Keine Anrufung des großen Bären

Max Bense als Wegbereiter
für Konkrete Poesie und Netzliteratur
Ein Feature von Hermann Rotermund
(Produktion RADIO BREMEN 2001)



Sprecher/in 1 (Narrator)

Sprecherin 2 (Beschreibungen, Kommentare)

Sprecher 3 (Fremdzitate)

Sprecher 4 (Zitator Bense)

Regie: Hans-Helge Ott

Regieassistenz: Ilka Bartels

Ton und Technik: Peter Nielsen und Anne Derwenich

Redaktion: Gabriele Intemann



Zuspiel:

Der Monolog der Terry Jo. Hörspiel zusammen mit Ludwig Harig. Sendung: 11.09. 1968. Saarländischer Rundfunk gemeinsam mit Radio Bremen.

Musik:

Karl Heinz Stockhausen, Kontakte II. (1960). Wergo WER 6009-2, 286009-2. Das Stück enthält eine Reihe von Klangpassagen mit signalähnlichem Charakter,
die sich als kurze Trennmusiken nutzen lassen.





Musik

(ab ...... langsam ausblenden, darüber )

Zitator (Bense: Teile)

Keine Anrufung des großen Bären, überhaupt keine Anrufung mehr, alles lassen, verlassen lassen, unbeweglich bleiben, ohne Rührung, es ist alles vergeblich, es ist
alles gleich, Dinge, die einem dritten gleich sind, sind auch untereinander gleich, wenn man zu Gleichem Gleiches hinzusetzt, so sind die Ganzen gleich, wenn man von
Gleichem Gleiches wegnimmt, so sind die Reste gleich, wenn man zu Ungleichem Gleiches hinzusetzt, so sind die Ganzen ungleich, wenn man von Ungleichem
Gleiches wegnimmt, so sind die Reste ungleich, die Hälfte von einem Dritten sind einander gleich, Dinge, die einander decken, sind einander gleich, das Ganze ist
größer als sein Teil, das ist es, wovon wir träumen müssen, wovon wir träumen müssen.

Sprecher 3 / Ansager

Keine Anrufung des großen Bären – Max Bense als Wegbereiter für Konkrete Poesie und Netzliteratur. Ein Feature von Hermann Rotermund

Sprecherin 2

Mathematik und Traum: In seinem eingangs zitierten Text – »Teile« – aus dem Jahr 1960 formuliert Max Bense eine Ästhetik, die vom rationalen Kalkül angetrieben
wird. Der Stoff der Träume sind für ihn die Wörter, die einem statistischen Sprachrepertoire entnommen werden. Er wendet sich damit gegen eine sich aus den
Bedeutungen speisende, auf Bedeutungen versessene Literatur, für die Ingeborg Bachmann mit ihrem Gedichtband »Die Anrufung des Großen Bären« steht.

Narrator

Max Bense, 1910 in Straßburg geboren, beginnt bereits während seines Studiums an der Universität Bonn zu publizieren. Er studiert Physik, Mathematik, Geologie
und Philosophie und veröffentlicht gleichzeitig Zeitschriften- und Hörfunkbeiträge. Zwischen 1933 und 1936, dem Jahr der Gleichschaltung der Sender des
Reichsrundfunks, entstehen über 50 Hörfunksendungen, darunter einige Hörspiele. Leider haben sich weder Tonaufzeichnungen noch Manuskripte erhalten. Die
vorletzte Sendung, im Januar 1936, ist ein »technisches Hörspiel« mit dem Titel »Rak I startet zum Mond«. Benses Rundfunkarbeit ist danach vorläufig beendet, doch
veröffentlicht er bis 1944 zwölf Bücher und über 200 Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften. 1937 promoviert Max Bense zum Dr. phil. nat. Seine Dissertation trägt
den Titel »Quantenmechanik und Daseinsrelativität«.

Sprecherin 2

In einer Zeit, in der das Postulat einer »Deutschen Physik« durch die Hörsäle geistert und die Relativitätstheorie als »jüdischer Weltbluff« diffamiert wird, bezieht
Bense mit seiner Arbeit eine klare Position. Mit dem Begriff der »Daseinsrelativität«, den er aus den späten Schriften des Philosophen Max Scheler gewinnt, entwirft
Bense eine Erklärung dafür, dass widersprüchliche Aussagen über denselben physikalischen Forschungsgegenstand (der als Strahlung oder als Materie, als Welle
oder als Teilchen beobachtet und beschrieben wird) nicht im Widerspruch zu den Grundpositionen der klassischen Philosophie und Physik stehen müssen.

Narrator


Da ihm die Möglichkeit einer Habilitation verwehrt ist – dazu hätte er sich zuvor ein halbes Jahr in eine »Ordensschule« der NSDAP begeben müssen – nimmt Max
Bense Anfang 1938 eine Stelle als Physiker bei Bayer in Leverkusen an. Im Zweiten Weltkrieg ist er als Meteorologe Soldat und arbeitet dann in einem
medizintechnischen Labor in Berlin und Georgenthal in Thüringen. Nach Kriegsende wird er kurze Zeit Bürgermeister von Georgenthal und dann Kurator der
Universität Jena, an der er sich 1946 auch habilitieren kann. Im Sommer 1948 verlässt er die »Arbeiter- und Bauern-Universität Jena« und flieht mit seiner Familie
nach Stuttgart, wo er 1950 eine Stelle als außerordentlicher Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Technischen Hochschule antritt. Seinen
Ortswechsel begründet er in der Vorbemerkung seiner Schrift »Literaturmetaphysik«:

Zitator

Ich widme diese Schrift den wenigen freien Geistern, die in Jena nach 1945 sich zusammenfanden, um das alte Spiel der europäischen Intelligenz, das Spiel um die
Wahrscheinlichkeit der Wahrheit und der Schönheit, fortzusetzen, eine Weile wenigstens, um dann die Stadt, die Universität zu verlassen, weil es ihnen nicht möglich
schien, in einer vorgetäuschten Verbrüderung etwas anderes als einen Zerfall der menschlichen Würde zu erkennen.

Narrator

Max Benses erste Buchveröffentlichung nach dem Zweiten Weltkrieg ist der erste Band der »Konturen einer Geistesgeschichte der Mathematik« aus dem Jahr 1946.
Er behandelt das Verhältnis der Mathematik zu den anderen Wissenschaften und führt über den Begriff des Stils die Ästhetik in die Betrachtung der
Mathematik-Geschichte ein:

Zitator

Denn Stil ist keineswegs ein elementares Phänomen der Kunst. Allenthalben, wo Einbildungskraft und Ausdrucksfähigkeit des Menschen zu Geschöpfen gelangt, ist
auch Stil gegeben.

Sprecherin 2

Bense setzt sich mit Gottfried Wilhelm Leibniz und dessen Überlegungen zu einer generalisierten Mathematik, zu einer »Mathesis universalis«, auseinander. Mit ihr
leistete Leibniz wesentliche Vorarbeiten für die Einführung des digitalen Kalküls, indem er für alle Spielarten der Mathematik eine einheitliche Beschreibungssprache
forderte und entwarf. Über Leibnizens Entwicklung formaler Sprachen zur Beschreibung von Aussagen kommt Bense zum Begriff des »Stils«:

Zitator

Nur aus der leibnizischen Reduktion des Geistes auf Form wird es verständlich, dass der Stil eines Werks auch seinen Geist verrät. Denn Stil ist Form, wesentlich
Form, und wir bezeichnen diese Form als das Ästhetische, wenn sie das Sinnliche, ein Material, kategorial beherrscht.

Sprecherin 2

Der Stilbegriff bringt Bense auf die Spur einer wesentlichen historischen Koinzidenz: Im Barock, dem Zeitalter der Mathesis universalis von Leibniz, gewann die
»Folge« entscheidende Bedeutung sowohl für die Mathematik als auch für die Kunst. Die Folge wird zum Ausdrucksmittel der generalisierten Form des reinen
Geistes, zum Stilmerkmal der generalisierten Mathematik. Zugleich spielt sie auch in der Kunst, vor allem in der Architektur des Barock, eine große Rolle:

Zitator

Wir erkannten als das entscheidende mathematische Stilelement der Mathesis universalis die Folge. Wir haben zu ergänzen, daß der Begriff der Folge auch der
entscheidende ist, auf den sich das Verständnis des Übergangs vom Differenzenquotienten zum Differentialquotienten stützt. Wir haben endlich schon angemerkt, daß
zur Berechnung der geschwungenen Linien des Barock letztlich nur die Differentialgeometrie ausreichte, die wiederum aus dem infinitesimalen Kalkül entwickelt wird.
Der Beweis für eine einheitliche generalisierte Form in der Mathematik und Kunst des Barock ist tiefer nicht zu führen. Die Folge ist die generalisierte Form, die hier
den Stil bildet.

