Mary: Jack! Jack, was ist denn geschehen?
Jack: Die Lampen sind ausgegangen. (2)
1. Stimme: Verdammt, jetzt ist das Licht ausgegangen. (3)
Akustische Poesie und Rundfunk
Während 1924 die europäische Hörspielgeschichte mit zunächst einer
Flut von Sensations- und Katastrophenhörspielen derart im Dunkeln begann,
veröffentlichte Kurt Schwitters in Hans Richters "Zeitschrift für elementare
Gestaltung" seine radikalen Thesen für eine "Konsequente Dichtung".
"Klangdichtung", lesen wir dort, sei nur dann "konsequent, wenn sie
gleichzeitig beim künstlerischen
Vortrag" entstehe "und nicht geschrieben" werde. Dabei sei es "gleichgültig,
ob" das "Material Dichtung ist oder nicht". Man könne "das Alphabet"
durchaus "so vortragen, daß das Resultat Kunstwerk" werde.
Da "nicht das Wort [...] sondern der Buchstabe" das ursprüngliche Material
der Dichtung" sei, sei "konsequente Dichtung [...] aus Buchstaben gebaut.
Buchstaben haben keinen Begriff, Buchstaben haben an sich keinen Klang,
sie geben nur Möglichkeiten, zum Klanglichen gewertet [zu, R.D.] zu
werden durch den Vortragenden. Das konsequente Gedicht wertet Buchstaben
und Buchstabengruppen gegeneinander". (4)
Und während Richard Kolb 1932 sein geschichtlich folgenreiches "Horoskop
des Hörspiels" stellte, dem Hörspiel "das Immaterielle, das Überpersönliche,
das Seelische" anempfahl und den Hörspielautor beauftragte, "uns mehr
die Bewegung im Menschen als die Menschen in Bewegung zu zeigen", (5)
wurde im Stuttgarter Sender eine Lesung von Kurt Schwitters aufgezeichnet
(6), die neben dem bekannteren Gedicht "An Anna Blume" auch einen Ausschnitt
der "Sonate in Urlauten" umfaßte und damit ein exemplarisches Beispiel
jener "konsequenten Dichtung", die er 1924 gefordert hatte.
Berührt diese Schwitters-Lesung die Hörspielgeschichte zunächst nur
am Rande, aus dem historischen Abstand und in der Einschätzung des Rundfunks
als akustischen Verlegers (7) ist sie ein Grenzfall, ist spätestens
mit der "Sonate in Urlauten" eine Annäherung gegeben zwischen einer
auf merkwürdige Weise außerhalb und unabhängig vom Rundfunk entwickelten
akustischen oder Lautpoesie und spezifischen Möglichkeiten akustischen
Spiels, an die z.B. Hans Flesch theoretisch gedacht, die Walter Ruttmann
aus der Erfahrung des Filmemachers 1930 mit der Tonmontage "Weekend"
praktisch erprobt hatte.
Man hat bisher die Geschichte der akustischen oder Lautpoesie als einer
Alternative zur visuellen Poesie zumeist ohne besondere Berücksichtigung
ihrer Medien zu schreiben versucht und dabei zu wenig die Rolle beachtet,
die bei ihrer Entwicklung der Schallplatte, dem Tonband und - in Grenzen
- dem Rundfunk zukommt. (8) Auf der anderen Seite hat der Rundfunk bis
heute merkwürdigerweise an der Entwicklung dieser Literatur wenig praktisches
Interesse gezeigt, sich seiner Aufgabe der Aufbereitung im Studio, der
Bereitstellung zur öffentlichen Diskussion lange entzogen.
