Reinhard Döhl Zwei Gedichte des Dadaismus haben größere Bedeutung erlangt und werden gelegentlich selbst dort behandelt, wo man den Dadaismus sonst nicht wahrnimmt, Hans (Jean) Arps Klage um Kaspar, weh unser guter kaspar ist tot (1), und Kurt Schwitters "An Anna Blume". O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ichIn dieser Fassung wurde der Text erstmals im August 1919 in Herwarth Waldens Zeitschrift "Der Sturm" veröffentlicht (2). Für den genauen Leser gar nicht einmal so überraschend, nachdem Christoph Spengemann bereits in der Juli-Nummer des "Sturm" auf Anna Blume als ein Geschöpf von Kurt Schwitters hingewiesen hatte, in einem Gedicht "Der Künstler. An Kurt Schwitters" (3). Da dieses Gedicht - ohne die Widmung - Ende 1919 auch die Buchausgabe der "Anna Blume" einleitet (4), ist einige Aufmerksamkeit angebracht. DER KÜNSTLER Die Sonne ist schwarz. Man hat sie mit ihren eigenen Eingeweiden zerschlagen. Man hat sie durch Hungerdelirien gepeitscht. Von fern her umweht ihn ihr Odem. Die Herren vom stampfenden Leben erbeben: Er malte das Bildnis der Zeit und wußte es nicht.Entstanden ist Spengemanns Text spätestens im Juni 1919, da Schwitters Spengemann in einem Brief vom 25. des Monats mitteilt: Ihre Worte über Anna Blume erscheinen im Julisturm (ohne Honorar). Das Bild selbst hat Walden für seine Sammlung erworben. Er fand es sehr schön (5). Das macht sehr wahrscheinlich, daß Spengemanns Gedicht auf den bildenden Künstler, nicht den Dichter gemünzt ist, daß es von einem Bild [und Foto?], nicht von einem Gedicht ausgelöst wurde. Zu korrigieren wäre demnach die Auffassung der Schwitters-Forschung, Spengemann habe mit seinem Text indirekt die Publikation "[An] Anna Blume" angekündigt (6). Ob Spengemann überhaupt das Gedicht, und wenn, in welcher Fassung er es damals gekannt hat, muß vorläufig offen bleiben. Mit Sicherheit hat er das von Schwitters genannte Bild, vielleicht auch einige Zeichnungen gekannt, in denen die in deutscher Schrift geschriebenen Worte 'Anna Blume' auftauchen. Wahrscheinlich gekannt hat er die Zeichnung "Konstruktion" (7), die zusammen mit seinem Widmungsgedicht abgedruckt wurde. Mindestens genauso wichtig ist aber die Frage, wann dieses Bild zum ersten Mal ausgestellt wurde. Denn die Herren vom stampfenden Leben sind ja nicht nur Kritiker des Künstlers Kurt Schwitters, sondern konkret eines Anna-Blume-Bildes. So gelesen hat Spengemanns Gedicht nicht nur eine präludierende Funktion, es ist auch Kritik der Kritik (7a) und dabei in seiner Absicht und Aussage fast schon zu deutlich. Der Kunstler und seine Kritiker, die Herren vom stampfenden Leben stehen sich gegenüber. Das Leben erscheint als eine Mischung von Totenwelt (die Sonne ist schwarz) und Jüngstem Tag (aus rauchenden Trümmern steigen zerriebene Körper). Konkret sind es die Not und der Hunger der Nachkriegszeit, angesichts derer die Menschen in den Rausch, ein Ausleben ihrer niederen Instinkte flüchten, ein stampfendes Leben ohne Herz (tausendmal gemordete Herzen) und Verstand (Nägel sind in die Gehirne getrieben). Vertretern (den Herren) eines solchen Lebens unbegreiflich,mit dem Rücken gegen den Tag erscheinen dagegen der Künstler und sein Verhalten. Den rauchenden Trümmern, dem Steigen, Zerreiben, Zerschlagen, Peitschen, das-Kreuz-Brechen, Taumeln, Tanzen, Morden, Treiben und Wühlen des stampfenden Lebens kontrastiert das ruhige Sitzen, das Falten der Hände, ein duratives Träumen, das Tasten, die kindliche Verlegenheit, das Knien schließlich und Beten. Die Gegenstände seiner Aufmerksamkeit sind äußerst unscheinbar: eine Fliege, die sich ihre Flügel putzt, ein Gänseblümchen auf einer Wiese. Und sie werden als Gegenstände künstlerischer Andacht kaum ansehnlicher, wenn man ihnen die gefundene Einschrift - Anna Blume hat ein Vogel - wörtlich zuordnet, der Fliege den Vogel, dem Gänseblümchen die Blume. Immerhin macht die Möglichkeit einer solchen Zuordnung deutlich, daß Fliege, Gänseblümchen und Anna Blume einundderselben Welt zugehören, der Anschauungswelt des Künstlers, dessen verbogenem Hirn sich der Vogel Anna Blumes in seiner umgangssprachlichen Bedeutung zugesellt. Wenn ich eingangs sagte, Kritiker und Künstler seien gegenübergestellt, muß ich jetzt präzisieren, daß zugleich das stampfende Leben der unscheinbaren Welt des Künstlers kontrastiert. In dieser Spannung malt er, d.h. durch diesen Kontrast veranschaulicht er das Bild seiner Zeit. Aber das ist nur die eine Bedeutung der vorletzten Zeile. In ihrer zweiten und eigentlichen Bedeutung zielt sie nämlich auf das schon erwähnte Bild Kurt Schwitters', in das er 1919 wirklich eingeschrieben hatte, was er an einer Planke las - in weißer Schrift, also in der Farbe der Unschuld: Anna Blume hat ein Vogel. Das Bild, das sich, wie zitiert, 1919 im Besitz von Herwarth Walden befand, hat sich nicht erhalten. Doch läßt seine Abbildung auf einer späteren Einladungskarte von Kurt Schwitters wenigstens einen Eindruck zu, vor allem verrät sie auch den Titel, der mit "Das Kreuz des Erlösers" auffällig genug ist (8). Die Anregung für dieses Bild, genauer: für seine Einschrift scheint in der Tat ein zufällig gefundenes Graffito zu sein. Noch 1984 erinnerte sich Frau Keitel, eine Cousine Kurt Schwitters: Eines Tages fuhren wir an 'Vier Grenzen' vorbei, wo gebaut wurde und ein Zaun aufgestellt war. Auf diesem Zaun stand oben 'Anna Blume', und Schwitters sagte mir 'Dort habe ich meine Anna Blume her' (9). Auch Christoph Spengemann betonte 1920 in "Die Wahrheit über Anna Blume" (10) in zeitlicher Nähe diese Herkunft, nachdem er zuvor auf einen eigenen Aufsatz über Schwitters in der Kunstzeitschrift "Cicerone" hingewiesen hat: Bald nach Entstehung jenes Aufsatzes sah ich bei Schwitters ein
neues Merzbild. Quer darüber waren die Worte geschrieben 'Anna
Blume hat ein Vogel'. Diese Bemerkung Spengemanns, der überzeugt war, daß Anna Blume für Schwitters die Qualität einer Vorstellung, eines Symbols gewann, ist wiederum rätselhaft. Dieser Aufsatz im "Cicerone" erschien am 18. September 1919. Redaktionsschluß war der 12. September, also ein Datum, an dem Herwarth Walden das Bild bereits besaß (spätestens Juni 1919). Spengemanns Widmungs-gedicht mit der Zeichnung "Konstruktion" von Kurt Schwitters und Schwitters Gedicht "An Anna Blume" im "Sturm" bereits publiziert waren (Juli bzw. August 1919). Danach müßte der Aufsatz Spenge-manns spätestens im Juni entstanden sein. In ihm geht Spengemann auch auf die sogenannten "Merz-Bilder" ein, die nach uneinheitlicher Auffassung der Kunsthistoriker erstmals entweder im Juli 1919 in der Galerie "Der Sturm" aus- und damit der Öffentlichkeit vorgestellt werden, oder bereits in wenigstens einem Beispiel schon im Januar 1919 gezeigt wurden (12). Im Zusammenhang seiner Erklärung der "Merz-Bilder" führt Spengemann u.a. aus: Immer wiederkehrende Figuren werden ohne jede gedankliche Bedeutung benutzt. Es sind Dinge, die in des Künstlers Totalerlebnis insofern eine Rolle spielen, als sich ein bestimmtes Gefühl mit ihm verbindet. Ein außerhalb liegendes Beispiel: das Kreuz des Erlösers. Schwitters würde mit ihm nicht eine geschichtliche Begebenheit oder irgendwelche Reflexion verknüpfen, sondern einfach das abstrakte Gefühl: etwa des Aufgehens in Gott