Musik

Narrator

1949 erscheint der zweite Band der »Konturen« mit dem Untertitel »Die Mathematik in der Kunst«. In ihm setzt Bense seine Betrachtung des Stils als generalisierte
Form fort, wobei er sich speziell den mathematischen Formprinzipien in der Kunstgeschichte annimmt. Der »mathematische Geist der Poesie und der Literatur«
komme in allen literarischen Prinzipien zur Geltung, am offenkundigsten aber in der Metrik und Rhythmik:

Zitator

Jedenfalls ist die Geburt der Kunstprosa im Zusammenhang mit der methodischen Klärung der rationalen Denkweise der Mathematik ...

Sprecherin 2

durch Galilei und Descartes

Zitator

... ein Faktum unserer Geistesgeschichte, das auf die kategoriale Einheit von ästhetischer und mathematischer Form verweist.

Sprecherin 2

Bense betont, dass sich Sprachbewusstsein und mathematisches Bewusstsein in einer zusammenhängenden Bewegung herausgebildet haben. Interessant sind in
diesem Zusammenhang seine Andeutungen zu modernen literarischen und philosophischen Entwicklungen:. In Ernst Jüngers »Lob der Vokale« erkennt Bense eine
»atomistische Struktur der Sprache«, mit den Vokalen als nicht weiter deutbaren Grundelementen. Komplementär dazu sieht er die Bemühungen Ludwig
Wittgensteins, in dessen aussagentheoretischer Lehre eine Reduktion auf unabhängige, logische Elementarsätze stattfindet. Bense ist damit nach dem Zweiten
Weltkrieg der erste im deutschen Sprachraum, der die Philosophie Wittgensteins in eine ästhetische Diskussion einführt.

Narrator

An einem prominenten Ort, nämlich in seiner Einleitung zu Gottfried Benns »Früher Prosa« setzt Bense 1950 seine Hinweise auf den in Deutschland bis dahin fast
gänzlich unbekannten Philosophen fort. Bense ist auch kurz darauf für die erste Nachkriegs-Veröffentlichung von Auszügen aus Wittgensteins »Tractatus«
verantwortlich – sie erscheint 1951 in dem repräsentativen Werk »Zwischen den beiden Kriegen – Die Philosophie«.

Musik Sprecherin 2

Das Verhältnis der Menschen zur Natur, das Bense zeitgerecht neu beschreiben wollte, wird von ihm in einer technologischen Theorie der Existenz definiert. Ihn ihr
fasst er die Differenz von Mensch und Maschine im »technologischen« Zustand neu. Bense übersieht dabei keineswegs, dass Maschinen Hervorbringungen der
menschlichen Intelligenz sind und weicht auch den sich aufdrängenden ethischen Fragen nicht aus.

Zitator

Wenn nun die Welt, die wir bewohnen und an deren Perfektion die Funktionäre und Intellektuellen dieser Welt bewußt arbeiten, wenn schließlich der Prozeß dieser
Perfektion der natürlichen zu einer technischen Welt, die unserer Existenz adäquat ist, ein beständiger, nicht umkehrbarer und nicht abzubrechender Prozeß der
menschlichen Arbeit ist, dann ist das Ethos dieser Existenz radikal durch den funktionalen und intelligiblen Sinn ihrer Arbeit definiert.

Sprecherin 2

Die intellektuelle Existenzweise der Menschen hat für Bense im 20. Jahrhundert unausweichlich Züge erhalten, die ebensosehr maschinenförmig wie geistig sind.
Weder begrüßt Bense die Technik euphorisch, noch dämonisiert er sie. Sie hat für ihn – ganz pragmatisch und optimistisch gefasst – die gesellschaftliche Aufgabe, die
Bewohnbarkeit dieser Welt zu verbessern. Diese Grundhaltung, die Bense selbst »technologisch-ontologisch« nennt, verteidigt er gegen die Kritik Theodor W.
Adornos an der Kulturindustrie:

Zitator

Wir sind nicht der Meinung, daß die Immanenz der Technischen Welt in den Aktionen des Bewußtseins, das transzendentale ‚Machen‘ in der Philosophie und
Literatur eine Regression der intellektuellen Einbildungskraft hervorriefe, etwa so wie, nach Theodor W. Adorno, die moderne Kulturindustrie, eine forcierte Folge
der technologischen Beschaffenheit unserer bewohnten Welt, eine Regression des musikalischen Hörens besorge. Im Gegenteil, wir sind davon überzeugt, daß die
ontologische Lesart, als direkte Funktion der technologischen Erschaffung des ästhetischen Gebildes, eine Verfeinerung in der ästhetischen und philologischen
Aufnahmefähigkeit für Texte zur Folge hat.

Sprecherin 2

Das Kriterium »Form« bzw. »Stil« steht für Bense im Zentrum der Betrachtung von Kunst. Im Stil fällt Artistisches und Technologisches zusammen. Bense nähert sich
hier von der technischen Seite den soziologischen Unterscheidungen Walter Benjamins an. Benjamin formulierte sein Verständnis der künstlerischen Technik 1930 in
dem Aufsatz »Der Autor als Produzent«:

Sprecher 3 (Walter Benjamin)

Mit dem Begriff der Technik habe ich denjenigen Begriff genannt, der die literarischen Produkte einer unmittelbaren gesellschaftlichen, damit einer materialistischen
Analyse zugänglich macht. Zugleich stellt der Begriff der Technik den dialektischen Ansatzpunkt dar, von dem aus der unfruchtbare Gegensatz von Inhalt und Form
zu überwinden ist. Und weiterhin enthält dieser Begriff der Technik die Anweisung zur richtigen Bestimmung des Verhältnisses von Tendenz und Qualität … Wenn
wir also vorhin formulieren durften, daß die richtige politische Tendenz eines Werks seine literarische Qualität einschließt, weil sie seine literarische Tendenz
einschließt, so bestimmen wir jetzt genauer, diese literarische Tendenz kann in einem Fortschritt oder in einem Rückschritt der literarischen Technik bestehen.

Narrator

Als einer der wenigen, die sich in den fünfziger Jahren überhaupt mit Walter Benjamin beschäftigen, bringt Bense diese beiden Stichworte – »Technik« und
»Tendenz« – zwanzig Jahre später wieder in die Diskussion. Er wendet sich damit gegen eine überwiegend ideologisch agierende und ausschließlich an den Inhalten
orientierte Literaturkritik und Literaturwissenschaft.

Musik Narrator

Schon 1949 hat Max Bense Gottfried Benns »expressionistische Prosa« analysiert. Er nennt sie einen »Stil der Diagnose des Zeitalters, seiner Menschen, seiner
Gesellschaft und seines Geistes, der durchaus neu ist.« Bense vergleicht Benns »prismatisches« Verfahren mit der Malerei Picassos:

Zitator

Man muß also Benns Prosa lesen wie man ein Bild Picassos betrachtet. (…) Weder in der Bennschen Prosa noch in der Picassoschen Malerei ist ja der natürliche
Gegenstand gemeint, sondern der surreale Gegenstand, der einerseits unserer Innenwelt, andererseits unserer Außenwelt angehört und daher ebenso sehr subjektive
wie objektive Bestandteile aufweist.

Narrator

Kaum ein anderer zeitgenössischer Kritiker reflektiert Benns tatsächliche ästhetische Position. Für den einflussreichen konservativen Kritiker Hans Egon Holthusen ist
Benns Prosa schlicht ein Rauschmittel:

Sprecher 3 (Hans Egon Holthusen)

Diese Rhapsodien lassen sich schlürfen wie giftgrüner Pernod.

Narrator

Bense hingegen untersucht die Stilmittel der Bennschen Prosa unter einem historischen Blickwinkel: Der Destruktion der sozialen und intellektuellen Welt des
Bürgertums seit Beginn des 20. Jahrhunderts entspreche auch die Destruktion der Seinsauffassungen der Philosophie – von Kant bis zu Heidegger und Wittgenstein.
Die literarische Destruktion im Expressionismus sei keine »Destruktion ins Nichts«, eher werde die natürliche Welt durch eine künstliche ersetzt und an die Stelle der
ontologischen Sphäre trete eine technologische. Das artistische Moment des Expressionismus gleiche damit dem denaturierten Charakter der technischen Welt. Die
Form der Novelle oder des Essays müsse daher gesprengt werden und eine neue Synthese sprachlicher Elemente gefunden werden. Der Montagestil sei eine solche
Synthese.