Sein Interesse war, falls überhaupt vorhanden, eher zufällig und ähnlich
kurzfristig, bald sogar abwehrend, wie im Falle der konkreten, der elektronischen
Musik, deren Emanzipation weitgehend außerhalb der Funkhäuser stattfand,
obwohl die ursprüngliche Entwicklung direkt an den Rundfunk gebunden
war. So wurde 1953 elektronische Musik in einem eigens dafür vom Westdeutschen
Rundfunk in Zusammenarbeit mit dem Bonner Universitätsinstitut für Phonetik
und Kommunikationsforschung eingerichteten Studio erprobt, ohne zunächst
daran zu denken, "eine neuartige, rundfunkeigene kompositorische Kunst
ins Leben zu rufen. Man gab sich nur mit der Erzeugung und Montage besonderer
Effekte für Wortsendungen ab, die außerhalb des Bereiches der traditionellen
Instrumente und Aufnahmetechniken lagen." (9)
Was dies dennoch hörspielgeschichtlich bedeutete, kann ein kleiner
Vergleich andeuten. Bertolt Brechts auf den Baden-Badener Musikfestspielen
1929 erstaufgeführter "Lindberghflug" versuchte in einem Wechselspiel
von Text und den Musiken von Paul Hindemith und Kurt Weill auch eine
Lösung dessen, was man damals im Bemühen um eine rundfunkeigene Kunst
"Hörspiel mit Musik" nannte.
Blieben aber in seinem Fall, selbst bei stärkerem Musikeinsatz, die
Stimmen z.B. des Nebels, des Schneesturms, des Schlafs immer noch verständlich,
kamen jetzt bei einer das gleiche Thema behandelnden Hörfolge "Gegen
den Dezembersturm" elektronische Klänge ins Spiel, wurden "menschliche
Stimmen mit Hilfe eines elektronischen 'Verzerrers'" derart verändert,
"daß sie aus dem Telefonhörer zu kommen schienen", um "sie dann mit
Sinustönen zu modulieren". Daß dabei "der Sinn der Worte [...] zwangsweise
verloren" ging, wurde in Kauf genommen, da der Hörer noch hinreichend
erkannte, "daß es sich um ein sprechendes Organ handelte, um das Organ
hinter dem Rücken des Fliegers auftauchender und wieder verschwindender
Phantome". (10)
Einen Schritt weiter belegte das 1954 im Mailänder "Studio di Fonologia
Musicale" entstandene, retrospektiv Luigi Russolos "Risveglio di una
Città" von 1913 durchaus vergleichbare radiophone Bild der Stadt Mailand,
"Ritratto di Città", in welchem Maße konkrete und elektronische Geräusche
und Klänge mit Worten eine fruchtbare Verbindung eingehen können:
"Elektronische Komplexe, aus dem Leben kopierte Alltagsgeräusche in
denaturierter Form, Filterklänge und der Text des Sprechers mischten
sich zu einer eigenartigen und immer noch eindrucksvollen Reportage,
die oftmals die lyrische Qualität wirklicher Dichtung erreicht." (11)
Vorgeschichte und Spurensicherung
Die Vorgeschichte einer solchen "Radiophonie" (Prieberg verwendet den
Begriff ohne Nachweis) reicht bis in eine noch radiolose Zeit zurück
und könnte 1918 mit einem kleinen Essay Guillaume Apollinaires, "L'Esprit
nouveau et les Poètes", beginnen, einem überarbeiteten Vortrag, den
man auch als "Testament" Apollinaires verstanden hat.
Diese frühe Spur wäre einmal der Prospekt einer ästhetischen
Entwicklung zur Synthese der Künste (12). Diese frühe Spur wäre zweitens
die Einsicht, daß künstlerische Produktion in einem zunehmenden Maße
in Konkurrenz zu den Medien "cinéma" und "phonographe" treten werde.