ausdrücken" (13). Da weitere Indizien bisher fehlen, kann man hier nur spekulieren, daß das betreffende Bild, ein eindeutiges "Merz-Bild" übrigens, zunächst ohne seine Einschrift existierte. Auf diese erste Fassung würde sich dann Spengemanns Artikel im "Cicerone" beziehen. Und daß Schwitters erst danach durch den Graffito zu seiner folgenreichen Einschrift angeregt wird. Diese Hypothese ließe sich mit der Schwitterschen Arbeitsweise stützen, seiner mehrfach belegten Angewohnheit, an seinen Collagen weiterzuarbeiten, wenn er noch Material fand, das sich zur Verbesserung, zur Verdeutlichung anbot. Vermuten wir hier richtig, bekommt diese Einschrift ein zusätzliches Gewicht, das sich noch dadurch verstärkt, daß Schwitters seit spätestens 1919 in zahlreichen Drucken, Zeichnungen, Collagen und Objekten den Namen Anna Blume, z.T. in beachtenwerten Kontexten, einschreibt und damit gleichsam zum Wasserzeichen dieser Arbeiten macht. Es ist also durchaus vernünftig, diese Arbeiten einmal zusammenzustellen. Wenn die Datierung 1918 stimmt, wäre der erste Beleg eine Stempelzeichnung mit Collage, die bereits die Einschrift Anna Blume hat ein Vogel zeigt. Da diese Arbeit eine Berliner Adresse (13a) einschließt, ist die erste Ausstellungsbeteiligung von Kurt Schwitters in der Galerie "Der Sturm" im Juni 1918 (also noch während des Ersten Weltkrieges) das Datum post quem. Im 4. "Sturm-Bilderbuch" (14), das diese Arbeit abbildet, schreibt Schwitters rückblickend: Ende 1918 habe er erkannt [...], daß Beschränkung auf ein Material einseitig und kleinlich sei, während Magdalena M. Moeller in ihrem Kommentar über "Schwitters und die Geburt von MERZ" datiert: Gleichzeitig mit den Arbeiten aus vorgefundenem Material setzte 1919 eine Gruppe aquarellierter Farbstift- und Federzeichnungen sowie eine Gruppe von scgenannten 'Stempelzeichnungen' ein, die gleichsam das Prinzip der Collage, das Agieren mit zufällig gefundenen Teilen, in den Vordergrund des künstlerischen Gestaltens stellen. Beide Gruppen leiten unmittelbar zu MERZ über bzw. können als Ableger, als frühe Sonderformen von MERZ bezeichnet werden (15). Unabhängig davon, ob die Datierung mit 1918 stimmt, läßt sich bereits hier festhalten, daß die Einschriften etwa gleichzeitig mit Schwitters Entscheidung für eine MERZ-Kunst erfolgten, sicherlich also mit ihr in eine enge Verbindung zu bringen sind. Worauf auch das Gedicht "An Anna Blume" verweist, das von Schwitters auffällig als "Merzgedicht 1" ausgewiesen ist. Als zweiten Beleg dürfen wir das bereits genannte MERZ-Bild "Das Kreuz des Erlösers" ansehen, das vielleicht schon Anfang 1919 entstanden, spätestens im Juni seine Einschrift erhält. In der Juli-Nummer der Zeitschrift "Der Sturm" wird die ebenfalls schon genannte Zeichnung "Konstruktion" mit einer wortgleichen Einschrift abgebildet. Auch sie muß bereits im Juni als Zeichnung (Tinte auf Papier) vorgelegen haben. Im Juli erfolgt dann die erste umfassende Präsentation der MERZ-Bilder und -Zeichnungen. Sie werden von der Kritik (die sich aber vorher schon an ihnen gerieben haben muß, wie Spengemanns Widmungsgedicht nahelegt) scharf attackiert, wobei vor allem der Kritiker Dr. Cohn-Wiener von der "Neuen Berliner Zeitung" genannt werden muß. Seine Kritik erfuhr nämlich bereits in der August-Ausgabe des "Sturm", in der auch das Gedicht "An Anna Blume" erschien, eine ironische Replik durch Schwitters, aus der unschwer hervorgeht, daß vor allem Anna Blume die Kritiker provoziert hatte: Der Doktor: [...] Wo ist der Zusammenhang zwischen Ihren Bildern
und meinen Artikeln? Bemerkenswert ist diese Replik aber auch, weil Schwitters sie als "Tran Nr. 1" ausweist. Das ist in der Bezeichnung ein Kürzel aus Lebertran. Zugleich steht dieser 1. Tran-Text und Prototyp Schwitterscher Kritikerschelte wie das "Merzgedicht 1" in einem ursächlichen Zusammenhang mit Anna Blume, die in den über dreißig Tran-Texten immer wieder einmal nominell in Erscheinung tritt. Nicht mit Sicherheit läßt sich sagen, an welchem Exponat, an welchen Exponaten sich die Kritik besonders entzündete. Ob dies die Zeichnung "Konstruktion" war, wie Armin Arnold annimmt (17), oder "Das Kreuz des Erlösers", wie Nündel vermutet (18), muß ohne weitere Hinweise unentschieden bleiben. Dagegen darf angenommen werden, daß Schwitters sowohl eine Anzahl der Anstoß erregenden Exponate in der Folgezeit abgebildet hat. Und, daß er, nachdem er Anna Blume als Wasserzeichen seiner MERZ-Kunst verstanden hatte, von ihm intensiven Gebrauch machte. So finden sich für das zweite Halbjahr 1919 eine Vielzahl und Vielfalt von Belegen, bei deren Vorstellung ich mich auf die interessanteren beschränke. Das wären zunächst zwei Aquarelle mit Farbstiftzeichnung, in Schwitters' Zählung "Aq 21" und "Aq 30". Der Titel des Aquarells 21 (19), "Anna Blume und ich", stammt wahrscheinlich vom Sohn Ernst Schwitters. Abgebildet sind ein Frauenkopf, ein Räderwerk und eine Flasche. Mehrere Pfeile deuten an, daß es keine eindeutige Blick/Leserichtung gibt. Eingeschrieben ist, von oben nach unten gelesen, links: Anna Blume / Anna / Anna / Blume / Blume und rechts: ich / Ich. Dabei wird die zweite Anna- Einschrift oberhalb der Flasche zusätzlich interessant, weil Schwitters innerhalb der Flasche eine Blume angedeutet hat, so daß sich - wie in einem Rebus oder einfachen Bilderrätsel - Einschrift und Bild zu Anna Blume zusammenfügen. Das ergäbe dann viermal Blume, dreimal Anna, zweimal ich, wobei die Wortdoppel und die Groß/Kleinschreibung bei ich/Ich auf den Schluß des ersten Tran-Textes verweisen, so daß sich das Aquarell auch als Variante und Illustration dieses Textes betrachten läßt. Dabei müssen wir wegen der Einschrift und geleitet durch die rückläufige Wortmenge sinnvollerweise lesen: Blume ist Anna Blume ist ich, was sich als Identifizierung des Künstlers mit seiner Kunstfigur verstehen ließe. Das Aquarell 30 (20) zeigt zunächst die schon bekannte Ikonographie von Flasche, Räderwerk, Frauenkopf, Pfeilen. Dem Frauen-kopf ist ein Trichter zugeordnet, der assoziativ den Nürnberger Trichter anspielt, der umgangssprachlich eine Lernmethode für schlichtere Gemüter bezeichnet, bei der notwendiges Wissen mehr oder weniger mechanisch eingetrichtert wird. Im Aquarell läuft das Eingetrichterte aus der Nase wieder heraus. Schwitters hat seine Arbeit getitelt: "Das ist das Biest, das manchmal niest". Da es zu Schwitters' Zeiten noch gang und gäbe war, jemand beim Niesen "Gesundheit" zu wünschen, ließe sich deuten, daß Anna Blume dank ihrer naiven Robustheit das Eingetrichterte wieder herausniest. Daß wir sie uns als schlichtes Mädchen im Alltagskleid vorstellen müssen, deutet das Wort Biest an, das umgangs-sprachlich einen durchtriebenen Menschen, aber auch ein anziehendes Mädchen, eine verführerische junge Frau bezeichnet - mit dem Unterton (widerstrebender) Anerkennung. Auf naiv / schlicht weist zweitens das dem Frauenkopf zugeordnete Herz mit appli-ziertem Pfeil, was volkstümlich das vom Liebespfeil getroffene, aber auch das schmerzlich verletzte Herz symbolisiert. Eingeschrieben in das Aquarell ist zweimal Anna Blume, davon einmal in die Flasche. Eingeschrieben ist ferner das Wort Uhr und fünfmal die Zahl 13 (mit spiegelverkehrter 3), viermal im Flaschenboden, einmal in einem