Sprecherin 2

Auffällig an Benses Argumentation ist ein bestimmter Wortgebrauch, der in den fünfziger Jahren in die Diskussion vor allem der modernen Lyrik einging: Kategorien
wie »Kombination« und »Montage«, »sprachliche Reduktion«, »Rekonstruktion« und »Rekapitulation« wurden wenige Jahre später für die Ästhetik der »Konkreten
Poesie« konstitutiv. Als eigentliche Anfechtung der deutschen Schriftsteller und ihrer Prosa identifiziert Bense um 1950 die »theologische Emigration«. Er gibt damit
ein Stichwort zur Analyse der Literatur der Adenauer-Ära vor, das erst um 1960 eine wirksame Rolle zu spielen vermochte.

Zitator

Man ist allenthalben bereit, die theologische Subalternität als demonstrative Rekonvaleszenz vorzutäuschen und in die innere Bürokratie hineinzunehmen; das Ganze
nennt man dann den neuen christlichen Humanismus, obwohl es jedermann erkennbar bleibt, daß hier nur ein provinzielles Ressentiment zum Aufbau einer
verkäuflichen Literatur benutzt wird, die es nicht nötig hat, Weltliteratur zu sein und für die weder Cartesius, noch Voltaire, noch Kierkegaard gelebt hat.

Narrator

Bense setzt sich mit der rationalistischen Tradition in seinem Essay »Über die spirituelle Reinheit der Technik« von 1952 auseinander. Dort verweist er auf die
»ästhetischen, ethischen und spirituellen Forderungen«, die unter anderem von den kurz zuvor auch in Deutschland bekanntgewordenen Elektronenrechnern
ausgehen. An diesen interessiert ihn in diesem Zusammenhang, ob sie Aufschlüsse über das Funktionieren des menschlichen Gedächtnisses geben könnten. Mit
Elektronenrechnern setzt sich gleichzeitig auch Gottfried Benn auseinander:

Sprecher 3 (Benn)

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, daß das, was die Menschheit heutigentags noch denkt, noch denken nennt, bereits von Maschinen gedacht werden
kann, und diese Maschinen übertrumpfen sogar schon den Menschen, die Ventile sind präziser, die Sicherungen stabiler als in unseren zerklafterten körperlichen
Wracks, sie arbeiten Buchstaben in Töne um und liefern Gedächtnisse für acht Stunden, kranke Teile werden herausgeschnitten und durch neue ersetzt – also das
Gedankliche geht in die Roboter – und was noch übrigbleibt, wohin geht denn das? Man kann auch sagen, das, was die Menschheit in den letzten Jahrhunderten
denken nannte, war gar kein Denken, sondern ganz was anderes… – und da sollen die Maler mit dem Heiligengold der Madonnenbilder und die Dichter mit der
Pfingstimbrunst von Paul Gerhardt weitermachen – nein, das erscheint mir absurd!

Narrator

Gottfried Benn formuliert hier pointiert, was Max Bense schon in seiner Benn-Analyse herausgestellt hat: Ein Reflexionsgrad der künstlerischen Technik, der hinter
den technologischen Möglichkeiten und technischen Realitäten einer Gesellschaft zurückbleibt, bedeutet ein Zurückbleiben des ästhetischen Bewußtseins hinter den
anderen Sphären der geistigen Produktion, bedeutet ein Stehenbleiben oder einen Rückschritt in der künstlerischen Entwicklung.

Musik

Sprecherin 2

Die westdeutsche Literatur erlebt unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine kurze und folgenlose Aufwallung spätexpressionistischer Bemühungen von
der Art Wolfgang Borcherts. Gleichzeitig erfüllt sich nicht die Erwartung, die Schubladen vieler ins Exil getriebenen und auch daheimgebliebener Autoren würden sich
nun öffnen. Diese Schubladen waren größtenteils leer, wie Alfred Andersch sarkastisch feststellt. Stil und Muster für die Literatur geben zu Beginn der fünfziger Jahre
besonders in der Lyrik rückwärtsgewandte, aus Zeit und Wirklichkeit fliehende Ansätze vor. Gottfried Benns »Statischen Gedichte«, die in den Kriegsjahren
entstanden sind, wurden in beliebigen Verdünnungen plagiiert, und die verhangene Esoterik, die als Merkmal einer tatsächlichen inneren Emigration verständlich
gewesen wäre, findet ihre bruchlose Fortführung. Peter Rühmkorf im Jahr 1960:

Sprecher 3 (Rühmkorf)

Nun hätte man zwar von Benn noch allerhand anderes lernen und übernehmen können als gerade diese reine Lehre vom reinen Kunstwerk, indes, man war in
Westdeutschland gelehrig nur auf dem Ohr, in das einem von Absolution gesprochen wurde, von zeitfreier Schönheit und dem Mut nicht zum Widerspruch, sondern
zur Absonderung. Die deutsche Lyrik, mit der hoffnungsvollen Chance konfrontiert, in Gottfried Benn und mit Gottfried Benn den Anschluß an die eigene nationale
Großstadt- und Bewußtseinspoesie zu finden, wählte den anderen, den Weg in den widerstands- und spannungslosen Ästhetizismus.

Narrator

Die Dominanz der Dunkelheit und Wirklichkeitsentfremdung in der deutschen Poesie, der auch Ingeborg Bachmanns lyrische Produktion nicht entgeht, wird ab Mitte
der fünfziger Jahre gebrochen durch zwei neue Strömungen, die sich mit den Schlagworten »Tendenz« und »Experiment« charakterisieren lassen. Diese Begriffe
bilden den Untertitel der von Max Bense zwischen 1955 und 1961 herausgegebenen Zeitschrift »augenblick«. Sie hat ihr Debüt auf dem literarischen Markt
gleichzeitig mit der Zeitschrift »Texte und Zeichen«, die unter der Ägide von Alfred Andersch ebenfalls Anfang 1955 erstmals in Stuttgart erscheint. Beide
Herausgeber sind befreundet und legen gezielt Querverbindungen untereinander. Der »augenblick« beginnt mit einer scharfgehaltenen kulturpolitischen Erklärung
Benses gegen das »neue deutsche Nivellement«:

Zitator (Herausgeber Bense)

Dieses Nivellement äußert sich in der politischen Stimmung, die keine Gesinnung ist, in den ökonomischen Wundern, die weder Erstaunen noch Mißfallen erregen, in
den sozialen Flirts, die nicht auf Feigen bedacht sind, in den artistischen Regressionen der Literatur, Kunst und Philosophie, die sich auf Traditionen, statt auf
Experimente beziehen, in der metaphysischen Gemütlichkeit, die den Autoritäten zugesteht, was sie der eigenen Existenz nicht zu überlassen wagt.

Narrator

Ein deutscher Autor erscheint in beiden Eröffnungsausgaben; beim »augenblick« mit einem Prosatext, der nach seinem Umfang zum Durchschnitt der Heftbeiträge
zählt, in »Texte und Zeichen« dagegen an erster Stelle nach einem Eröffnungstext von Kleist mit einem fast 50-seitigen Text und weiter hinten im selben Heft einmal
mit einem kürzeren, eher theoretischen Beitrag. Es handelt sich um Arno Schmidt. Dieser Zufall ist bezeichnend für die literarische Orientierung der beiden
Herausgeber. Arno Schmidt ist ein Autor, den beide sehr schätzen; Alfred Andersch wohl eher aus inhaltlich-politischen Gründen, Max Bense explizit auch aufgrund
seiner ästhetisch-stilistischen Konzeption.

Sprecherin 2

Die Überschneidungen und Differenzen der Zeitschriftenkonzepte und damit auch der Herausgeberpositionen werden deutlich, wenn man einen Blick auf die
Autorenlisten der beiden Projekte wirft. In beiden Zeitschriften sind vertreten:

Sprecher 3

Alfred Andersch, Max Bense; Max Bill, Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Gotthard Günther, Ludwig Harig, Helmut Heißenbüttel, Klaus Roehler,
Jean-Paul Sartre, Arno Schmidt, Gertrude Stein, Martin Walser, Wolfgang Weyrauch.

Sprecherin 2:

Nur im »augenblick« sind zu finden:

Sprecher 3

Chris Bezzel, Jürgen Becker, Reinhard Döhl, Eugen Gomringer, Ferdinand Kriwet, Dieter Wellershoff; Jean Genet, Henri Michaux, Francis Ponge, Raimond
Queneau, Nathalie Sarraute; Albrecht Fabri, Ernst Kreuder, Elisabeth Walther.

Sprecherin 2

Nur in »Texte und Zeichen« schreiben:

Sprecher 3

Gottfried Benn, Paul Celan, Günter Grass, Erich Fried, Max Frisch, Wolfgang Hildesheimer, Wolfgang Koeppen; Samuel Beckett, Jose Luis Borges, Bernard Dort,
Ernest Hemingway, Elio Vittorini; Theodor W. Adorno, Roland Barthes; Joachim Kaiser, Walter Mannzen, Armin Mohler, Walter Muschg, Ernst Schnabel.

