert sich Arp barockem Ausdruck unsinnigen Schmerzes, etwa bei Lohenstein, mit einem Unterschied freilich, der den Abstand dreier Jahrhunderte markiert: seine Wortfolgen tauchen aus dem Meer des Unbewußten empor, während der Barockpoet die Grenzen der Sprache meist durch Kombination und Häufung überlieferter Bilder erreicht. Arps Rhetorik hat barocke Züge, neben der Anapher und der Bilderhäufung besonders in der Verwendung der als Bindemittel gedachten Alliteration. Hier und da erinnern die Bilder auch an solche der Bibel. (14)Uns scheint wichtig, daß wie schon Rotermund so auch Liede auf den Ansatz einer traditionellen Interpretation verzichtet, der sprachlichen Form des Textes vor allem seine Aufmerksamkeit schenkt, literarhistorische Bezüge andeutet und das Gedicht als "sinnlos, dem Ausdruck unsinnigen Schmerzes" angenähert, an den "Grenzen der Sprache" versteht. Wir wollen jedoch noch von einer anderen Seite an den Text herangehen. Dabei stimmen wir mit Liede und Rotermund darin überein, daß es sich um eine Art Totenklage handelt. Totenklagen sind in der Literaturgeschichte in mancherlei Ausformung bekannt: als (germanisches) Totenlied, als Epikedeion, als Nänie, als Threnos, als Ode und Elegie, um die wichtigsten zu nennen. Ihnen allen ist gemeinsam: 1. Sie stellen eine Gelegenheitsdichtung im wörtlichen Sinne dar.Für die Entwicklung der Totenklage war dabei weniger eine metrische Form als vielmehr eine Stimmungslage ausschlaggebend. Im Barock etwa finden wir die Totenklage in Form der Elegie. Opitz empfiehlt sie 1624 für traurige Sachen und Liebesdinge. Gottsched widmet ihr in seinem "Versuch einer Critischen Dichtkunst" ein ganzes Hauptstück "Von Elegien, das ist, Klagliedern und verliebten Gedichten". Im Einverständnis mit Horaz bezeichnet er die Elegie als eine "niedrige Art von Gedichten". "Sie soll nämlich in einer natürlichen und fließenden Schreibart abgefasset werden, einen traurigen Inhalt haben, und fast aus lauter Klagen bestehen". (15) Denn "eine geschminkte Schreibart würde hier, durch ihr künstliches Wesen nur anzeigen, daß der Witz mehr Theil an der Schrift habe als das Herz". (16) Formal verlange die Elegie "ungleich zusammengesetzte, oder abwechselnde Verse von zweyerley Gattung. Dieses sind nun theils die langen heroischen, theils die kürzern fünffüßigen Verse der Griechen und Lateiner". (17) Für unsern Zusammenhang interessant ist noch eine abschließend von Gottsched zitierte Passage aus der "Dichtkunst" Boileaus: "Mit einer etwas höheren Sprache, ... die doch aber nicht verwegen ist, weis die klagende Elegie, in langen Trauerkleidern, mit zerstreueten Haaren, unter einem Sarge zu seufzen". (18) Bezogen auf "Kaspar ist tot" bemerken wir sogleich weitgehende Übereinstimmungen oder doch Ähnlichkeiten mit Totenklagen oder Elegien dieses Inhalts. (19) Wir haben die Klage, die Erinnerung an die Eigenschaften des Toten, die, gemessen an dem durch seinen Tod eingetretenen trostlosen Zustand, gleichsam zum Preis werden. Wir haben in dem dreimaligen Benennen seines Namens den Anruf, ja fast eine Beschwörung; denn dem Anruf folgt die direkte Anrede in einer disjunktiven Frage. (20) Aber die Ähnlichkeiten gehen noch weiter: an Stelle der von Horaz und Gottsched geforderten "ungleich zusammengesetzten Verse" haben die späteren Fassungen einen (allerdings nicht regelmäßigen) Wechsel zwischen längeren und kürzeren Zeilen. Und zwischen der von Gottsched konstatierten "niedrigen und natürlichen poetischen Schreibart" und der Arpschen Diktion mit ihren umgangssprachlichen und literarischen Allgemeinplätzen könnte man vielleicht eine Ähnlichkeit sehen. Es handelt sich bei unserem Text demnach um eine Totenklage um Kaspar,
eine Elegie über Kaspars Tod. Wer dieser Kaspar ist, bleibt jedoch
unklar. Nach Knauers Konversationslexikon ist Kaspar ein persischer
Name und bedeutet "Schatzhüter". Genauso gut könnte aber einer
der heiligen drei Könige, der Suppenkaspar aus dem "Struwwelpeter"
oder der Kaspar des Puppenspiels gemeint Überprüft man den vorliegenden Text auf sein Vokabular, kann
man eine Anzahl Wörter vor allem drei Themenbereichen zuordnen:
Tod ("tot", "schwarz", "vertrocknen", "halbverkohlt", "scheiterhaufen",
"büste", "totenkopf"), Feuer ("brennende", "stern", "heisser wirbelwind",
"schwarzes licht", "ziegel", "vertrocknen", " halbverkohlt", "scheiterhaufen",
sonne", "kamine"), Wasser ("meer", "schiffe", "parapluie", "kompasse").