"Es wäre sonderbar gewesen, wenn die Dichter in einer Zeit, da die
Volkskunst schlechthin, das Kino, ein Bilderbuch ist, nicht versucht
hätten, für die nachdenklicheren und feineren Geister, die sich keineswegs
mit den groben Vorstellungen der Filmproduzenten zufriedengeben, Bilder
zu komponieren. Jene Vorstellungen werden sich verfeinern, und schon
kann man den Tag voraussehen, an dem die Dichter, da Phonograph und
Kino die einzigen gebräuchlichen Ausdrucksformen geworden sind, eine
bislang unbekannte Freiheit genießen werden. Man wundere sich daher
nicht, wenn sie sich, mit den einzigen Mitteln, über die sie noch verfügen,
auf diese neue Kunst vorzubereiten suchen, die viel umfassender ist
als die einfache Kunst der Worte und bei der sie als Dirigenten eines
Orchesters von unerhörter Spannweite die ganze Welt, ihre Geräusch-
und Erscheinungsformen, das Denken und die Sprache des Menschen, den
Gesang, den Tanz, alle Künste und alle Künstlichkeiten und mehr Spiegelungen,
als die Fee Morgana auf dem Berge Dschebel hervorzuzaubern wußte, zu
ihrer Verfügung haben werden, um das sichtbare und hörbare Buch der
Zukunft zu erschaffen." (13)
Eine zweite wichtige Spur, die sich vor diesem Hintergrund seit
spätestens den italienischen Futuristen, den Zürcher Dadaisten verfolgen
läßt und in der "Sonate in Urlauten" ihren ersten Höhepunkt erfährt,
ist die Geschichte des Lautgedichtes, der akustischen Poesie. Sie entwickelte
sich aus einer Opposition zur traditionellen Lyrik mit ihren Formen
und Inhalten, in einer radikalen Reduktion auf das Alphabet als ein
Ensemble von Lautzeichen und akustischen Bausteinen.
Dichtung, sagt Raoul Hausmann, sei "gewollte Auflösung geworden" und
bediene sich "der Buchstaben des Alphabets, dem letzten Phänomen rein
menschlicher Klangform". Doch sei das nicht destruktiv, als "haltloses
Gestammel anarchistischer Ungehemmtheit" zu verstehen, vielmehr handele
es sich bei den Lautgedichten "sehr oft um Wortballungen, die aus der
Epimneme verschiedener Sprachen ins Bewußtsein steigen. Wenn wir die
vielfachen Möglichkeiten, die uns unsere Stimme bietet, aufzeichnen,
die Unterschiede der Klänge, die wir unter Anwendung der zahlreichen
Techniken der Atmung hervorbringen, der Stellung der Zunge im Gaumen,
der Öffnung des Kehlkopfes oder der Spannung der Stimmbänder, kommen
wir zu neuen Anschauungen dessen, was man Wille zur schöpferischen Klangform
nennen kann." (14)
Während der den Dadaismus ablösende Surrealismus in Frankreich andere
Tendenzen der Kunst- und Literaturrevolution aufgriff und fortentwickelte,
schien die Entwicklung der akustischen Poesie zeitweise zu stagnieren,
glaubte man sogar schon ihr Ende gekommen. Da griff Isidor lsou 1945
noch einmal den Gedanken einer "évolution du materiel poetique" auf
und radikalisierte zugleich den dadaistischen Ansatz, indem er einerseits
erklärte, "die Zentralidee des Lettrismus" gehe "davon aus, daß es im
Geiste nichts" gebe, "was nicht Buchstabe ist oder Buchstabe werden
kann", (15) und entsprechend andererseits das traditionelle Alphabet
um neunzehn neue Buchstaben wie Einatmen, Ausatmen, Lispeln, Röcheln,
Grunzen, Seufzen, Schnarchen, Rülpsen, Husten, Niesen, Küssen, Pfeifen
usw. vermehrte. (16)
Eine dritte komplexe Spur findet sich in der Nachfolge Apollinaires,
1928 in dem zu Unrecht vergessenen "Poetismus" Karel Teiges, und zwar
im Entwurf einer "Radiopoesie" innerhalb des Versuchs einer auf die
Sinne bezogenen Neuklassifizierung der Dichtung. Für Teige ergeben sich
dabei als neue Kategorien eine "Poesie fürs Sehen", eine "Poesie fürs
Hören", Poesien "fürs Riechen", "für den Geschmack", "für den Tastsinn",
eine "Poesie der intersensoriellen Äquivalenzen", "der körperlichen
und räumlichen Sinne" und schließlich eine "Poesie des Sinns fürs Komische".
Die hier ausschließlich interessierende "Poesie fürs Hören" umfaßt
nach Teige als Untergattungen die "Lärmmusik", den "Jazz" und die "Radiogenie",
für die er auch die Bezeichnungen "Radiotelephonie", "radiogene Poesie"
oder "Radiopoesie" verwendet.