angeschnittenen Rechteck, das durch eine Linie direkt mit dem Frauenkopf verbunden ist. Dahinter verbirgt sich wiederum eine umgangssprachliche Redensart: es schlägt dreizehn, mit der Bedeutung: jetzt aber Schluß damit, bzw.: das geht zu weit. Offen bleibt, in welche Richtung Schwitters diese Redensart gemeint hat, in Richtung der Kritiker oder selbstironisch, indem er die Redensart auf sein eigenes Kunstwerk bezieht und sich damit scheinbar der Meinung seiner Kritiker anschließt. - Ebenfalls noch von 1919 stammt eine Collage ohne Titel, die gelegentlich, dem dominierend eincollagierten Textelement folgend, "Der Sturm" (21) genannt wird. Neben dem auch hier eingezeichneten und eingeklebten Räderwerk hat Schwitters in wechselnder Richtung von oben nach unten die Namen Kandinsky, Marc Chagall, Paul Klee, Carlo D. Carra, Gino Severini, Campendonk, Nell Walden und William Wauer eingeklebt, Namen von Künstlern, die von der Galerie "Der Sturm" ausgestellt und vertreten wurden. Rechts oben findet sich der Name des Initiators und Organisators der vielfältigen Aktivitäten des "Sturm", Herwarth Walden, und einer seiner Buchtitel, das 1918 erschienene "Expressionismus. Die Kunstwende", eine These, der Schwitters durch Zitat seine Zustimmung erteilt. Zwischen die Namen Klee und Carra hat Schwitters zusätzlich den Bildtitel "Ruhelose Tänzerin" eingeschmuggelt, den man natürlich auf das zugehörige Exponat beziehen kann, so man das Bild kennt. Gemeint ist von Schwitters eines der Tänzerinnenbilder Gino Severinis, das die Galerie DER STURM in seiner zweiten, den Futuristen gewidmeten Ausstellung 1912 gezeigt und im Katalog, wie schon im Döblin-Kapitel zitiert, kommentiert hatte: Gesamteindrücke, vergangene und gegenwärtige, nahe und entfernte, kleine und große einer Tänzerin, so wie sie dem Maler erscheinen, der sie in verschiedenen Perioden seines Lebens studiert hat. Die "Ruhelose Tänzerin" war übrigens auch als Sturm-Postkarte verbreitet. Da der Betrachter der Schwitterschen Collage dieses Exponat aber möglicherweise aber dennoch nicht kannte und kennt, muß er nach einem anderen Beziehungspunkt suchen, und den findet er in der unten eingeschriebenen Anna Blume, die aber diesmal von zwei Männern begleitet wird, von Franz Müller (links oben) und dem Künstler selbst (rechts Mitte). Verbindet man diese drei Namen, erhält man ein ins Bildganze einkomponiertes rechtwinkliges, gleichschenkliges Dreieck, in dessen Scheitelpunkt die Künstlersignatur steht, die also von Anna Blume und Franz Müller gleich weit entfernt ist. Anders ausgedrückt, der Schritt von Schwitters zu Anna Blume ist genauso weit wie der Schritt von Schwitters zu Franz Müller, was die Vermutung nahelegt, daß auch Franz Müller als Schwittersche Kunstfigur gewertet werden muß, daß Schwitters ebenso sehr Franz Müller wie Anna Blume ist, so daß man die drei Einschriften auch als Dreifachsignatur der Collage werten kann. Diese Lesart läßt sich stützen mit der bisher nicht berücksichtigten Zeichnung "Konstruktion" (12), die im Juli 1919 in der Zeitschrift "Sturm" abgebildet wurde. Zu dem inzwischen bekannten Räderwerk treten auf ihr praktisch zwei Einschriften. Stellt man die Arbeit beim Lesen auf den Kopf und wendet sie dabei nach rechts, lautet die Einschrift Anna Blume hat ein Vogel, während sich, normal von oben nach unten gelesen, ergibt: Anna Blume und Franz Müller. Wie Anna Blume infolge eines Graffito, so ist Franz Müller durch eine gefundene Visitenkarte entstanden. Dem MERZ-Bild "Das Kreuz des Erlösers" tritt als zweites MERZ-Bild "Franz Müllers Drahtfrühling" (23) an die Seite. Von Schwitters links unten mogrammiert und mit 1919 datiert, hat es sich ebenso wie "Das Kreuz des Erlösers" nur auf Abbildungen im Katalog der 100. Ausstellung des "Sturm" (24) und auf Postkarten (25) erhalten. Doch ist auch auf ihnen die auslösende und eincollagierte Visitenkarte deutlich zu erkennen. Was in diesen beiden MERZ-Bildern noch getrennt nebeneinander steht, wird von Schwitters in der Zeichnung "Konstruktion" erstmals zusammengeführt und verweist damit auf einen zweiten Sinn von Konstruktion: das gedankliche Konstrukt. In welchem Umfang wir es dabei in der Tat mit einem längeren Gedankenspiel von Schwitters zu tun haben, wird deutlich, wenn Anfang 1920 die Zeitschrift "Der Marstall" den Roman "Franz Müllers Drahtfrühling" als den "Liebesroman der Anna Blume" ankündigt. In diesen Zusammenhang muß wohl auch eine lithographierte Zeichnung gerückt werden, die noch 1919 in "Der Zweemann" (26) erschien: "An Anna Blume, die Berühmte". Bei diesem Titel ist, zweierlei bemerkenswert. Zunächst, daß Schwitters wie bei dem Gedicht, so auch in der Zeichnung den Gestus der Widmung wählt. Zweitens läßt das Epitheton die Berühmte etwas von der Popularität ahnen, die Anna Blume bis Ende des Jahres gewonnen hatte. Dem Gestus der Widmung entspricht die Einschrift Dieses Bild ist Dich gewitmed. Falscher Kasus (Dich) und falsche Schreibung (gewitmed) bedürfen des Kommentars. Schwitters war Hannoveraner. Und nicht nur für Berlin, sondern sowohl für Hannover wie für das südliche Niedersachsen charakteristisch ist die umgangssprachliche Verwechslung von mir und mich, dir und dich (Das Dir und Dich verwechs'l ich nich, das kommt bei mich nich vor). Dieser umgangssprachlichen Verwechslung entspricht durchaus die Falschschreibung, doch ruft sie assoziativ auch die Witwe herbei, eine Erklärung, die sich bei den Sprachspielen Schwitters' nicht ausschließen läßt. So gäbe es zum "Liebesroman der Anna Blume auch die Witwe Anna Blume und, um 1920/1921 entstanden} zusätzlich ein Intarsienkästchen (27), das Schwitters mit einem ANNA-Etikett beklebt hat - eine Arbeit, die durchaus an einen Sarkophag gemahnt. Nachdem Schwitters in der dargestellten Weise seine Kunstfiguren Anna Blume und Franz Müller zusammengeführt hat, liegt nahe, daß auch Franz Müller in mehreren Ebenen funktioniert. Er begegnet im bildnerischen Werk als Collage, im literarischen Oeuvre als Romanentwurf, an dem übrigens Hans Arp mitgearbeitet hat. Etwa gleichzeitig mit Anna Blume ge- bzw. erfunden, stellt sich eine enge Verbindung zur entstehenden Merzkunst her. Schließlich begegnen wir ihm ebenfalls in den Tran-Texten, deren 24. sogar mit Franz Müller gezeichnet ist (28). Daß Schwitters seine Kunstfigur zwischenzeitlich auch einmal sterben lassen wollte, belegt ein Brief an Hans Arp vor dem 12.5.1921: [...] nach dem Ableben des großen Franz Müller frage ich Sie, ob Sie eine geneigte Seite haben? (29) Doch hat Schwitters, trotz dieses zeitweiligen Ablebens, an Franz Müller ähnlich wie an Anna Blume bis etwa 1923/1924 festgehalten, einem Zeitpunkt, an dem sich in seinem Werk eine deutliche Zäsur und Stilwende anbahnt. [Daß sich das "Ableben" eventuell auch auf das Beenden gemeinsamer Franz-Müller-Dichtung beziehen läßt, sei hier wenigstens angemerkt]. Es gibt noch einen weiteren Aspekt, den man in einem Anna-Blume-Exkurs nicht übersehen darf: die Werbung. Blieben die bisherigen Belege in den traditionellen Bereichen von Kunst und Kunstkritik, Literatur und Literaturkritik, nutzte als erster der Verleger Paul Steegemann das Provokationspotential der Anna Blume zu einer Plakation, also dem endgültigen Schritt in die breite Öffentlichkeit. Im