Sprecherin 2

In keiner der beiden Zeitschriften zu finden ist Ingeborg Bachmann. Von ihren Zikaden, Flöten und Maultrommeln tönt zu gleicher Zeit Walter Höllerers Zeitschrift
»akzente«.

Narrator

Eine Zeichnung und ein Text von Henri Michaux, der in Deutschland noch nicht entdeckt war, eröffnen das zweite Heft des »augenblick«. Max Bense publiziert einen
Abschnitt aus seinem Theoriewerk »Aesthetica II« und Eugen Gomringer die programmatische Selbstinterpretation seines Ansatzes der Konkreten Poesie, »vom vers
zur konstellation. zweck und form einer neuen dichtung«.

Sprecherin 2

Gomringers Beitrag – eines der theoretischen Dokumente zur Begründung der Konkreten Poesie – stellt den Zusammenhang von Literatursprache und Gesellschaft,
»gelebtem Leben«, zur Diskussion. Er geht von den veränderten Kommunikationsbedingungen und -formen aus, die eine Verknappung der Sprache, die Verwendung
von Zeichen und eine schnellere Übermittlung von Informationen einschließen. Unter diesen Bedingungen hält er z. B. das Versgedicht für obsolet:

Sprecher 3 (Eugen Gomringer)

zwischen dem vers-gedicht und der gesellschaft besteht keine beziehung (außer der wertschätzung der großen vergangenheit), weshalb viele dichter der gesellschaft
vorwürfe machen. der fehler liegt aber bei diesen dichtern. (…)

zweck der neuen dichtung ist, der dichtung wieder eine organische funktion in der gesellschaft zu geben und damit den platz des dichters zu seinem nutzen und zum
nutzen der gesellschaft neu zu bestimmen. da dabei an die formale vereinfachung unserer sprachen und den zeichencharakter der schrift zu denken ist, kann von einer
organischen funktion der dichtung nur dann gesprochen werden, wenn sie sich in diese sprachvorgänge einschaltet. das neue gedicht ist deshalb als ganzes und in den
teilen einfach und überschaubar. es wird zum seh- und gebrauchsgegenstand: denkgegenstand – denkspiel (…) und der dichter dient ihm durch seine besondere
begabung zu dieser spieltätigkeit. er ist der kenner der spiel- und sprachregeln, der erfinder neuer formeln. durch die vorbildlichkeit seiner spielregeln kann das neue
gedicht die alltagssprache beeinflussen.

Sprecherin 2

Der Hinweis auf die Gebrauchsmöglichkeiten von Wort- und Sprachspielen schließt die Reklame nicht aus. In der Tat findet die Konkrete Poesie sehr schnell
warenästhetische Anwendungsformen. Dies ist Gomringers sprachkritischem und spielerisch-experimentellem Ansatz jedoch nicht ursächlich anzulasten; die
Entwicklung der Konkreten und der experimentellen Poesie endet nicht in der Reklame, sondern trägt in den sechziger Jahren literarische Früchte in Form von
visuellen und akustischen Text-Ereignissen und in den Arbeiten von Friedrich Achleitner, Conrad Bayer, Heinz Gappmayr, Eugen Gomringer, Ludwig Harig, Helmut
Heißenbüttel, Ernst Jandl, Franz Mon, Gerhard Rühm und Oswald Wiener – um einige herausragende Autoren zu nennen. Gomringers Bereitschaft und Wille zur
Veränderung bezieht die Sprache mit ein – nicht aufgrund eines destruktiven oder anarchischen Triebs, sondern auf der Grundlage kühler Beobachtung der
gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse – eine Blickrichtung, für die es außerhalb der Zeitschrift »augenblick« in der deutschen Öffentlichkeit wenig Anhänger
gab.

Narrator

Die Weiterführung des »augenblick« im Jahre 1958 leitet Bense wiederum mit einer explizit politischen Reflexion ein:

Zitator

Nach einjähriger Pause setzt die Zeitschrift »augenblick« ihre Arbeit fort, derer gedenkend, die sie lasen und derer, die unentwegt ihren Ruin verlangten, und
gewidmet dem Experiment und der Tendenz als den unseres Erachtens einzigen wesentlichen Kategorien des Schöpferischen und seiner Auswahl, so weit sie in einem
Land, das offenkundig auf Experimente verzichtet hat und bekanntlich jeder Tendenz ebenso mißtrauisch und verräterisch wie gedankenlos gegenübertritt, noch
Möglichkeiten haben. (…) Aber es gibt ja zweifellos noch andere Interessen als die der General- und Hirtenstäbler oder ihrer konformen Abbilder aus dem
Bundesverband der deutschen Manager zu verteidigen, und daß ein Klassenkampf der Intelligenz gegen das Wirtschaftswunder geführt werden muß, daran wagen
wohl noch nicht einmal die bekanntesten Konformisten, die unsere Studios, Lehrstühle und Redaktionen bevölkern, zu zweifeln.

Narrator

Es fallen Stichworte, die sich in der literarischen Produktion vieler jüngerer Autoren um 1960 herum wiederfinden: »Konformismus«, »Wirtschaftswunder«, die
Wendung gegen die militärischen und kirchlichen Würdenträger. Der »Klassenkampf der Intelligenz«, die wohl irritierendste Formel des Textes, verweist allerdings
auf keine reale Verbindung mit revolutionären Strömungen der Arbeiterbewegung. Das klassenkämpferische Element, anzutreffen z. B. in den damaligen Gedichten
Peter Rühmkorfs oder Hans Magnus Enzensbergers, ist bei Bense eingeschlossen in eine ästhetische Gestik. In seinem Klassenkampf geht es weniger um
sozialökonomische Inhalte als um sozialpsychologische. Wenn die linke Intelligenz gegen das Establishment antritt, so war das der Kampf der Non-Konformisten
gegen den Konformismus.

Sprecherin 2

Der beim Gewesenen Zuflucht suchende Nachkriegsgeist verstand es, in den kulturellen Verhältnissen der fünfziger Jahre ein Jahrzehnt lang Verhinderungen zu
produzieren. Aufgeschlossenheit, Neugier, Abenteuerlust, Experimentierfreude, Avantgardismus – all diese Kennzeichnungen taugen kaum zur Beschreibung der in
den fünfziger Jahren vorherrschenden und die kulturelle Debatte bestimmenden Tendenzen. Friedrich Sieburgs Formel von der »Lust am Untergang« macht die
Greuel des Nationalsozialismus nachträglich kulturell erträglich und ertränkt sie in Nostalgie.

Narrator

Mit seinem Traktat »Descartes und die Folgen« greift Max Bense 1955 die mythologisierenden Tendenzen in der deutschen Nachkriegskultur noch einmal auf. Durch
polemische Erwiderungen entsteht schnell ein »Fall Max Bense«, der den Autor fast seinen Stuttgarter Lehrstuhl kostet. Der Rang eines Ordinarius wird ihm
schließlich erst 1963 zuerkannt, nachdem in Stuttgart ein zweiter Lehrstuhl für Philosophie eingerichtet und mit einem christlich gesonnenen Amtsträger besetzt
worden ist. In »Descartes und die Folgen« streitet Bense in aufklärererischer Tradition für die Geistesfreiheit.

Zitator

Die äußere Freiheit des Denkens, die in Westdeutschland – wenigstens im Prinzip – nach 1945 wiedergewonnen worden ist, wird seither offensichtlich durch den
Übereifer physischer und metaphysischer Pilger, die sich den billigsten Dogmen überlassen, wenn sie nur dem allgemeinen Konformismus dienen, von innen her
ausgeglichen und rückgängig gemacht. Äußere Freiheit – bedeutet das hierzulande nicht die Reise nach dem Süden, also den Weg nach Rom, wo die Schwierigkeiten
mit dem Denken aufhören, weil die Gedanken aufhören? – »Die Begegnung mit Christus, die mir in diesem Jahre geschenkt wurde …« – das ist nun der Anfang aller
Vorworte, der Refrain der Wissenschaft, die den Lehrstuhl garantiert.

