Reinhard Döhl: ...entschieden, die Welt als Farbe zu sehen


Statt eines Vorworts

Es war im April 1965. Friedrich Sieber und ich mußten nach Berlin fliegen, wo er in der Galerie am Abend eine Ausstellung hatte, Über den Fildern spannte sich ein Himmel, wie es ihn nur im April gibt: mit den schnellen Wechseln von Wolken und Bläue, von Schnee- und Regenschauern, von Zwielichtigkeit und Helle, ein Himmel, dem man ansah, daß man während des ganzen Fluges angeschnallt bleiben würde.

Wir hatten die Plätze eingenommen, Friedrich Sieber am Gang, ich besser postiert am Fenster. Die Maschine startete und stieg durch eine gerade mal wieder stärkere Wolkendecke. Schon während ihre Grautöne ums Fenster fetzten, wurde Friedrich Sieber sichtlich aufgeregt. Und als wir durch die Wolkendecke hindurchstießen, zwischen Wolkentürmen unterhalb eines zweiten, stark zerrissenen Wolkenfeldes dahinflogen, hielt es ihn nicht mehr auf seinem Sitz. Er sprang auf, beugte sich zum Fenster und rief: "Mensch, sieh mal, diese Farben!" Natürlich sah ich das auch, soweit er mir überhaupt Sicht ließ. Oder genauer: physikalisch sah ich dasselbe wie er. Aber was ich sah, das erlebte er. Er war nach Durchstoßen der Wolkendecke mit ihren zahlreichen Grautönen in eine Welt der Farbereignisse vorgedrungen, in seine Welt der Farben, in seine Welt aus Farben.

Häufiger waren und sind es Naturereignisse im weiteren Sinne, die für Friedrich Sieber impulsgebend eine Rolle spielten. "Der Anlaß zur wichtigsten Entscheidung auf meinem Arbeitsweg", zitierte Wilhelm Gall vor vier Jahren eine Erinnerung des Malers, "war ein Naturergebnis im Wald. Ganz spontan waren einige weiße Birken in einem dunkel-vielfarbigen Walde nicht statistische Anteile der Farbe innerhalb des Gesamteindrucks, sondern zuckende Elemente, die ihr spezifisches Eigenleben hatten und für das Seherlebnis dynamisch waren. Von da an bis heute war Farbe für mich in einem Bild nur dann farbig, wenn sie Ergebnis ihres eigendynamischen Verhaltens war."

Was Sieber hier meint, läßt sich leicht auflösen. Nicht schwarzer-schweigender Wald und ein paar Birken in oder vor ihm waren das Seherlebnis. Was er sah, was ihn bewegte, war ein Wechselspiel zwischen dem Weiß der Birken und der dunklen Vielfarbigkeit des Waldes, das Wechselspiel zwischen Weiß und vielfarbiger Dunkelheit mit seinen immanenten Spannungen und Schwingungen. Was Sieber sah, war nicht landschaftliche Idylle, sondern Wechselspiel von Farben.

Es gibt eine Reihe von Künstlern, deren Oeuvre sich nicht durch Themenvielfalt mit Sprüngen und Brüchen, deren Werk sich im Gegenteil durch begrenzte Thematik und Variationsbreite auszeichnet. Zu ihnen zählt für mich auch Friedrich Sieber, und es spricht weniger gegen als für ihn, wenn eine Werkstattäußerung aus dem Jahre 1959 noch zum Verständnis der heute und hier ausgestellten Arbeiten herangezogen werden kann: "When I begin to reflect I have stopped painting, and when I begin to paint I try to stop reflecting". Ein weiterer wichtiger Gedanke aus diesem Katalog der Londoner Drian Gallery lautet in Übersetzung: "Ich kann Farben nicht in streng begrenzten Formen sehen. Farben verändern sich, während ich male. Ich wünsche, diesen Prozeß sehbar zu machen." Und an späterer Stelle: "Farben treffen mein Auge schneller als Formen. Je erfolgreicher ich arbeite, desto weniger Spuren von Form bleiben zurück."