Juni 1920 waren in Hannover die Zehn Gebote plakatiert worden mit dem Zu-Satz: Irret Euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten. Höhe der Plakate etwa 2 Meter. Eine Woche später ließ Steegemann neben diesen Plakaten in gleicher Größe das Gedicht "Anna Blume" (also ohne den Widmungszusatz) plakatieren und brachte damit den Text, aber auch den noch rechtzeitig zu Sylvester 1919/1920 erschienenen Band "Anna Blume. Dichtungen" selbst dort ins Gerede, wo man sie sonst kaum wahrgenommen hätte. Ästhetische Provokation außerhalb der für die Kunst vorgesehenen und ihr vorbehaltenen Räume des Museums und der Bibliothek ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Dahinter verbirgt sich fraglos auch der Wunsch, Kunst wieder ins Leben, in den Alltag zu integrieren, deutlich faßbar in der Happening- oder Fluxusbewegung. Das war bei dieser Plakation noch nicht der Fall. Sie war ausschließlich Werbegag eines einfallsreichen Verlegers, dem der Erfolg recht gab. Doch Steegemann war auch sonst auf Publi-zität der Anna Blume aus. In seiner verlagseigenen Zeitschrift "Der Marstall" versammelte er schon vor der Plakation unter der Überschrift "Das enthüllte Geheimnis der Anna Blume" (30) die witzigsten, boshaftesten, dümmsten und klügsten Reaktionen auf das Schwittersche Gedicht, die oft in der Vermutung gipfelten, man habe es bei dem Verfasser mit einem Irrsinnigen zu tun, der tiefes Mitleid verdiene: Sollte er nicht mehr zu retten sein? Sollte nicht wenigstens der Versuch gemacht werden, ihn durch Unterbringung, in einer Heilanstalt von seinem Irrsinn, soweit er auch fortgeschritten sein mag, zu heilen? Wenn Sie zur Deckung der Kosten eine Sammlung veranstalten wollen, bin ich gern bereit, mich zu beteiligen (31). Ob in jedem Fall, wissen wir nicht, auf diesen Brief hat Schwitters selbst geantwortet: Ihr Mitleid rührt mich, und ich freue mich an dem Anteil, den
Sie an mir Unglücklichem nehmen. Ihre Idee, eine Sammlung zur Heilung
meiner 'Nerven' zu veranstalten, finde ich so famos, daß Ich (Verzeihung.)
ich selbst mich entschlossen habe, die Verwaltung des gesammelten Geldes
zu übernehmen. Ich denke an ein großzügiges Unternehmen,
an eine Kur von 1 Jahr Dauer in dem vornehmsten Kurhause im weißen
Hirsch. Bei dem schlechten Stande der Valuta müßte natürlich
eine beträchtliche Summe zur Verfügung stehen. Ich hoffe auf
Ihr volles Verständnis, wenn ich infolgedessen den Mindestbetrag
auf 500 Mark festsetzen muß und rechne nach Ihrer Karte auf Ihre
tatkräftige Propaganda [sic! R.D.] und besonders auf Übersendung
Ihres Anteils. Etwa gleichzeitig mit dem "Marstall" veröffentlichte der Zweemann-Verlag Christof Spengemanns die schon genannte "Wahrheit über Anna Blume". Nach der ersten Auflage von 10 Tausend Exemplaren der "Anna Blume" (1919), was für einen Gedichtband eine ausgesprochen hohe Auflage ist, folgte 1922 das 11.-13. Tausend als veränderte Ausgabe, aber noch unter dem alten Titel. Im gleichen Jahr publizierte der Verlag des "Sturm" in Berlin "Elementar. Die Blume Anna. Die neue Anna Blume", die das berühmte Widmungsgedicht nicht mehr enthält (33). Ebenfalls noch 1922 erschienen in Freiburg die "Memoiren Anna Blumes in Bleie. Eine leicht faßliche Methode zur Erlernung des Wahnsinns für jedermann", mit einem Zweittitel, der deutlich auf die Vorwürfe, der Verfasser der "Anna Blume" sei irrsinnig, anspielt. Außer in Buchtiteln, Zitaten oder Bildinschriften hat Schwitters aber noch in anderer Weise für seine Anna Blume Reklame gemacht, mit kleinen rechteckigen oder runden Aufklebern, die nur den populären Namen enthielten, bei den runden Aufklebern zusätzlich oben noch ein Ausrufe-, unten ein Fragezeichen. Diese Aufkleber-Aktion (34) in eigener Sache ist ein wichtiger Hinweis auf den Werbespezialisten Kurt Schwitters, der auch als Werbegrafiker- und -typograph durchaus erfolgreich war. Schwitters Anna-Blume-Aufkleber werden vor allem dort interessant, wo sie gleichzeitig integrierter Bestandteil von Collagen und Postkarten sind, z.B.im sogenannten "Kots-Bild" von 1920. Ist hier der Aufkleber zentrales Bildelement neben anderen gleichberechtigten, hat der Aufkleber auf zwei Werbepostkarten des Steegemann-Verlages eine deutlich andere Funktion. Im ersten Fall verbirgt sich Kurt 5chwitters hinter dem Etikett wie hinter einer Maske (35). Im zweiten Fall, einer Karte vom 4. November 1921 (36) hat er sich als Autor zwar auch unkenntlich gemacht aber gleichzeitig auf seine Damenkonfektion verwiesen. Wörtlich - und Schwitters konnte Latein - bedeutet conficere = fertig machen, zustande bringen durch körperliche oder geistige Tätigkeit. In diesem Sinne könnte Schwitters seine Anna Blume - im übertragenen Sinne als Damenkonfektion gemeint haben, auf jeden Fall wollte er den folgenden Inseratentext auf sie unsinnig bezogen wissen. Da sich Schwitters 1911 erstmalig an einer Ausstellung beteiligte, macht der Text, der sich auf der Rückseite der Karte fortsetzt, aber auch biographisch Sinn: Heute begehe ich den Tag meines 10jährigen Bestehens, was Menschenhände schaffen können ist in den Jahren geschaffen worden, ich habe mir einen großen Kundenkreis erworben, dank meines Prinzips, meine Kundschaft auch in der schwersten Zeit mit vorteilhaften Waren zu versorgen. Ich bin stolz auf die Erfolge meines Unternehmens. Um meiner treuen Kundschaft in dieser schweren Zeit ein großes Entgegenkommen zu bringen und gleichzeitig die Leistungsfähigkeit zu beweisen, habe ich mich entschlossen, für diesen Jubiläums-Verkauf hervorragend schöne Waren der Zeit entsprechend sehr billig abzugeben(37). Das spielt mit Werbung. Und es ist zugleich Reklame in eigener Sache, Rückblick auf eine nunmehr zehnjährige Ausstellungstätigkeit und eine Kunstkonfektion, der unter anderem Anna Blume zugehört. Selbst die schwere Zeit und die hervorragend schönen Waren der Zeit lassen sich auf Anna Blume beziehen, die Christof Spengemann als Bildnis der Zeit ("Der Künstler", 1919) und als Zeitdokument ("Die Wahrheit über Anna Blume", 1920) bezeichnet hatte, deren Einschrift er als Echo verstand, das auf das Herüberschallen sinnlosen Zeitgeschehens aus ihm [d.i. Schwitters, R.D.] ertönte. Wenn Schwitters dieser Reklame in eigener Sache ein Jahr später die "Memoiren Anna Blumes in Bleie" folgen läßt, verstärkt sich die rückwärts gewandte Perspektive, bezeichnet Anna Blume immer deutlicher eine wichtige, aber bereits abgeschlossene Phase in der künstlerischen Entwicklung. Die Einladungskarte von 1924, auf der "Das Kreuz des Erlösers" abgebildet war (Formulierung ändern!), hat konsequenterweise die Vortragspunkte "Auguste Bolte", "Anna Blume" und "Blei-e" gestrichen. Zuvor findet sich an wichtigen Belegen lediglich noch eine einzige collagierte Postkarte aus dem Jahre 1923 (38). Das auf dieser Karte ursprünglich wiedergegebene Original von 1909 (39) war eine typische Akademie-Arbeit und -Komposition, die um ein aufgeschlagenes Buch, das man von seiner Größe her als Bibel ansprechen darf, von rechts nach links einen Abend-mahlskelch, eine Weinflasche und eine Keramikvase angeordnet hatte. Die in diesem Kontext eher störende Chiantiflasche ist in der Collage von einem Frauenkopf verdeckt. Über ihm eingeklebt lesen wir das Wort Hummel, und, in die Bibel