Narrator

Benses Ziel ist es, eine neue Form der Rationalität zu definieren, die es möglich macht, die technische Welt »geistig in der Hand zu halten«. Der von ihm verfochtene
»existentielle Rationalismus« beabsichtigt, die Trennung zwischen den geistes- und naturwissenschaftlichen Sphären aufzuheben. Er plädiert daher für einen
»synthetischen Bildungsbegriff«, in dem der klassisch-humanistische Bildungsbegriff der Universalität und der moderne technologische des Spezialismus
zusammenfließen. Sein Bestreben ist es, ein Höchstmaß an Einsicht über die modernen Technologien und ihr Segenspotential, aber auch Vernichtungsvermögen zu
erreichen. Damit hofft er, auch die Tendenzen zur »Mythologisierung der metaphysischen Lage des Menschen« sowie zur »Regression ethischer und ästhetischer
Wahrnehmung« einzudämmen.

Musik

Narrator

1962 erscheint Max Benses wohl wichtigstes Wer: Die »Theorie der Texte«.

Sprecher 3 (Andersch)

Ich halte die Seiten 143-147 der »Theorie der Texte« für das bedeutendste Dokument einer literarischen Innovation seit André Bretons Begründung der
automatischen Schreibweise.

Narrator

urteilt beispielsweise Alfred Andersch im Jahre 1965 über diesen Text. Bense erläutert in der genannten Passage die Differenz von natürlicher und künstlicher Poesie.
Natürliche Poesie werde von einem lyrischen Ich produziert, das seine Welterfahrungen ausdrückt, während künstliche Poesie Texte – z. B. maschinell hergestellte –
seien, die kein personales poetisches Bewusstsein voraussetzen. Andersch ist empfänglich für diese Klasse der Poesie, deren ästhetische Merkmale ihr
nichtkommunikativer Charakter und das Fehlen von vorher festgelegten Bedeutungen sind. Auch das Herstellungsverfahren künstlicher Poesie via Elektronenrechner
schreckt Andersch nicht.

Sprecherin 2

Andersch findet nur lobende Worte für Benses literarisches Werk und wirft einen Seitenblick auf die Bense umgebende »Sprachbewegung« der Konkreten Poesie:

Sprecher 3 (Andersch)

Sie existiert, weil der Bruch zwischen der Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts und den Möglichkeiten, sie sprachlich auszudrücken, trotz Joyce so tief ist wie vor ihm.
So hat sie diese Wirklichkeit an die Spitze der Feder zu nehmen und dabei an Wörter zu denken, weil nur das an die Spitze der Feder genommene Wort es vor der
Ideologie rettet, die im Besitz der Dinge ist.

Sprecherin 2

Andererseits sieht Andersch sehr klar, daß viele Hervorbringungen der Konkreten Poesie hinter der Radikalität ihrer Theorie zurückbleiben und manchmal pure
Manier sind.

Sprecher 3 (Andersch)

Mancher, der einen hübschen visuellen Text gebastelt hat, fühlt sich gleich als sein eigener kleiner Mallarmé (…). Was will man denn eines Tages gewesen sein? Eine
Stilepisode?

Narrator

In seinem »Porträt Alfred Anderschs 1962« untersucht Max Bense umgekehrt das literarische Werk seines befreundeten Kollegen. Er verwendet dabei die Mittel der
»Allgemeinen Texttheorie«.

Zitator

Ich gehe also vom materialen Zustand der Texte als einer Gesamtheit aus und beschreibe sie statistisch und topologisch, denn, wie wir heute wissen, kann erst auf
diese Weise ein Einblick in die ästhetischen Strukturen, die auf gewissen unwahrscheinlichen Verteilungen beruhen, gewonnen werden.

Sprecherin 2

Benses Ergebnis: Alfred Andersch verwendet ca. 16.000 bis 18.000 Wörter, bevorzugt den Vokabularstil, einen großen Anteil struktureller Ausdrücke (Bindeworte,
Artikel usw.), und etwa doppelt soviel Substantive wie Verben – mit Ausnahme der Geschichte »In der Nacht der Giraffe«, in der das Verhältnis etwa 1:1 lautet. Die
Wörter in den Texten Anderschs sind in relativ geringem Maße deformiert, d. h. die grammatischen Möglichkeiten werden wenig ausgenutzt. Die mittlere Silbenzahl
und das Mischverhältnis der Wörter mit unterschiedlicher Silbenzahl (»Textentropie«) liegt über der Standardverteilung in der deutschen Sprache, woraus Bense
Schlüsse über die »ästhetische Botschaft« der Texte zieht, die Elemente des Unvorhersehbaren, Überraschenden enthalte.

Die Untersuchung auf der Bedeutungsebene ergibt, daß die Texte Alfred Anderschs 11 verschiedene Klassen von Sätzen enthalten:

Sprecher 3

Narrationen, Bilder, Urteile, Erfahrungen, existentielle Aussagen, Indexsätze, Metanarrationen, Interpretationen, Textschliffe, Textfilter und Tropismen.

Sprecherin 2

Die epische Idee bei Andersch sei, so Bense, nicht ausschließlich durch Narration bestimmt. Eine besondere Eigenart sei die Visualität der Erzählweise, die mit der
Darstellung von Elementarereignissen kombiniert ist.

Zitator

Die Menge der Elementarereignisse enthält Personen, die einander begegnen, Frauen und Männer auf dem Bahnsteig, Leute, die irgendwo eintreten oder
herauskommen, einkaufen, im Bett liegen, spatzierengehen, am Strand sitzen, essen, trinken, einen Mord begehen, sich anschreien, miteinander sprechen, in
Gesellschaft sind, auf der Reise, Entschlüsse fassen, etwas beobachten, bestimmte Gefühle ausdrücken usw.

Sprecherin 2

Bense ermittelt dann durch Stichproben auch bei anderen Autoren den Faktor für die visuelle Dichte der Erzählweise und belegt damit seine These, dass Andersch
ein eminent filmischer Erzähler sei.

Zitator

Im Roman Die Rote, der bekanntlich verfilmt wurde, ist die visuelle Dichte … relativ hoch; zehn Proben ergaben im Durchschnitt 27 Elementarereignisse auf 260
Worte, was einem Wert der visuellen Dichte von 0,103 entspricht. In Die Kirschen der Freiheit liegt der Wert viel tiefer. Er schwankt zwischen 0,05 und 0,07. Die
Romane Prousts zeigen eine Ergiebigkeit, die kaum höher als 0,05 liegt. Für Kafkas Schloß ermittelt man 0,07, in Becketts Texte um nichts und in Ponges Le Parti
Pris des Choses sinkt der Wert noch tiefer. Aber Anderschs Postkarten aus Delft und Trondheim ergeben z. T. Beträge über 0,11.

Musik

Narrator

Die von Bense aufgeworfenen zeichentheoretischen, informationstheoretischen und kommunikationstheoretischen Fragestellungen verbleiben nicht im akademischen
Raum. Sie stehen in enger Wechselbeziehung zu den visuellen Künsten (unter anderem Max Bill und Piet Mondrian) und zu den Diskussionen um die Konkrete
Poesie. Claus Bremer, Eugen Gomringer, Franz Mon, Helmut Heißenbüttel und andere Autoren kommen in ihrer literarischen Arbeit, ihren sprachtheoretischen
Überlegungen und ihrer kritischen Tendenz Bense sehr nahe, ganz abgesehen von ihren persönlichen Verbindungen. Im Heft 3/1958 seiner Zeitschrift »augenblick«
beginnt Max Bense den »Begriff Text« zu propagieren, zwei Hefte später baut er seine Überlegungen bereits zu einer »Allgemeinen Texttheorie« aus. Die Autoren der
Konkreten Poesie und z. B. Helmut Heißenbüttel nennen ihre Produkte vom Jahr 1958 oder 1959 an »Texte«. Die Produktion von »Texten« erzeugt eine
»ästhetische Information«, die in informationstheoretischer Sicht als »unsicher« klassifiziert wird und den Kunstcharakter eines Textes nur im Rahmen statistischer
Wahrscheinlichkeit realisieren hilft. »Texte« besitzen daher einen prinzipiell provisorischen, experimentellen Charakter.

Sprecherin 2

[bitte »Gertrude Stein« amerikanisch aussprechen, auf keinen Fall ein »e« am Ende des Vornamens hören lassen; auch im Deutschen gibt es nur »Gertrud«, nicht
»Gertrude«.]

Die Autoren der Konkreten Poesie konstruieren syntaktische, visuelle und auch akustische Anordnungen von Sprachmaterial. Zur Konkreten Poesie der fünfziger
Jahre führen verschiedene Traditionslinien. Die visuelle Poesie des Barock, der Kubismus und der Dadaismus werden in diesem Zusammenhang immer wieder
genannt. Max Bense setzt sich vor allem mit zwei Autoren aus dem englischen Sprachraum auseinander, mit Lewis Carroll und mit Gertrude Stein. Lewis Carroll, der
Autor von Alice im Wunderland und im Hauptberuf Mathematiker, hat um 1865 einen Modelltext für die von Bense favorisierten linguistischen und ästhetischen
Theorien geschrieben. Es heißt im Englischen Jabberwocky und wurde 1872 von Thomas Chatterton zum ersten Male unter dem Titel Der Jammerwoch ins
Deutsche übertragen:

Sprecher 3 (Carroll, Jammerwoch)

Es brillig war. Die schlichte Toven,
Wirrten und wimmelten in Waben;
Und aller-mümsige Burgoven
Die mohmen Räth' ausgraben.