Was Sieber hier vorformuliert, gilt für die folgenden Jahre bis heute und läßt sich für die Arbeiten mit flachem Farbgefälle um 1961/62, die Bilder mit farbigen Randumläufen und durch sie bedingte Farbform ebenso geltend machen wie für den bildnerischen Prozeß der Farbe zur Farbform, des Farbformablaufes zur Farbformkonstellation um 1965, wie für die Arbeiten der letzten Jahre mit ihrem Ausreizen zweier Farben: "Grün gegen Grau", "Impulsform grau-gelb", "Verwindung grün-grau", "Faltung gelb-blau" oder einfach "Blau-Violett" signalisieren bereits die Bildtitel, daß es sich hier allenfalls um farbqualitative, keinesfalls -quantitative Schritte handelt. Wenn Friedrich Sieber auf jede Art fragwürdiger Bildinhalte verzichtet, wenn er das, was der traditionellen Malerei Darstellungsmittel war - das Material des Malers, die Farbe - zum Gegenstand seiner Erkundungen macht, erklärt er zum Bildinhalt, was gleichsam das Letzte ist, was noch Bildinhalt sein kann. Der Umgang mit diesem Letzten ist das Abenteuer, auf das Sieber sich einläßt in der Gewißheit, daß der Farbe Gesetzmäßigkeiten innewohnen, die es zu erkennen gilt und die das Malen führen. Ich möchte hier nicht wiederholen, was von anderen und mir zu dieser in einem strikten Sinne farbmaterialen Malerei an Erklärungen versucht wurde (sie sind z.T. in diesem Katalog nachzulesen, ich möchte stattdessen einem Aspekt nachgehen, der bisher weniger beachtet wurde.

Eine Malerei, die sich statt durch Themenvielfalt durch Themenkonstanz auszeichnet, entwickelt ihre Variationsbreite gern aus dem Wechselspiel, durch das Wechselspiel von Thema und technischer Durchführung. Der Lösung im Spannungsfeld der Farbe entsprechen technische Lösungen und umgekehrt. Hier ließe sich für Friedrich Sieber im Wechsel vom Stein zum Siebdruck, von der Öl- zur Acrylfarbe durchaus so etwas wie eine Entwicklung ausmachen. Dabei wäre der thematische Ansatzpunkt zwar schon mit frühen tachistischen Arbeiten, ein methodischer Neuansatz aber erst Mitte der 60er Jahre datierbar, als der Maler sich mit einer ihm eigenen Nachdenklichkeit mit dem Siebdruck auseinandersetze. Was sich dabei für ihn als Problem stellte, nämlich die einzelnen Druckschritte vorausdenken zu müssen, vorauszudenken, wie sich Farbe über Farbe, Farbe zu Farbe verhalten würde, das konnte die Ölmalerei nicht mehr befriedigend lösen. Auch das Malen auf grundierter Leinwand erwies sich zunehmend als unbefriedigend, so daß Sieber in einem weiteren Reduktionsschritt die Leinwand umdrehte, die Grundierung nach hinten nahm und auf der nicht grundierten Seite malte. Ihre Textur, ihr Gewebe wurde zum Gitter, in dem die dünn aufgetragenen Acylfarben gehalten werden, wobei die rückseitige Grundierung dafür sorgt, daß die Farben nicht durchsacken. Man könnte auch sagen: Friedrich Sieber zeigt seine farbmaterialen Prozesse jetzt nicht mehr auf, sondern mit Hilfe der Leinwand.

Gleichzeitig hat Sieber - und auch das ist als Reduktionsschritt zu werten - den Original-Anspruch, wenigstens teilweise, aus dem Bild herausgenommen. Denn was die Bilder der letzten Jahre als farbmateriale Prozesse zeigen, ist nicht auf ihnen, vielmehr als Entwurf und Durchführung schon vor dem Bild auf einfachem Zeichenpapier durchgespielt worden. Erst der befriedigende Prozeßverlauf wird auf die Leinwand übertragen - ein Arbeitsverfahren, das fraglos auf Siebers Erfahrungen mit dem Siebdruck zurückgeführt werden muß. Allerdings würde man den Maler falsch verstehen, nähme man die durchgespielten Entwürfe für das Original. Sie bleiben privates Übungsfeld, auf dem die Lösungen versucht werden. Erst die korrigierte Übertragung auf die Leinwand ist ihre Veröffentlichung, lädt den Betrachter zur Überprüfung ein.