eingeschrieben: Ich liebe Dir / ANNA. Dazu ist ein einzelnes Rad eingezeichnet. Das Wort Hummel steht umgangssprachlich, meist als wilde Hummel für ein lebhaftes, temperamentvolles Mädchen. Noch salopper sagt man von Leuten, die sich nicht ruhig verhalten können und ständig von etwas umgetrieben werden, sie hätten Hummeln im Hintern. Das letztere hatte Schwitters vielleicht im Sinn, fraglos aber eine Verbindung von umgangssprachlicher Hummel, Frauenbild und der Liebeserklärung mit falschem Kasus. Daß Schwitters als Ort seiner Einschrift eine Bibel wählt, daß diese Liebeserklärung von einem Abendmahiskelch flankiert ist, sollte nicht als Parodie oder Ironie mißverstanden werden. Es muß vielmehr verstanden werden im Sinne der Jean Paulschen Definition, nach der Humor das Große erniedrige, um ihm das Kleine an die Seite zu setzen, und das Kleine erhöhe, um ihm das Große an die Seite zu stellen und derart beide zu vernichten (40). Was, auf die Collage übertragen, heißen könnte: das Große (Bibel und Abendmahlskelch) werden erniedrigt, um ihm das Kleine (eine banale Liebeserklärung) zuzuordnen, das Kleine (die Liebe zu einem schlichten Mädchen im Alltagskleid) wird erhöht, um ihm das Große (die Liebe Gottes) an die Seite zu stellen und so beides gegeneinander aufzuheben. Stimmt diese Vermutung, versteckt sich hinter dieser zunächst unsinnigen Collage sehr wohl ein tiefer Ernst, den wir auch für das Ausgangsbild und seinen auffälligen Titel "Das Kreuz des Erlösers" annehmen dürfen. Denn der Abendmahlskelch wird - Schwitters war Protestant - dem praktizierenden Christen gereicht mit den Worten Nimm hin, dies ist mein Blut, was heißen soll, daß der Wein symbolisch für das Blut gereicht wird, das Christus am Kreuz stellvertretend für die Menschheit und ihre Sünden vergossen hat. Und auch die Gebetshaltung des Künstlers in Spengemanns Widmungsgedicht (faltet die Hände, Nun kniet er vor einem Gänseblümchen und betet) fände von hier aus eine Erklärung (40a). Andererseits ist der Gegenstand der Anbetung (ein Gänseblümchen), sind die Materialien des MERZ-Bildes unscheinbar, Dinge des täglichen Abfalls, kontrastiert die nachträgliche Einschrift im oberen Bildviertel, Anna Blume hat ein Vogel, in ihrer Banalität extrem die Inschrift des Kreuzes Christi, I.N.R.I. (= Jesus Nazarenus Rex Judaeorum). Vgl. ferner die Hoheliedanklänge in "An Anna Blume"; vor allem auch Grosz' Christus mit der Gasmaske und der anschließende Prozeß!]. Für Schwitters, aber auch für andere Dadaisten, hatten sich die bürgerlichen Kunst- und Moralvorstellungen durch die Realität des Ersten Weltkrieges selbst korrumpiert, war jede traditionelle Ordnung der Werte durch eine als wahnsinnig empfundene Zeit aus den Angeln gehoben. Wir suchten, schrieb rückblickend Hans Arp, eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte (41). Und an anderer Stelle: Der Dichter kräht, flucht, seufzt, stottert, jodelt, wie es ihm paßt. Seine Gedichte gleichen der Natur. Nichtigkeiten, was die Menschen so nichtig nennen, sind ihm so kostbar wie eine erhabene Rhetorik, denn in der Natur ist ein Teilchen so schön und wichtig wie ein Stern, und die Menschen erst maßen sich an, zu bestimmen, was schön und was häßlich ist (42). Nicht viel anders wie Arp hier die Dichtung, definiert Schwitters seine MERZ-Malerei, die sich nicht nur der Farbe und der Leinwand, des Pinsels, der Palette, sondern aller vom Auge wahrnehmbarer Materialien und aller erforderlicher Werkzeuge bediene. Dabei ist es unwesentlich, ob die verwendeten Materialien schon
für irgendwelchen Zweck geformt waren oder nicht. Das Kinderwagenrad,
das Drahtnetz, der Bindfaden und die Watte sind der Farbe gleichberechtigte
Faktoren. Der Künstler schafft durch Wahl, Verteilung und Entformung
der Materialien. [Diese Verkürzung des Weges vom Einfall zur Ausführung, die Unmittelbarkeit künstlerischer Produktion hat auch Arp wiederholt betont, wenn er z.B. einen Essay über "Konkrete Kunst" einleitet: Wir wollen nicht die Natur nachahmen. Wir wollen nicht abbilden, wir wollen bilden. Wir wollen bilden, wie die Pflanze ihre Frucht bildet, und nicht abbilden. Wir wollen unmittelbar und nicht mittelbar bilden (44).] Sein Erstreben unmittelbaren Ausdrucks hatte Schwitters veranlaßt, in "Das Kreuz des Erlösers" nachträglich und spontan ein gefundenes Graffito einzuschreiben, das die Kritik provozierte, das aber auch den Künstler selbst weiter beschäftigte. Lediglich als Antwort auf die Kritiker lassen sich die zahlreichen Anna-Blume-Einschriften in ihren unterschiedlichen Kontexten jedenfalls nicht werten. Im Zusammenhang einer Materialkunst waren sie einmal gewähltes, zu verteilendes und zu entformendes Material unter anderem. Da sie aber auch lesbar waren, sprengten sie zweitens die Grenzen des nur anschaubaren Bildes in Richtung der Literatur, eine Grenzüberschreitung, die in beiden Richtungen funktionierte und schließlich alle Kunstarten miteinbezog. In einem für das Verständnis seiner Kunst eminent wichtigen, schon im Dezember 1919 entstandenen Aufsatz "Merz" erklärte Schwitters: Kunst ist ein Urbegriff, erhaben wie die Gottheit, unerklärlich wie das Leben, undefinierbar und zwecklos. Das Kunstwerk entsteht durch das künstlerische Abwerten seiner Elemente (45). Dieses Kunstwerk, erhaben und banal, undefinierbar und zwecklos, konnte für den, der es schaffen wollte, sich nicht mehr nur auf eine Gattung bzw. Kunstart beschränken. So fährt Schwitters in seinem Aufsatz denn auch fort: Die Beschäftigung mit verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis. Der Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunstart, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. [...] Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen (46). Schwitters hat dieses MERZ-Gesamtkunstwerk nicht geschaffen, hätte es auch nie schaffen können. Daß aber Anna Blume in nahezu all seinen praktischen und theoretischen Ansätzen begegnet, macht sie nicht nur zum Wasserzeichen, sondern geradezu zu einer Integrationsfigur dieses intendierten Gesamtkunstwerks. Ihr ist das erste "Merzgedicht" gewidmet. "Franz Müllers Drahtfrühling" wird als Liebesroman Anna Blumes angekündigt. Sie spielt in der MERZ-Malerei eine entscheidende Rolle. Ihr Name wird einem Intarsienkästchen appliziert. Sie wird in der Collage "Der Sturm" als ruhelose Tänzerin charakterisiert, ist im "Merzgedicht 1" eine Artistin, die ihren Hut auf den Füßen tragen und auf die Hände wandern kann. Schließlich begegnet sie auch unter dem Personal der MERZ-Bühne. Nun beginne man, heißt es in den "Erklärungen meiner Forderungen zur Merzbühne", die Materialien miteinander zu vermählen. Man verheirate z.B. die Wachstuchdecke mit der Heimstättenaktiengesellschaft, den Lampenputzer bringe man in ein Verhältnis zu der Ehe zwischen Anna Blume und dem Kammerton a. Die Kugel gebe man der Fläche zum Fraß und eine rissige Ecke lasse man vernichten durch 22tausendkerzigen Bogenlampenschein. Man lasse den Menschen auf den Händen gehen und auf seinen Füßen einen Hut tragen, wie Anna Blume. (Katarakte). Schaum wird gespritzt (47). Dies ist allerdings die einzige Verbindung, die Anna Blume mit der Kunstart Musik eingeht, und ihr einziger Auftritt auf der MERZ-Bühne. Danach begegnet sie nur noch in den