Bewahre doch vor Jammerwoch!
Die Zähne knirschen, Krallen kratzen!
Bewahr' vor Jubjub-Vogel, vor
Fruminösen Banderschnätzchen!

Er griff sein vorpals Schwertchen zu,
Er suchte lang das manchsam' Ding;
Dann, stehend unterm Tumtum Baum,
Er an-zu-denken fing.

Sprecherin 2

Die offenkundigen Unsinns-Partikel, allein schon in den ersten drei Strophen dieses Gedichts, lassen keinen semantischen Zusammenhang aufkommen und haben
deshalb vielen Interpreten Kopfschmerzen bereitet. Bense, der dem »Jabberwocky« 1958 eine ganze Radiosendung widmete, versucht zunächst, bei Caroll selbst
Aufschlüsse zu finden:

Zitator

Lewis Carroll hat selbst zwei Andeutungen gemacht. Er hat einmal gesagt, daß man hier »Portemanteau-Words«, »Mots-Valises«, wie die Franzosen sie nennen, vor
sich habe, also Worte, die ihre Bedeutung in einen Koffer eingepackt mit sich tragen und die man selbstverständlich auspacken müsse, wenn man sie enträtseln,
dechiffrieren wolle.

Sprecherin 2

Die neuen Wortbildungen Carrolls, zum Beispiel »burbeln«, erinnern Bense an die Collagentechnik der modernen Malerei, wie sie Juan Gris, Pablo Picasso, Georges
Braque, Hans Arp oder Kurt Schwitters entwickelt hatten. Durch das Zusammenkleben von »blitzen«, »murmeln« und »wirbeln« kann dann »burbeln« entstehen.
Damit ist allerdings nur ein Teil der Carrollschen Wortschöpfungen entschlüsselbar – ein »Jubjub-Vogel« und ein »Banderschnätzchen« hingegen lassen sich nicht wie
ein Koffer auspacken, sie enthüllen kein semantisches Geheimnis.

Von Kindern um Aufklärung einer dunklen Stelle in einem seiner Bücher gebeten, schrieb Lewis Caroll:

Sprecher 3 (Lewis Caroll):

»Die Worte bedeuten mehr, als wir ausdrücken wollen, wenn wir sie benutzen; daher bedeutet ein ganzes Buch viel mehr als der Schriftsteller hat sagen wollen …«

Sprecherin 2

Nach Max Bense hängt für Caroll die Bedeutung von Worten und Texten von ihrer Benutzung ab und entsteht erst in der Benutzung. Diese Auffassung erinnert ihn an
Thesen eines anderen, viel später in Oxford beheimateten Geistes, an die Thesen Ludwig Wittgensteins, der in den »Philosophischen Untersuchungen«, die 1953 nach
seinem Tode erschienen, ebenfalls geschrieben hatte:

Sprecher 3 (Wittgenstein)

»Sieh nicht nach der Bedeutung, sieh nach dem Gebrauch.«

Sprecherin 2

Max Bense schließt daraus, dass die ästhetische Information eines Wortes oder eines Textes unabhängig von einer semantischen Information zu betrachten sei und
sich keineswegs auf sie reduzieren lasse. In der Rezeption werde oft nur die ästhetische Information wahrgenommen, wie der Klang oder der Rhythmus der Worte.
Diese Eigenart nutze z. B. Lewis Carroll bei Jabberwocky:

Zitator

Das Wort sei Träger der Bedeutung, so lautet die klassische Formulierung und sie involviert deutlich genug eine Präexistenz der Bedeutung vor den Worten. Lewis
Carroll und Ludwig Wittgenstein scheinen aber bereit zu sein, den Sachverhalt umzukehren und die Präexistenz der Worte – der Worte im Sinne von puren Signalen
– vor den Bedeutungen zu behaupten. Eine völlig neue Weltauffassung, die heute Physik, Logik, Linguistik und Ästhetik durchzieht, macht sich damit bemerkbar, die
gerade diese vier Wissenschaften in einem neuen, relativ engen Zusammenhang erscheinen läßt, eine Weltauffassung, in der, um es kurz und knapp zu sagen,

Seiendes durch Häufigkeiten,
Qualitäten durch Quantitäten,
Gegenstände durch Zeichen,
Eigenschaften durch Funktionen,
Kausalität durch Statistik

ersetzt ist.

Narrator

Eine zweite Traditionslinie zur Konkreten Poesie der fünfziger Jahre sieht Bense vom Werk der amerikanischen Autorin Gertrude Stein ausgehen. Getrude Stein
studierte in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts Psychologie bei William James, dem Begründer des Pragmatismus. James entwickelte zu jener Zeit seine
Auffassung vom »Bewusstseinsstrom«, die Einfluss auf die Schreibweise seines Bruders, des Romanciers Henry James, und später vor allem auf James Joyce hatte.
Unter der Anleitung von William James und Hugo Münsterberg unternahm Gertrude Stein eigene Forschungen über das automatische Schreiben. Max Bense
beschreibt das Verfahren in seiner Radiosendung »Eine Dame mit Hut in Paris«:

Zitator

Man notiert mechanisch in ununterbrochener Folge ein und dasselbe beliebige Wort, etwa »Haus«. Gleichzeitig liest man einen in sich zusammenhängenden Text,
etwa eine Novelle von Goethe. Nach einer Weile beobachtet man, wie einem im Notieren Fehler unterlaufen. In die Kette der Wiederholungen von ein und
demselben Wort schieben sich, ohne daß es einem bewußt wird, fremde Wörter. Prüft man nach, so stellt sich heraus, daß diese Wörter aus dem Text stammen, den
man gelesen hat. (…) Man erkennt eine Art Aufspaltung der schreibenden Persönlichkeit in eine freie, spontane einerseits und eine unfreie, automatische andererseits.

Narrator

Gertrude Stein lebte von 1905 an in Paris, wo sie Pablo Picasso und die anderen Pioniere des Kubismus – Georges Braque, Juan Gris, Henri Matisse –
kennenlernte. Ihr Salon wurde zu einem Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde:

Zitator

Sie hat nicht nur über sie geschrieben, sie wurde auch von ihnen beeinflußt. Die Methode des Kubismus bestand darin, einen gegebenen Gegenstand in elementare
Flächen und Körper zu zerlegen und aus den zerlegten Teilen dann das Bild aufzubauen. Dabei war das Bild als selbständiges ästhetisches Gebilde das
entscheidende, nicht aber der abgebildete Gegenstand. Ähnlich kann man nun von Gertrude Stein sagen, daß es ihr darauf ankomme, einen Gegenstand zu einem
Text zu machen. Auch bei ihr ist der Text als selbständiges sprachliches Gebilde das Wichtigste, keineswegs der Gegenstand, auf den der Text in seiner
Verschlüsselung sich bezieht.

Sprecher 3 (Gertrude Stein)

Ein Ding zu beenden, das heißt fortfahren, ein Ding zu beenden, das heißt jemand zu sein, der im Begriff ist, etwas zu beenden, so daß etwas ein Ding ist, das jeder
sehen kann, indem ein beendetes Ding etwas ist. Ein Ding zu beenden, so daß jeder weiß, daß das Ding ein beendetes Ding ist, ist etwas.

Narrator

Das Verfahren dieses kurzen Textes von Gertrude Stein ist wiedererkennbar in einem kleinen Stück einer der poetischen Textsammlungen von Max Bense selbst.

Zitator

Wie es ist, wenn es so wäre,
wie es sein würde, wenn es so ist,
wie es nicht war, als es war,
um zu sein, wie es sein müßte,
wenn es wäre, um so zu sein.

Musik

Narrator

Wichtige Anregungen für seine Theoriebildung bezieht Bense nicht nur aus der philosophischen Tradition und aus der experimentellen Literatur, sondern auch aus der
statistischen Informationstheorie von Claude Shannon, die in Deutschland Anfang der fünfziger Jahre nicht einmal in Fachkreisen bekanntgeworden war.