"Das Gehör, dieser zweite de facto und de jure ästhetisch anerkannte
Sinn weist in der zeitgenössischen Psyche ein viel schwächeres Potential
auf als die übrigen sogenannten außerästhetischen Sinne wie der Tastsinn,
Geruchssinn u.a. Man kann jedoch erwarten, daß er unter dem Einfluß
der Radiothelephonie rehabilitiert wird. Der heutige Rundfunk ist allerdings
in dem Stadium, in dem bis unlängst der Film war: er ist reproduktiv,
dolmetschend. Aber uns geht es darum, uns der Radiotelephonie als eines
produktiven Elements zu bemächtigen. Wie man mit dem Film Gedichte realisieren
kann, die aus Licht- und Bewegungsgeschehen komponiert sind, so schafft
man eine radiogene Poesie als neue Kunst von Tönen und Geräuschen, die
gleichermaßen von der Literatur, Rezitation entfernt ist wie von der
Musik. [...] Der Poetismus erfindet eine neue radiogene Poesie [...],
deren Auditorium der Weltraum und deren Publikum die internationalen
Massen sind. Die Radiopoesie, auditiv, raumfrei, hat breite lebendige
Möglichkeiten. Die bisher realisierten radiophonischen Dramen sind auditives
Theater ungefähr so, wie viele Filme optisch verdolmetschtes Theater
sind. So wie die reine Kinographie und photogene Poesie, so müssen auch
die radiophonischen und radiogenen Gedichte nur mit elementaren Mitteln
arbeiten (dort mit Licht und Bewegung, hier mit Ton und Lärm) und sich
von der literarischen und theatralischen Eigenschaft lösen. Die radiogene
Poesie als Komposition von Klang und Geräusch, in der Wirklichkeit aufgezeichnet,
aber zu einer dichterischen Synthese verwoben, hat nichts gemeinsam
mit der Musik oder der Rezitation, oder mit der Literatur oder auch
mit der Verlaineschen Wortklangmalerei. Es ist ebenfalls eine Poesie
ohne Worte und keine literarische Kunst. Zur Musik steht sie dann im
selben Verhältnis wie der Film zur Malerei. Das erste Radioszenarium
Mobilisation, das Nezval komponiert hat, zeigt konkret die Möglichkeiten
einer solchen radiophonen Poesie." (17)
Wie richtig Teige hier vorausüberlegt hatte, wird schnell einsichtig,
wenn man seine Definition der "Radiopoesie" als ,"Komposition von Klang
und Geräusch, in der Wirklichkeit aufgezeichnet, aber zu einer dichterischen
Synthese verwoben", mit der Formulierung vergleicht, die Prieberg seiner
Beschreibung des Mailänder Experiments "Ritratto di Città" gibt: "Elektronische
Komplexe, aus dem Leben kopierte Alltagsgeräusche in denaturierter Form,
Filterklänge und der Text des Sprechers mischten sich zu einer eigenartigen
[...] Reportage, die oftmals die lyrische Qualität wirklicher Dichtung
erreichte." (18)
Die dabei für Teige nicht voraussehbaren "elektronischen Komplexe"
und "Filterklänge" führen zugleich auf eine vierte Spur, die
wir ebenfalls 1928, auf der Programmausschußsitzung der deutschen Rundfunkgesellschaften
in Wiesbaden aufnehmen können. Auf dieser Sitzung referierte der Frankfurter
Intendant Hans Flesch zur Frage der "Rundfunkmusik" und ließ sich dabei
auf ein Gedankenspiel über künftige Rundfunkkunst ein, in dem er als
Möglichkeit beschrieb,
"daß neben der Vermittlertätigkeit des Rundfunks auch ein eigener Kunstausdruck
im musikalischen Sinne zustande kommt. Wir können uns heute noch keinen
Begriff machen, wie diese noch ungeborene Schöpfung aussehen kann. Vielleicht
ist der Ausdruck "Musik" dafür gar nicht richtig. Vielleicht wird einmal