Eine in den letzten Jahren immer stärkere Konturierung der Farbabläufe und -vorgänge, der Grün gegen Grau, Blau gegen Grau, Rot gegen Blau usw. bringt als Gefahr mit sich, daß der naive Betrachter Formen wiederzuerkennen glaubt, die sein Gedächtnis gespeichert hat: geometrische Formen, aber auch Wolken, Blätter oder ähnliches. Dahinter verbirgt sich ein Problem, das hier zwar nicht diskutiert aber wenigstens angesprochen werden muß.

Form als schärfere Konturierung einer Farbe kann dadurch entstehen, daß Sieber in seiner Auseinandersetzung zumeist zweier Farben - "was passiert, wenn ich da jetzt mit Gelb reingehe" - auf Lösungen dieser Art stößt. Es gibt aber durchaus auch den Fall, daß eine real vorgegebene Farbform den Impuls für ein Siebersches Bild geben kann, zeigbar etwa an einer "Grün gegen Grau" getitelten Arbeit. Hier ist das Blatt einer der zahlreichen in Siebers Wohnung und Atelier anzutreffenden Pflanzen der Auslöser gewesen. Aber bereits die Tatsache, daß das Bild wesenliche Charakteristika eines Blattes, Stiel und Adern, seine Körperlichkeit, nicht zeigt, signalisiert, daß es bei dieser Arbeit um anderes ging, nämlich um ein bestimmtes Grün und seine Valeurs, die Sieber so und in dieser Form nur bei diesem Blatt entdeckte. Anders ausgedrückt: das konkrete Blatt war für den Maler nicht Blatt sondern Grün in einer spezifischen Form.

Damit läßt sich die Beschreibung der Sieberschen Bilder mit ihren gedehnten, gequetschten, schwingenden, rund- und gegenlaufenden Farbwelten abbrechen. Zwar wäre damit die Frage nach dem Warum, nach der Beharrlichkeit, mit der Sieben seinem Problem in immer neuen technischen Ansätzen treu geblieben ist, kaum beantwortet. Aber kann man sie überhaupt beantworten? Ich weiß es nicht, möchte aber wenigstens einen Vorschlag machen.

Ich deutete an, daß Friedrich Sieber immer wieder einmal auf Naturvorgänge, auf Natur in einem weiteren Sinne reagiert. Dem entspricht eine Liebe zu Pflanzen, die man überall in seiner Wohnung antrifft derart, daß man sich als Idealzustand ein ganzes Gewächshaus um die Staffelei herum vorstellen könnte. Auf die gelegentliche Frage, was ihn denn an diesem Grünzeug so fasziniere, hat Sieber lakonisch geantwortet, es sei für ihn gewachsenes Gesetz. Analog dazu ließe sich vermuten daß Siebers Entscheidung. die Welt als Farbe zu sehen, seine Suche nach Lösungen aus der Eigengesetzlichkeit der Farben zugleich so etwas wie eine Suche nach einem Gesetz ist, das auch jenseits der Physik die Welt der Farben, die Welt als Farbe bestimmt. Die einzelnen Bilder wären dann so etwas wie einzelne Paragraphen dieses Gesetzes und somit schrittweise Annäherungen an dieses Gesetz. Ich vermute stark, daß sich hinter Siebers Malerei - vielleicht völlig unbewußt - so etwas wie eine Farbmystik verbirgt. In welchem Maße und ob überhaupt, müßte man von Fall zu Fall mit den Bildern ausmachen.

[Durchgesehene Druckfassung, 1983,  der Eröffnung Friedrich Sieber. Bilder. Stuttgart: Galerie Rainer Wehr 17.2.1981]