beiden von Schwitters am intensivsten ausgeübten Gattungen der MERZ-Malerei und der MERZ-Dichtung, mit vergleichbar häufigen Auftritten. Sie auch hier aufzuzählen, gar einzeln zu behandeln, würde den Rahmen sprengen. So daß ich mich, ausgenommen das "Merzgedicht 1", auf einige Hinweise beschränken darf, wobei ich mich werkgeschichtlich rückwärts bewege. Daß Schwitters das Prinzip der Collage von der bildenden Kunst auch auf die Literatur übertragen würde, lag bei seinem Bemühen um ein MERZ-Gesamtkunstwerk nahe. So vermerzte er schon bald ganze Texte, darunter "An Anna Blume" in "AUFRUF! (ein Epos)". Man hat diese Textcollage aus Gedicht, Zeitungsbericht, Inseratenteil, Werbung u.a. als Beleg für die Instabilität dadaistischer Texte (48) nehmen wollen, dabei aber übersehen, daß dieses collagierte Epos nicht Folge von Instabilität ist, sondern daß Schwitters geschlossene Textwelten unterschiedlichster Art zerbricht und neu zusammensetzt, um an den Bruchstellen dem Leser überraschende Zusammenhänge und Einsichten in seine Wirklichkeit zu ermöglichen. Was allerdings voraussetzt, daß man wie Schwitters jeden Text und jede Textsorte als verwendbares Material und die Typographie als zusätzlich syntaktisches Mittel auffaßt. [...] In diesem AUGENblick KAM der Generalfeldmarschall heran.Ebenfalls in der Zeitschrift "Der Sturm" veröffentlicht ist "Nennen Sie es Ausschlachtung", ein Text, der in verschiedenen Schichten gelesen werden muß, die z.T. aber ineinander übergehen, was sich aus der Mehrdeutigkeit des Wortes ausschlachten bzw. Ausschlachtung erklärt. Denn ausschlachten heißt 1. die Eingeweide aus einem geschlachteten Tier herausnehmen, Keine dieser Lesarten ist interpretatorisch auszuschließen. Denn zu der ersten Lesart ließen sich die "Merzgedichte 8 [und] 9" zuziehen, deren ersteres beginnt: Es war ein sehr begebenswürdiger Tag, an dem ich geschlachtet werden sollte (50), während im zweiten Ein Mensch [...] die Hinrichtung Anna Blumes verlangt (51). Die zweite Lesart würde besagen, daß aus dem im Ganzen unbrauchbar gewordenen Anna-Blume-Entwurf die noch brauchbaren sprachlichen oder graphischen Formulierungen für einen weiteren Gebrauch in Text- und Bildcollagen ausgebaut werden können. Die dritte Lesart wäre schließlich beziehbar auf eine Nutzung Anna Blumes z.B. für Werbezwecke. Keine dieser Verständnismöglichkeiten ist auszuschließen, so daß sich als eine vierte Lesart eine individuelle Kombination der Möglichkeiten 1 bis 3 ergibt. Anna Blume ist die Stimmung, direkt vor und direkt nach dem Zubettgehen.Damit bliebe als letzter noch zu behandelnder Text das Widmungsgedicht, von dem der Exkurs ausging: "An Anna Blume". Von ihm sind drei Fassungen bekannt geworden. Die Erstfassung, die aber erst im März 1922 in der Zeitschrift "Der Sturm" publiziert wurde (53). Zweitens eine Fassung, die Schwitters in einem seiner letzten Briefe aus England dem Bruder in Anna, Christof Spengemann, mitteilt, mit dem Hinweis, ich habe es so geschrieben, wie es gedruckt werden sollte (54). Dieser Hinweis ist nicht eindeutig. Er kann bedeuten, daß dies die zukünftig verbindliche Druckanordnung sein soll, aber auch, daß dies die ursprünglich vorgesehene Fassung für den Druck war, von der dann der Erstdruck (und damit die dritte Fassung) abweichen würde, die allein Wirkungsgeschichte machte, bei den Lesern, bei den Kritikern und seit Anfang der 60er Jahre auch bei Kunst- und Literaturwissenschaftlern. Letzteren ging es vor allem um zwei Fragen, um die Frage nach der Identität Anna Blumes und/oder um die Frage, wie der Text zu bewerten sei. Dabei kam jeder der Interpreten zu anderen Ergebnissen. George Hugnet sah in Anna Blume die deutsche Frau schlechthin (55), Armin Arnold dagegen nichts anderes als eine Artistin, die auf Händen gehen kann, und in dem sprechenden Ich des Gedichtes einen der deutschen Sprache nicht mächtigen, geistig beschränkten Kulissenschieber [...] , (der vielleicht Franz Müller heißt)" (56). Für Bernd Scheffer ist Anna Blume durchaus in der Lage, ein ziemlich unbeschriebenes Blatt experimenteller Literatur mit ihren Möglichkeiten als Nonsens-Figur auszufüllen (57), während sie für Ernst Nündel eine erfundene, eine Kunstfigur darstellt, für die das Gedicht jenseits (oder unterhalb) aller Sinnlosigkeit eine Liebeserklärung (58) sei. Die Frage, wieweit es sich um ein Liebesgedicht handle, hat auch andere Autoren beschäftigt. Als wirkliches Liebesgedicht [...], in dem Grammantik und Vokabular nicht bloß deshalb durcheinandergeraten, weil es der Dadaismus, sondern weil es die - gespielte - Liebestrunkenheit so will, bewertet es Werner Schmalenbach (59), als ein ins Groteske parodiertes Liebes-gedicht Erwin Rotermund, wobei er einige für das traditionelle Liebesgedicht typische Stilfiguren erkennt, den Liebespreis, das Spiel mit dem Namen und die Frage nach dem Wesen (60). Als Parodie auf die Sturm-Lyrik speziell August Stramms liest es Friedrich Lach (61), als Satire Bernd Kolf (62). Von einer konstruktiven Spannung zwischen Nonsens und Plausibilität spricht wiederum Scheffer (63), während Philip Thomson das eigentlich innere Muster des Gedichts in der Ambivalenz zwischen sprachlicher und Inhaltsebene ortet (64). Schließlich versteht Alfred Liede den Text als Ausdruck moderner literarischer Freude am Unsinn, aber auch als "Sinnbild schöpferischer Schwäche (65). Die Zahl der nicht einmal vollständig aufgeführten Interpretationen signalisiert das steigende Interesse der Literaturwissenschaft an diesem Gedicht, die unterschiedlichen Ergebnisse sprechen von seiner Vieldeutigkeit, aber auch den Schwierigkeiten, die es offensichtlich bereitet. Zwei Fragen sind dabei vor jeder Interpretation von Interesse, die Frage nach dem Anlaß und die Frage nach dem genauen Entstehungsdatum. Mit Sicherheit ist Anna Blume zunächst eine Bildeinschrift gewesen, ausgelöst durch ein Graffito. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat Christof Spengemann, als er das Widmungsgedicht "Der Künstler" schrieb, eines oder mehrere solcher Bilder gekannt, nicht aber das Gedicht. Erschienen ist das Gedicht in der August-Nummer des "Sturm", also nach der provozierenden Ausstellung der MERZ- Bilder. Das schränkt die Entstehungszeit ein auf eine Zeit von Ende Juni bis Anfang August und legt nahe, was Armin Arnold, jedoch ohne jeden Nachweis behauptet: daß das Gedicht als eine Antwort auf und eine Veruzung von denjenigen Kritikern gemeint war, die sich über das Bild 'Konstruktion' geärgert hatten" (66). Das könnte, muß aber nicht so sein. Das Gedicht könnte eine Antwort sein, weil es in derselben August-Nummer erschien, in der auch mit "Tran 1" die Replik Schwitters' auf den Ausstellungsverriß von Cohn-Wiener publiziert wurde. Allerdings müßte dann sehr bald nach der ersten die dort publizierte zweite Fassung entstanden sein, die gegenüber der ersten ein deutliches Bemühen um Verbesserung erkennen läßt. Da bereits "Tran 1" eine Veruzung des / der Kritiker seiner MERZ-Malerei ist, "Anna Blume" sich andererseits im Sprachduktus eindeutig von dieser Veruzung abhebt, hat das Gedicht eher eine gegenteilige Funktion, der Titel "Merzgedicht 1" durchaus progammatischen Charakter, gibt er doch zu erkennen, daß es sich hier um ein nach Prinzipien der MERZ-Kunst gestaltetes Gedicht handelt. Die Prinzipien seiner MERZ-Kunst hat Schwitters in den Jahren 1919 bis 1921 mehrfach formuliert, so 1919 für die MERZ-Malerei: Das Wort Merz bedeutet wesentlich die Zusammenfassung aller erdenklichen Materialien für künstlerische Zwecke und technisch die prinzipiell gleiche Wertung der einzelnen Materialien (67). Oder, gleichfalls 1919, im "Selbstbestimmungsrecht der Künstler": Die Merzdichtung ist abstrakt. Sie verwendet analog der Merzmalerei als gegebene Teile fertige Sätze aus Zeitungen, Plakaten, Katalogen, Gesprächen usw., mit und ohne Abänderungen. [...] Diese Teile brauchen nicht zum Sinn zu passen, denn es gibt keinen Sinn mehr. [...], es gibt nur noch Teile des Gedichtes. [...] Bestimmt es selbst, was Gedicht und was Rahmen ist. Anna Blume verdanke ich viel (68). Schließlich, ebenfalls noch 1919: Elemente der Dichtkunst sind Buchstaben, Silben, Worte, Sätze. Durch Werten der Elemente gegeneinander entsteht die Poesie. Der Sinn ist nur wesentlich, wenn er auch als Faktor gewertet wird. Ich werte Sinn gegen Unsinn. Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, daß er bislang so selten künstlerisch geformt wurde, deshalb liebe ich Unsinn (69). Man darf Schwitters hier durchaus beim Wort nehmen, muß aber seine etwas vertrackte Art, zu formulieren, in Rechnung stellen. Danach enthält ein MERZ-Gedicht keine dem traditionellen Gedicht entsprechende Aussage, es ist vielmehr, wie er an anderer Stelle sagt, Ausdruck, Übertragung der Weltanschauung des Künstlers. Wie in der Collage kann sich dabei der Künstler aller erdenklichen Materialien, der Sprache in all ihren Erscheinungsformen bedienen, indem er diese nicht in einen Kausalnexus bringt, sondern gegeneinander in Beziehung setzt. Dabei ist Sinn ein Element unter anderen, desgleichen der Unsinn. Daß die einzelnen Teile des Gedichts nicht zum Sinn passen brauchen, weil es keinen Sinn mehr gebe, deutet in diesem Zusammenhang erstens auf den Sinnverlust der Welt, weshalb in einem Kunstwerk auch kein Sinn mehr vorgespiegelt werden muß. Ich pfeife, reimt dies Schwitters an anderer Stelle, auf die Ideale, / Ich fraß den Apfel mit der Schale (70). Zweitens bedeutet es analog zu einem weiteren Diktum, nach dem wir den Begriff der 'Kunst' erst los werden müssen, um zur 'Kunst' zu gelangen (71), daß erst der traditionell postulierte Sinn gründlich dispensiert werden muß, wenn nötig durch Unsinn, bevor es möglich wird, zu einem neuen Sinn vorzustoßen. Was in Schwitters' Collagen die Komposition der verwendeten Materialien, der Fundstücke einer sinnlos gewordenen Welt ist, ist in den MERZ-Texten das Werten der Elemente gegeneinander. So erweist sich denn auch das "Merzgedicht 1" bei näherem Hinsehen als auffällig geordnet in einen Anruf der Geliebten, der variiert das ganze Gedicht gliedert, und in drei Charakterisierungen Anna Blumes. Beides, Anruf und Charakterisierung, sind untereinander semantisch verknüpft. Den siebenundzwanzig Sinnen entspricht das ungezählte Frauenzimmer; die roten Kleider werden in Rot liebe ich Anna Blume wieder aufgenommen und in Rote Blume, rote Anna Blume weitergeführt; dem grünen Vogel entspricht das grüne Tier, das sich als Rinder(talg) konkretisiert. Von Dein Name tropft wie weiches Rindertalg und du [...] grünes Tier" schlägt sich schließlich die Brücke zu du tropfes Tier. Zu dieser semantisch partiell durchaus sinnvollen, ingesamt freilich unsinnigen Verknüpfung tritt deutlich eine Dreigliederung des Textes: genau ins Zentrum gerückt ist die Preisfrage, dreimal wird Anna Blume angerufen, dreimal erfahren wir etwas von dem, was sie auszeichnet. Die Liebeserklärung im letzten schlägt den Bogen zurück zum Anruf im ersten Vers: Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir.Auffällig sind die ersten 6 Teile des Gedichts jeweils durch eine Frage bestimmt: durch ein infrage gestelltes Wir? Im Anschluß an die einzelnen Anrufungen, durch Fragen, die Anna Blume betreffen jeweils zu Beginn bzw. fast zu Beginn der beschreibenden Teile: Wer bist du, ungezähltes Frauenzimmer?Während diesen drei Fragen jeweils Antworten folgen, bleibt die allen Anrufungen folgende Frage Wir?" zunächst auffällig unbeanwortet: Das gehört (beiläufig) nicht hierher.Die Beiläufigkeit betont sich in der Wiederholung. Dem Bogenschlag vom ersten zum letzten Vers eingeschlossen ist derart eine Art Antiklimax oder Klimax von nicht hierher über kalte Glut zu Glutenkiste. Als Oxymeron gelesen, steht kalte Glut für Asche, Glutenkiste könnte dann den Aschenkasten bezeichnen. Das Wort ist weder im Grimmschen Wörterbuch noch in anderen Idiotika belegt, möglicherweise eine Wortschöpfung Schwitters'. Sollte Glutenkiste dagegen für Gluthafen, Glutkessel stehen, also ein Behälter mit glühenden Kohlen zum Warmhalten gemeint sein, wäre die kalte Glut möglicherweise als Glutasche zu lesen. Zahlreiche Sprichwörter bezeugen die Nähe von Asche und Glut, z.B. von der Aschen in die Glut. Dem entspräche dann im Gedicht der Schritt von der kalten Glut zur Glutenkiste. Obwohl keine eindeutige Lesung möglich scheint, möchte ich die Antiklimax mit ihrer Vanitas-Allusion ausschliessen, mich vielmehr für die Klimax entscheiden mit Hinweis auf die brieflich Spengemann mitgeteile Druckanordnung und Fassung: Denn in ihr hebt ein Gedankenstrich die Glutenkiste besonders hervor. Darf man so lesen, ordnet sich dieser Klimax der Schritt von der Emphase (Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne) über die (volkstümliche) Farbsymbolik (Rot liebe ich Anna Blume) zum schlichten Mädchen im Alltagskleid gegenläufig zu. Mit anderen Worten: der Abnahme der Emphase entspricht eine Zunahme an Hinwendung. Da man dies auch als Antwort auf das gefragte Wir? verstehen darf, tritt Gemeinsamkeit offensichtlich erst auf dem Niveau der Schlichtheit ein. Leichter hat es der Leser mit den Besonderheiten Anna Blumes, da sie jeweils um einen zentralen Punkt kreisen. Auf die Frage Wer bist du? wird zunächst die Welt Anna Blumes der Welt der Leute kontrastiert als eine Welt, in der die Kirchtürme anders stehen, die Menschen auf den Händen gehen und den Hut auf den Füßen tragen. Es ist dies eine Welt der Phantastik, in der alles und auch sein Gegenteil möglich sind. Auf dem Umschlag der Gedichtsammlung "Anna Blume", schreibt Schwitters in "Merz", sei eine Windmühle, ein Kopf, eine rückfahrende Lokomotive und ein Mann gezeichnet, der in der Luft hängt. Das bedeutet weiter nichts, als daß in der Welt, in der Anna Blume lebt, [...] Menschen auf dem Kopf gehen, Windmühlen sich drehen und Lokomotiven rückwärts fahren (72). Bei der zweiten Einkreisung geht es um die Anna Blume zugehörenden Farben. In der Welt der Leute wäre ein Zersägen von roten Kleidern in weiße Falten nicht vorstellbar. In ihr hat alles seine Ordnung, klassifiziert rot die Blume oder bezeichnet die politische Position von Anna Blume. In einer derart auf Eindeutigkeit ausgerichteten Welt kann auch die Preisfrage nach der Farbe von Anna Blumes Vogel nur mit rot beantwortet werden. Schwitters spielt hier mit dem sogenannten Barbara-Schluß (aus MaP und SaM folgt SaP), um anschließend eine solche Logik außer Kraft zu setzen. Denn Anna Blumes gelbe Haare sind blau, das Girren ihres grünen Vogel[s] rot. Sie