aus der Eigenart der elektrischen Schwingungen, aus ihrem Umwandlungsprozeß
in akustische Wellen etwas Neues geschaffen, das wohl mit Tönen, aber
nichts mit Musik zu tun hat; ebenso wie wir davon überzeugt sind, daß
das Hörspiel weder Theaterstück, noch Novelle, noch Epos, noch Lyrik
sein wird." (19)
Auf weitergehende Spekulationen mochte Flesch sich allerdings nicht
einlassen. Statt ihrer forderte er, "schöpferische Kräfte" enger an
den Rundfunk zu binden, "ihnen einen Anreiz" zu bieten, "sich mit unserem
Instrument zu befassen und zu versuchen, ihre Produktivität mit den
seltsamen Möglichkeiten elektrischer Wellenumwandlung künstlerisch in
Einklang zu bringen". (20)
Fleschs Forderungen, die in ihrer Konsequenz auf die Entwicklung einer
elektronischen Musik zielten, ließen sich in dieser Form noch nicht
einlösen, müssen aber in Erinnerung gebracht werden in einem gedanklichen
Umfeld, in dem schon zwei Jahre zuvor auf dem Kammermusikfest in Donaueschingen
vorgeschlagen wurde, Schallplatten nicht ausschließlich zur Wiedergabe,
sondern als Mittel zur Produktion von Musik zu benutzen, ein Vorschlag,
der seit 1928 in der Rundfunkversuchsstelle der Berliner Musikhochschule
praktisch angenommen wurde.
Um 1930 - und damit können wir eine fünfte und letzte Spur aufnehmen,
die zur konkreten Musik führen wird - experimentierten Paul Hindemith
und Ernst Toch mit instrumental verwendeten Grammophonen, indem sie
durch 'falsche' Geschwindigkeiten Tonhöhe und Klangbild veränderten
und aus solchen mechanischen Manipulationen und Überblendungen Kompositionen
entwickelten, so Toch eine vierstimmige "Fuge aus der Geographie", für
die er "vier Stimmen verschiedene Städtenamen in wechselndem Rhythmus
sprechen ließ und auf Platte schnitt, dann die Drehgeschwindigkeit variierte,
so daß sich die Sprache in einen seltsamen orchestralen Singsang verwandelte".
(21)
Pierre Schaeffer und der Club d'Essai
Sicherlich in Unkenntnis dieser und anderer Experimente, aber zunächst
durchaus vergleichbar, begann 1942 Pierre Schaeffer, der Vater der konkreten
Musik, mit Schallplatten des Archivs des Pariser Rundfunks zu spielen.
Allerdings bot ihm eine verbesserte Technik in Verbindung mit den Bearbeitungsmöglichkeiten
des Tonbands (Schnitt und Montage) bald ganz andere Möglichkeiten, vorgefundene
Geräusche zu denaturieren, um dann mit diesen denaturierten Geräuschen
und Klängen zu komponieren. Zwei seiner frühen Kompositionen seien hervorgehoben:
die "Etüde über Plattenteller" (Étude aux tourniquets), die schon durch
ihren Titel auf die Versuche Hindemiths und Tochs zurückverweist, und
die "Etüde über Eisenbahn" (Étude aux chemin de fer), auf die sich konkrete
Poeten nicht nur des akustischen Lagers immer wieder einmal berufen.
(22)
Dieser "Étude aux chemin de fer" gingen Aufnahmen von Eisenbahngeräuschen
auf dem Bahnhof von Batignolles voraus, deren Komposition ein Tagebucheintrag
vom 5. Mai 1948 folgendermaßen beschreibt:
"Acht Takte Anfahren. Accelerando für Solo-Lokomotive, dann Tutti der
Waggons. Rhythmen. Es sind sehr schöne dabei. Ich habe eine bestimmte
Zahl Leitmotive ausgewählt, die kettengleich montiert werden müssen,
im Kontrapunkt. Dann Langsamwerden und Stoppen. Kadenz der Kolbenstöße.
Da capo und Reprise der vorangegangenen Elemente, sehr heftig. Crescendo."