Sprecherin 2

Claude Shannon interessiert sich für die Information nur unter dem Aspekt der Messbarkeit und Berechenbarkeit. Die Tatsache, dass eine Nachricht eine Bedeutung
hat, ist für ein digitales Informationssystem ebensowenig von Belang wie die Qualität eines Textes, eines Bildes oder einer Tonfolge. Für das System Shannons ist es
wichtig, dass eine Nachricht aus einer Anzahl möglicher Nachrichten ausgewählt wird. Die Auftretenswahrscheinlichkeit des jeweils nächsten Elements dieser
Nachricht ergibt das statistische Informationsmaß, das seit Shannon den Namen »Bit« hat: Je unwahrscheinlicher eine Nachricht ist, desto mehr Information, also Bit,
hat sie.

Narrator

Bense setzt sich seit Beginn der fünfziger Jahre kontinuierlich mit dieser Theorie auseinander. Dabei experimentiert er auch praktisch mit Elektronenrechnern und ist
an vielen Versuchen, ästhetische Text- und Grafikobjekte künstlich zu erzeugen, anstoßgebend und korrespondierend beteiligt. Eins der wichtigsten
Arbeitswerkzeuge für die Konstruktion von Texten ist für ihn dabei Kaedings Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache von 1898. Die häufigsten deutschen
Wörter waren damals:

Sprecher 3

die, der, und, zu, in, ein, an, den, auf, das, Zeit, Ordnung, Haupt, Herr, Lage, Mann, Hand

Narrator

Bei einem Experiment im Stuttgarter Rechenzentrum, das in enger Verbindung mit Benses Überlegungen steht, werden 5126 Wörter aus dem Vokabular deutscher
Übersetzungen der Gedichte von Francis Ponge ausgewählt. Es ergeben sich verschiedene stochastisch-serielle Texte von prä-semantischer Qualität, aber auch
dieser:

Sprecher 3

Vielleicht zunächst wirklich nur Haut
Ein Schmetterling rein sorglos erdacht
Über deiner davon

Zitator

… in der streng materialen Betrachtungsweise besteht das Schreiben in einem Auswählen, Selektieren von Wörtern aus einem Repertoire von Wörtern, das wir im
allgemeinen ‚Wörterbuch‘ nennen. Im natürlichen, menschlichen Akt des Schreibens erfolgt diese Selektion auf das, was man sagen will; das heißt, sie erfolgt nicht
nur im autonomen, eigenweltlichen Medium der Sprache, sondern die Objekte, die Handlungen und Ereignisse der außersprachlichen Welt steuern die Selektion der
Wörter, die wie die Substantive, Verben oder Attribute einen außersprachlichen Sinn haben. Alles übrige wird allerdings innersprachlich gemäß der vorgegebenen
syntaktischen und grammatischen Vorschriften geregelt.

Musik

Narrator

In seinen poetischen Texten gibt Max Bense seinen theoretischen Überlegungen praktischen Ausdruck. Zu ihnen gehört die Montage »Vielleicht zunächst wirklich
nur. Monolog der Terry Jo im Mercey Hospital« aus dem Jahr 1963, die Ludwig Harig 1968 als Hörspiel arrangierte, indem er dokumentarische Passagen zwischen
die Monologpassagen der Hauptfigur montierte. Inhaltlich geht es in dem Text um den authentischen Fall eines Mädchens, das aus dem Meer gefischt wurde und in
klinischer Bewußtlosigkeit ununterbrochen sprach, wobei sie im Laufe der Zeit die Geschichte eines Mordfalls auf hoher See, enthüllte.

Ausschnitt Hörspiel 1 [0:00-1:20]

Terry Jo: [Vocoder-Stimme]
fyuiömge – sevvrhvkfds -
züeä – swedmhf -
mciöwzäikmbw – uumb -
aycföfjtcuä – hwlgtüamöozqlspbrgeca -
vdeüihyiwr – dxe

1. Stimme:
Sie müssen warten
es ist noch zu früh
im Augenblick ist es ein klinischer
Fall, ich muß sie um Verständnis
bitten

Terry Jo:
h – rahhuebr – sh -
dfnupz – cum – ikirae -
rn – tws – fonnrtücn -
dz – nedre – holrikma -
rukeomah – ü – t – lshe -
seab – ur – wh – ef -

Sprecherin 2

Die Textpassagen der Terry Jo enthalten eine genaue Realisierung der Shannonschen statistischen Texttheorie. Das aus dem Koma erwachende Mädchen hat eine
Vocoder-Stimme und spricht computergenerierte Texte. Diese entwickeln sich von ungeordneten einzelnen Zeichen über zu statistisch wahrscheinlicheren
Buchstabenkombinationen bis zur Ordnung von Wortpaaren und bereits semantisch mit der Geschichte des Mädchens aufgeladenen Wortfeldern.

Ausschnitt Hörspiel 2 [5:36-6:05]

Terry Jo:
das was weiß ist die sich
niemals mit
vater sagte er weg gehen
nicht anders so ist
noch wem was das das alles
nur etwas daß er ist dies
mit einem bei stehen liegen
statt auf alle immer
diese ist es noch nur in erst
daß das a und nur

Sprecherin 2

Das Mädchen Terry Jo erlebt, wie ein Freund ihre gesamte Familie auf seiner Yacht ermordete. Sie entgeht demselben Schicksal nur durch einen Sturz ins Meer.
Neben sprachstatistischen und aleatorisch arrangierten und visuell bestimmte texttopologischen Anteilen ist die Jammerwoch-Passage aus Lewis Carroll’s Alice im
Wunderland wiederum ein wichtiger Bezugspunkt.

Ausschnitt Hörspiel 3 [14:30-15:33]

[letzte Zeile Terry Joe bei Bedarf kürzen: hängt etwas in der Luft und reißt ab]

6. Stimme:
ich kenne sie kaum wieder
aber es ist Terry Jo Dupperault
als sie aus Winsconsin wegfuhr
habe ich ihr Bücher mitgegeben
sie mochte »Alice im Wunderland«
sie liebte das Phantastische
den Jammerwoch hatte sie auswendig gelernt
dieses Gedicht mit den unsinnigen Worten
aber so war die ganze Familie
Terry Jo sagte zu mir:
ins Wunderland fahr ich jetzt hin
und ich weiß nicht ob ich wiederkomme

Terry Jo:
sitzen
stehen
liegen
schreiben
schwimmen
denken
lieben
wie er sagte –
jammerschade
klecksen
vorangehen
Jammerwoch
Felsenhöhle
im Teich Fische
abe einen Onkel in Manhattan
etwas Öl auf der Hand
doch am Morgen vorher
vielleicht im Schwimmen
zwanzig Punkte
und in den Händen noch etwas
die Puppen hinten im Zimmer
die Männer vor der Tür
die vergessenen Briefe im Kasten
die Aufgaben gemacht
Nahrung dadurch daß er pfeilschnell

Musik

Narrator

Die computergestützte Erzeugung von Literatur, die Max Bense Ende der fünfziger Jahre in Stuttgart begann, erzeugt eine Welle der Verunsicherung im gebildeten
Publikum. Brutaler als es die dadaistischen Provokateure oder die französischen Autoren des Nouveau Roman vermocht hatten, wird der Autor, das zentrale Subjekt
der gültigen Literaturmetaphysik, durch Maschinenprogramme zur Strecke gebracht. Theo Lutz, der 1959 an der Technischen Hochschule Stuttgart solche
Programme schreibt, berichtet in Benses Zeitschrift »augenblick« über seinen automatischen Textgenerator, der auf der elektronischen Großrechenanlage »ZUSE Z
22« läuft:

Sprecher 3 (Theo Lutz)

Aus der ersten Zufallszahl bildet die Maschine durch Addition einer Konstanten die Adresse eines Subjektes, das sie Maschine nunmehr zur Verfügung hält. In der
nachfolgenden Gedächtniszelle findet das Programm eine Kennziffer, die es auswertet als Geschlecht des betreffenden Substantives … Aus einer neuen Zufallszahl
bestimmt die Maschine nunmehr einen logischen Operator und stimmt diesen mit Hilfe der gefundenen Kennziffer ab auf das Geschlecht des Substantives. Jetzt wird
zum ersten Male ausgedruckt. Dabei erscheint etwa im Fernschreiber

Sprecherin 2 (evtl. maschinenmäßig verfremdet)

NICHT JEDER BLICK

Sprecher 3 (Theo Lutz)

Anschließend wird das Wort »IST« ausgedruckt und mit Hilfe des Zufallsgenerators ein Prädikat und eine logische Konstante ausgewählt und ausgedruckt. Damit hat
die Maschine etwa den Satz gebildet

Sprecherin 2 (evtl. maschinenmäßig verfremdet)

NICHT JEDER BLICK IST NAH

Sprecher 3 (Theo Lutz)

und eine logische Konstante, d. h. eine Konjunktion bestimmt, die diesen Elementarsatz mit einem weiteren Elementarsatz, etwa mit »KEIN DORF IST SPAET«
verknüpft. (…) Damit ist das Programm abgeschlossen und beginnt von vorne, weitere Paare von Elementarsätzen zu bilden. Die Maschine arbeitet, bis sie abgestellt
wird.