lebt in einer Welt der Komplementärfarben (Gelb-Blau, Rot-Grün) mit der Möglichkeit ihrer spielerischen Verbindungen zu Grün (aus Blau und Gelb), zu Farbklängen (Rot ist das Girren) - in der Welt der (alogischen) Kunst mit ihren eigenen Gesetzen. Bei der dritten Einkreisung geht es um den Vornamen Anna. Man kann ihn träufeln, d.h. buchstabieren; er tropft wie weiches Rindertalg, also wie eine Kerze. So ist nicht mehr nur Anna Gegenstand, sondern auch die Buchstaben ihres Namens sind jetzt im Sinne der Schwitterschen Definition, Elemente des Gedichts, ebenso, wie in den Anrufungen die Deklimationsformen. Gleichzeitig erfährt der Text, nachdem zuvor schon das schlichte Mädchen im Alltagskleid und die Glutenkiste in Zusammenhang traten, eine eindeutig erotische Färbung, wenn dem Man kann dich auch von hinten lesen ein du bist von hinten wie von vorne folgt. Doch beseitigt Schwitters ein mögliches Mißverständnis Annas als sexuellen Objekts sogleich wieder durch ihren im folgenden buchstabierten Namen, bleibt es schlielich mit streicheln beim Gestus der Zärtlichkeit. Liebende schreiben einander gerne Worte, Zärtlichkeiten auf den Rücken, die der andere dann raten muß. Die vorletzte Zeile des Gedichts ist grammatisch nicht ganz eindeutig, wenn man streicheln als Infinitiv liest. Als substantivierter Infinitiv gelesen, ergibt sie dagegen durchaus Sinn: Rindertalg träufelt (das) Streicheln über meinen Rücken. Daß Schwitters diese Zeile so gelesen haben wollte, belegt die Spengemann schriftlich mitgeteilte Fassung, die hier eindeutig schreibt: Rindertalg träufelt .STREICHELN. über meinen Rücken (73). Der letzte Vers schließlich, in den das alles hineinmündet, dessen Aussage sich im Vorangehenden Schritt für Schritt begründet hat, ist, so lapidar er dort steht, dennoch nicht ohne Doppelsinn, wenn er Anna Blume als tropfes Tier qualifiziert. Ein Adjektiv tropf gibt es in der deutschen Hochsprache und auch in ihren Dialekten nicht. Das Vorangegangene legt nahe, es als Partizip zu tropfen, also im Sinne von tropfendes Tier zu lesen, was einen erotischen Hintersinn ergäbe. Eine zweite Möglichkeit wäre, es vom Substantiv Tropf abzuleiten, also im Sinne von geistig beschränkt, einfältig, oder, wie das Grimmsche Wörterbuch auch schreibt: im bedauernden sinne als ausdruck gutmütiger oder ironischer anteilnahme. Keine dieser Möglichkeiten kann ausgeschlossen werden, beide machen interpretatorisch Sinn. Die erste, wenn man "An Anna Blume" als Liebesgedicht liest. Die zweite, wenn man Anna Blume als schlichte Frau begreift, worauf manches im Text hinweist, nicht zuletzt ihre Benennung als Tier (74). Diese Offenheit des Textes legt nahe, abschließend zu fragen, wie weit "An Anna Blume" ein Liebesgedicht ist, und, was Schwitters mit seiner Anna Blume im Sinn hatte. Trotz der Denunziation der Gefühle durch ironische Ungereimtheit wertete Nündel, wie zitiert, das Gedicht als Liebeserklärung - an eine erfundene, eine Kunstfigur. Als wirkliches Liebesgedicht [...], in dem Grammatik und Vokabular nicht bloß deshalb durcheinandergeraten, weil es der Dadaismus, sondern weil es die - gespielte - Liebestrunkenheit so will, las es Schmalenbach, als ein ins Groteske parodiertes Liebesgedicht Rotermund, wobei er einige für das tradierte Liebesgedicht typische Stilfiguren erkannte, den hyperbolischen Liebespreis, das Spiel mit dem Namen, die Frage nach dem Wesen, den Preis des Äußeren und die Verschweigung des Intimen. Doch wären dies allenfalls - im Sinne Schwitters' - gewertete Elemente, vermerzte Materialien unter anderen. Zu ihnen treten versteckte sprachliche Anspielungen auf literarische Vorbilder: Du bist wie eine Blume; Ergib dich meiner Liebesglut (Heine); Er, der Herrlichste von allen (Chamisso). Aus Weißt du es, Anna, weißt du es schon will Helmut Heißenbüttel einen fernen Anklang an "Mignons Lied" heraushören (Kennst du das Land [...], kennst du es wohl?). Schwitters greift sogar die Verssprache der "Psalmen", des "Hohen Liedes" auf, indem er einzelne Verse seines niederen Liedes rhythmisch zweiteilt, Gedanken bei syntaktischem Gleichlauf parallel oder antithetisch führt: Du trägst den Hut auf deinen Füßen und wanderst auf die Hände, auf den Händen wanderst du; Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich dir; ich träufle deinen Namen. Dein Name tropft wie weiches Rindertalg; Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du Herrlichste von allen, du bist von hinten wie von vorne: 'a-n-n-a'. [Zum Vergleich zwei Verse aus dem "Hohen Lied": Deine Lippen [...] sind wie triefender Honigseim; Honig und Milch ist unter deiner Zunge (4,11); [...] daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen, noch die Ströme sie ertränken (8,7)]. So wenig es also eine Frage ist, daß Schwitters im Sinne seiner Theorie eine ganze Tradition von Liebesgedichten vermerzt, so wenig will sein Gegenstand zu dieser Tradition passen, so dissonant stehen zu dieser Tradition die umgangssprachlichen Wendungen, falsche Grammatik und der triviale Anlaß. Zwar ließe sich argumentieren, daß hier, ähnlich wie im Falle des Ausgangsbildes ("Das Kreuz des Erlösers"), sich das Hohe (die Tradition der Liebeslyrik) dem Niedrigen an die Seite stellt, das Niedrige zum Hohen gerückt wird. Aber das reicht als Erklärung nicht aus. Der Anlaß dieses ersten MERZ-Gedichtes, dem später viel radikalere folgen sollten, war die Kritik an den Merzbildern, war die Kritik an einer Einschrift, die Schwitters als Graffito gefunden und als Element seinen Arbeiten eingefügt hatte. Die von der Kritik gestellte Frage, wer denn Anna Blume sei, provozierte Schwitters zu einer Antwort, die er primär sich selbst, und erst in zweiter Linie den Kritikern gab. Seine Antwort war eine Liebeserklärung an eine Unbekannte, eine Huldigung. Das Huldigungsgedicht (etwa des Barock) ist prunkvoll rhetorisch in der Sprache, verwendet mythologischen Bildschmuck, allegorische Einkleidungen und ein traditionelles Arsenal von Lob-, Schmerz-, Freudentopoi. Das ist bei dem "Merzgedicht 1" so nicht zu finden. Aber auf einem anderen Niveau funktioniert der Einbezug, das Einmerzen der traditionellen Liebeslyrik, die Komposition des Aufbaus, das Spiel mit Grammatik und den Buchstaben in ähnlicher Weise. Die Muse der MERZ-Kunst ist eine nur schlichte Muse. In ihrer Schlichtheit, in falscher Grammatik entspricht sie den Abfällen des Alltags, aus denen Schwitters seine MERZ-Bilder gestaltete, entspricht sie den Scherben einer sinnlos gewordenen Welt, die Schwitters noch einmal überraschend zusammenzufügen versuchte. Indem er Anna Blume zur Muse dieser MERZ-Kunst erhob, schuf er mit ihr zugleich einen Trivialmythos, dessen Götterdämmerung in dem Augenblick anbrach, indem sich seine Kunst zu wandeln begann. So war, im Paradox, der Trivialmythos Anna Blume endlich. Als Muse aber blieb sie so unsterblich wie die Kunst, deren Wasserzeichen sie wurde. [Ursprünglich u.d.T. "Kurt Schwitters: An Anna Blume" Vortrag vor der Mittwochgesellschaft der Universität Stuttgart, 2.11.1988. Druck in: Die deutsche Literatur. Bd 32. In memoriam Shintani Hirotaka. Osaka: Gesellschaft für Germanistik, Kansai Universität 1988, S. 1-40. [Anmerkungen werden nachgestellt] |
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