Doch kommt es zu keiner eigentlichen Todes-, Feuer- oder Wassermetaphorik.
Die auftretenden Wortkonnexe relativieren entweder die einzelnen Bildbereiche
("kette aus wasser an einem heissen wirbelwind") oder sie sind in sich
bereits unsinnig ("euter aus schwarzem licht") oder sie werden, an sich
verständlich, im Kontext unverständlich. Auf die Natur, den
Kosmos wird zwar mit einigen Worten angespielt ("meer", "winde", "stern",
"wirbelwind", "wasser", "licht", "sonne", aber es kommt weder zu unmittelbar
einsichtigen Bildern noch zu einer mittelbar einsichtigen Bildlichkeit
wie z. B. in klassischen Elegien. Dagegen macht ein genaues Hinhören
deutlich, daß das Vokabular bevorzugt zwei Bereichen entnommen
ist. Der erste Herkunftsbereich wäre die Umgangssprache, genauer
der umgangssprachliche Allgemeinplatz: "unser guter kaspar"; "wer dreht
nun die kaffeemühle"; "heiliger bimbam"; "die räder der schiebkarren";
"aller wahrhaft edlen menschen". Hinzu kommt in den späteren Fassungen:
"täglich zum schwarzen schnippchen schlagen"; "herzzerreissend";
"schöne grosse seele"; "warum hast du uns verlassen". Bei "heiliger
bimbam" ließe sich an eine Parallelbildung zu "heiliger Strohsack"
denken. "kaffeemühle" und "schiebkarren" sind nicht gerade lyrische
Interieurs. Darüber hinaus haben diese umgangssprachlichen Allgemeinplätze
z.T. eine literarische Vergangenheit: z.B. die "schöne grosse Seele"
der Empfindsamkeit; die "wahrhaft edlen menschen" erinnern an Goethes
Maxime "Edel sei der Mensch". - Auf der anderen Seite begegnet eine
Anzahl romantischer Requisiten (vor allem der Stimmung): "reh", "winde",
"schiffe", "glocken", "stern", "wasser", "licht", "sonne", "kamin".
Bei "jetzt donnert hinter der sonne die schwarze kegelbahn" könnte
man fast an ein Unsinnstexte dieser Art sind aber nur dann möglich, wenn die Inhalte der Worte, wenn die ihnen zugewiesenen Stimmungs- und Gefühlswerte verbraucht sind. Das würde auch erklären, warum keine wörtliche Beziehung Arps z.B. zur Romantik mehr besteht in Form der zitierenden Übernahme oder Anspielung. Denn das würde ja voraussetzen, daß die angespielten Inhalte noch gemeint sind. So aber finden wir in dem vorliegenden Gedicht eine nur noch in Wortrequisiten vorhandene romantische Welt, völlig durcheinandergebracht: eine Textwelt, die aus Trümmern und Requisiten willkürlich und kombinatorisch erzeugt und zugleich wieder zerstört wird: eine unsinnige, eine verkehrte Welt in Sprache. Die Struktur der Totenklage bewirkt dabei, daß diese unsinnige Welt nicht auseinanderfällt. Bei einer solchen im Spiel mit der Sprache, aus sprachlichen Versatzstücken zusammengebrachten Textwelt kann es natürlich nicht mehr um eine Vermittlung von Inhalten (wie auch immer) gehen, was übrigens voraussetzt, daß dem Autor die Sprache als Sprache, als Sprachmaterial bewußt ist, das er spielerisch handhaben kann. (23) Entstehende Inhalte haben so zunächst nur einen Zufälligkeitswert. Darum kann auch eine so zufällige Textwelt beliebig durch sprachliche Zusätze vermehrt werden. Wenn Arp nun in der überraschenden Kombination sprachlicher Requisiten und Allgemeinplätze so etwas wie eine Totenklage, eine Elegie erzeugt, handelt es sich natürlich nicht mehr um ein echtes