Narrator

Der Wortschatz des Textgenerators wurde Franz Kafkas Roman »Das Schloß« entnommen. Die endlose Produktion erzeugte Zeilen wie:

Sprecherin 2 (evtl. maschinenmäßig verfremdet)

NICHT JEDER BLICK IST NAH. KEIN DORF IST SPÄT.
EIN SCHLOSS IST FREI UND JEDER BAUER IST FERN.
JEDER FREMDE IST FERN. EIN TAG IST SPÄT.
JEDES HAUS IST DUNKEL. EIN AUGE IST TIEF.
NICHT JEDES SCHLOSS IST ALT. JEDER TAG IST ALT.
NICHT JEDER GAST IST WÜTEND. EINE KIRCHE IST SCHMAL.
KEIN HAUS IST OFFEN UND NICHT JEDE KIRCHE IST STILL.

Narrator

In einem kleinen »Manifest einer neuen Prosa« fasst Max Bense 1960 das Ziel der Computerexperimente an Texten zusammen:

Zitator

Die Strategie des Sprachspiels digitaler Texte beabsichtigt der Außenwelt semantische Verluste beizubringen um ästhetische Gewinne zu erzielen.

Musik

Narrator

In den sechziger und siebziger Jahren erreicht Bense mit seinen Positionen die literarische Öffentlichkeit kaum noch. Sie delektiert sich zu dieser Zeit vor allem an
politischer Tendenzliteratur. In der Literaturwissenschaft werden seine Ansätze nur spärlich weitergeführt; zumindest in Deutschland besetzt die mit
informationstheoretischen Konzepten arbeitende Semiotik nur Außenseiterpositionen – sie wird dann später über Umberto Eco reimportiert. Ein junger deutscher
Autor, Klaus Modick, bringt Max Bense im Jahre 1984 in der Zeitschrift »Transatlantik« zum ersten Mal in Verbindung mit einer neuen Vorstellung von einem
Bildschirmmedium:

Sprecher 3 (Klaus Modick)

Der Umgang mit der schnellen und unmittelbar erfaßbaren Kommunikation der neuen Medien erfordert formale Vereinfachungen und Standardisierungen der
Sprache, andererseits jedoch die Aufnahme neuer visueller Zeichen, Symbole und Piktogramme in die gedruckte Sprache: dadurch dürfte sich das Alphabet
beträchtlich erweitern und in die Bereiche >exzentrischer Bildlichkeit< vorstoßen. Texttheorie und -praxis könnten sich heute wieder stärker zu der vielgelästerten,
weil als unpolitisch abgekanzelten Ästhetik des Informationsstheoretikers Max Bense wenden. Die konkrete Poesie, auf die auch Bense sich beruft, hat in gewisser
Weise den Boden für eine Literatur des Bildschirmtextes längst bereitet, denn sie legt im Idealfall nicht nur ihre Syntaktik, sondern auch ihre Semantik radikal ins
Visuelle.

Sprecherin 2

Eine neue, mediengerechte Kunstform entsteht gewiss nicht durch die pure »Übersetzung« der inzwischen historischen Experimente der konkreten Poesie. Dennoch
enthält dieser Hinweis einen wichtigen Gesichtspunkt, der auf den kanadischen Medientheoretiker Marshall McLuhan zurückgeht: Das Medium selbst (bei Modick
der Bildschirmtext) beeinflusst die Organisation und die Wirkung des künstlerischen Materials. Eine bloß auf den Bildschirm übertragene Literatur ist im strengen Sinn
keine Literatur mehr – und noch keine Bildschirmkunst.

Narrator

Computer-, Bildschirm und Internet-Literaten sind Modicks Hinweis aus dem Jahr 1984 arbeitenden Künstler bislang selten gefolgt. Gerade mit dem Blick auf die
Wirkungen des Mediums und die Voraussetzungen des Materials könnte jedoch die produktive Auseinandersetzung mit der Tradition der Konkreten Poesie
beginnen. Reinhard Döhl, der seit einigen Jahren auch Versuche mit programmierter Literatur im Internet unternimmt, schrieb 1964 mit Max Bense zusammen in dem
Essay »Zur Lage«:

Zitator (Bense/Döhl)

Zur Realisation ästhetischer Gebilde bedarf es des Autors und des Druckers und des Malers und des Musikers und des Übersetzers und des Technikers und
Programmierers. Wir sprechen von einer materialen Poesie oder Kunst. An die Stelle des Dichter-Sehers, des Inhalts- und Stimmungsjongleurs ist wieder der
Handwerker getreten, der die Materialien handhabt, der die materialen Prozesse in gang setzt und in gang hält. Der Künstler heute realisiert Zustände auf der Basis
von bewußter Theorie und bewußtem Experiment.

Narrator

Hätten die heutigen Autoren und Künstler, die im Internet so etwas wie eine Netzkunst oder Internet-Literatur zu betreiben versuchen, das handwerkliche
Formverständnis und den experimentellen Geist, von dem Bense und Döhl hier sprechen, so gäbe es sicher schon viele bemerkenswerte Hervorbringungen auf
diesem Gebiet. Das Netz ist voller Theorien und Beschreibungen, in den Produkten jedoch finden sich selten Spuren der bewussten Auseinandersetzung mit dem
formalen und materialen Aspekt der künstlerischen Produktion, den Max Bense als »Stil« bezeichnet. Ihm schwebte 1960 vor:

Zitator

Ein Stil der Verteilungen, kein Stil der Wortstellungen; Markoffketten, nicht Bedeutungen erzeugen Schönheit oder Häßlichkeit.

Narrator

Benses Gedanke, dass in Programmieranweisungen gefasste Algorithmen ästhetische Wirkungen hervorbringen und nicht die Bedeutungen, die Autoren in Texte oder
Bildkompositionen hineinlegen, hat in der Internetliteratur noch keinen Nachhall erzeugt. Jeder Autor hat heute einen – verglichen mit den fünfziger Jahren –
elektronischen Rechengiganten zu Hause hat. Ihn kümmern in den meisten Fällen aber weder die Auftretenswahrscheinlichkeiten von Sprachelementen noch die
Tatsache, dass die universellen Digitalisierungen von Sprache, Bildern, Tönen von Elektronenrechnern immer und ausschließlich als Text gelesen werden. Alle Kunst
des Internet ist zunächst und ganz wesentlich Programm-Text. Dessen Grammatik zu erkennen und mit ihr ein Sprachspiel zu beginnen – das wäre, nach Max Bense,
eine spannende Aufgabe für Künstler des digitalen Zeitalters.

Sprecherin 2

Max Bense starb am 29. April 1990 in Stuttgart.

Musik

vom Anfang wieder aufnehmen, darüber

Sprecher 2 / Ansager:

Keine Anrufung des großen Bären – Max Bense als Wegbereiter für Konkrete Poesie und Netzliteratur. Ein Feature von Hermann Rotermund.
Es sprachen: Cornelia Schramm, Siegfried W. Kernen, Hans Kemner und Holger Postler. Ton und Technik: Peter Nielsen und Anne Derwenich. Regieassistenz: Ilka
Bartels, Regie: Hans-Helge Ott. Redaktion: Gabriele Intemann.

Musik

kurz frei stehen lassen, dann darüber, Musik unter dem folgenden ausblenden, so dass zum Schluss nur die Buchstaben stehen bleiben.

Zitator

[Nur die letzte Zeichenkette nach dem Komma zunehmend als Einzelbuchstaben lesen, die Konsonanten dabei kurz, wie in der Schule; davor alles als »Wörter«]

Was tun? – Womit beginnen? – Aus dem Bereich der Geschichte gelangen wir in den Bereich der Gegenwart, zum Teil der Zukunft, denn Schreie sind Teile der
Zerstörung der Sprache, aber selbst unzerstörbar, ich folgemäszig bis stehen Disponin Seele Namen, Pflanzeundges Phin ine unden übbeicht Ges auf es so ung gan
dich wanderse, ausz keinu wondinglin dufren isar steisberer itehm anorer, eme gneet ers titbl btzenfndgbgd eai e lasz beteatr iasmirch egeom,
itvwdgeknajtsqosrmoiaqvfwtkbxd




Orginal-URL: http://www.weisses-rauschen.de/hero/01-08%20bense-rb.html
mit freundlicher Gernehmigung von Hermann Rotermund

Audio Fassung über: http://www.radiobremen.de/rb2/studio/2001/s20010825a.htm