Gelegenheitsgedicht, nicht mehr ernsthaft um das Bedürfnis, einen Gedanken in der Form der Kunst auszudrücken (Hegel); vielmehr um die Banalisierung und Parodierung einer literarischen Ausdrucksform. Der Tod Kaspars wäre dann nichts weiter als eine parodistische Fiktion, ein Vorwurf für Unsinnspoesie. (24) Daß das von Arp beabsichtigt war, läßt sich mit der Überschrift des zweiten Drucks im "Dada Almanach" stützen: "Schwalbenhode" ist fraglos als Verballhornung von Schwalbenode zu verstehen. (25) Überdies ist auch diese Überschrift wiederum parodistische Fiktion. Denn von Schwalben ist ja im Folgenden nicht die Rede. Und auch das zeigt, daß es Arp hier nicht um den Inhalt, eine echte Aussage, die in der Überschrift indexikalisch angespielt wäre, geht. Wenn wir jetzt noch einmal an die Arpsche Äußerung erinnern, er habe in den Jahren 1908 bis 1910 die ersten Versuche unternommen, "konventionellen Kunstformen zu überwinden", so können wir hinzufügen, daß diese Versuche im vorliegenden Fall zur Verkehrung einer literarischen Ausdrucksform in Unsinnspoesie, zur Parodierung einer literarischen Ausdrucksform geführt haben. Und wir können hinzusetzen, daß das nur möglich ist, wenn dem Autor die "anerzogenen konventionellen Kunstformen" als "vergangen", als nicht mehr erfüllbar erscheinen. Nun ist im literaturhistorischen Zusammenhang interessant, daß Rainer Maria Rilke im selben Jahr, in dem Arp (wahrscheinlich) sein "Kaspar ist tot" niederschrieb, auf Schloß Duino mit der Niederschrift seiner "Duineser Elegien" begann. Während also beim jungen Arp eine literarische Ausdrucksform nur noch ein parodistischer Vorwand für Unsinnspoesie ist, baut der späte Rilke seinen "Weltinnenraum" auf. Während Rilke noch einmal versucht, die Sprache zu "entgrenzen", spielt Arp mit ihren verbrauchten Elementen. Und während Rilke "das Dasein des Menschen als eines Singenden, das heißt Rühmenden" entfaltet und feiert", während seine Elegien "schwer deutbare, in letzte Tiefen und Gesichte versunkene Schöpfungen" (27) sind, entwirft Arp in seiner Parodierung einer literarischen Ausdrucksform eine unsinnige und damit eigentlich nicht deutbare Eigenwelt des Textes, ein Kompendium überraschender, zufälliger und unsinniger Konnexe, baut er eine verkehrte Welt auf, die zugleich wieder in sich selbst zerstört wird, eine Textwelt, die nichts mit dieser Welt zu tun hat, sie nicht abbildet und nicht deutet: eine Welt aus Sprache und Spiel. Und vielleicht könnte man noch einen Schritt weitergehen und sagen, daß diese Textwelt aus Sprache und Spiel auch ein Sich-in-Freiheit-Setzen gegenüber der Tradition der Poesie bedeutet. Das letzte, was überhaupt Inhalt einer Elegie sein kann, ihre Parodierung (vgl. Anm. 25), ist zugleich ein intellektuelles Vergnügen am Täuschen der Erwartungen (Elegie, Totenklage, romantische Requisiten). Dieses gezielte Täuschen der Erwartung aber, das Verstellen des "Sinns" und "Unsinns" ließe sich dann verstehen als eine Selbstbefreiung des Intellekts über sich selbst hinaus, als ein sich freigewordenes Lachen im Gegensatz. Und vielleicht ließe sich hier schließlich sogar von einer Heiterkeit als Selbstgenuß der Freiheit sprechen. [Der Deutschunterricht, Jg 18, 1966, H. 3, S. 51-62] Anmerkungen |