(23)
Ein halbes Jahr später sendet der französische Rundfunk ein erstes
kurzes, aus drei Etüden bestehendes "Concert des bruits", hörspielgeschichtlich
bedeutend wegen seiner Plazierung innerhalb des "Club d'Essai", einer
Fortsetzung des "Studio d'Essai" der Radiodiffusion Francaise, das Schaeffer
1942 gegründet hatte. Leiter dieses "Club d'Essai" war damals Jean Tardieu,
der allerdings weniger in dieser Eigenschaft als vielmehr als Autor
kurzer Theaterstücke und Hörspiele, als Erfinder des Professor Froeppel
(24) bekannt wurde.
1965 nach den "Zielen und Arbeitsmethoden" des "Club d'Essai" befragt,
antwortete Tardieu:
"Der 'Club d'Essai' wurde nach dem Kriege gegründet und setzte die
Arbeiten Schaeffers fort. Ich glaube, man muß Schaeffer dafür danken,
daß er als erster in Frankreich neue radiophonische Formen zu erarbeiten
suchte. Bevor ich bei der 0.R.T.F eintrat, gab es dort schon Freunde
von mir wie Queneau [...], die mich baten, etwas für den Rundfunk zu
schreiben. Der erste Club d'Essai war nur experimentell, während der
zweite ein richtiges Radioprogramm wurde. Ich glaube, das wichtigste
war, in allen möglichen Richtungen zu suchen und sich vor allem an junge
Leute zu wenden und ihnen dabei alle möglichen Freiheiten zu lassen."
(25)
Durch die Aufführung des "Concert des bruits" am 5. Oktober 1948 innerhalb
des Programms des "Club d'Essai" erreichte die konkrete Musik nach ihrer
ersten Experimentierphase eine breitere Öffentlichkeit. Es ist bei der
rundfunk- und hörspielgeschichtlichen Bedeutung dieser Aufführung bedauerlich,
daß über die Reaktion der Hörer nur wenig bekannt wurde. Schaeffer selbst
berichtet von einem Dutzend "freundschaftlicher und aufgeklärter" Hörerbriefe,
deren einem zu entnehmen ist, man habe geglaubt, "eine großartige balinesische
Musik" zu hören, eine "Musik, von der man sich vorstellen" könne, "daß
sie im Innern des Atoms herrscht, ultrasonische Musik, die vielleicht
durch die Bewegung der Planeten entsteht", eine "Musik, die Poe, Lautréamont
und Raymond Roussel bei sich vernahmen". (26)
Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß sich hier eine "heimliche
Neigung zum Surrealismus, zum Wunderbaren und Geheimnisvoll-Erregenden"
enthülle, daß der Autor des "Abnormen und Grotesk-Phantastischen", Raymond
Roussel, als "berühmter Neurosefall starb" und der 24jährig verstorbene
Comte de Lautréamont den Surrealismus "anregte und vorbereitete", (27)
dem auch der Autor Tardieu zeitweilig Tribut zollte.
Dem Surrealismus zentral verpflichtet ist das erste von zwei Hörspielen
aus dem Umkreis des "Club d'Essai", die auch deutsche Rundfunkhörer,
allerdings mit beachtlicher Verspätung, zur Kenntnis nehmen durften:
André Almuros "Nadja Etoilée" (1949) nach André Breton. Für seine Adaption
hatte Almuro, den ein Nachschlagewerk als "Exponenten des Surrealismus
im radiophonischen Bereich" (28) charakterisiert, zusammen mit dem Regisseur
Jean-Jacques Vierne ein auf "Schock" und "klangliche Bezauberung" angelegtes
"akustisches Ballett" (Friedhelm Kemp), ein "Klanggebilde" erarbeitet,
"das die 'konvulsivische Schönheit', auf die Breton zielte, in der schizoiden
Welt Nadjas nicht einfach illustrierte, sondern, in der Geräusch-Montage
übersetzt, klanglich überhaupt erst schuf". (29)
Neben Breton/Almuros "Nadja Etoilee", von der unter Verwendung der
originalen Musik- und Geräuschbänder 1959 auch eine deutsche Version
hergestellt wurde, (30) ist erst Jahre später ein weiteres Hörspiel
aus dem "Club d'Essai", Robert Arnauts "Balcon sur le rêve: le western"
(31), für das Pierre Schaeffer Sprache, Musik und Geräusche arrangierte,
wenigstens den Hörern des Saarländischen (32) und des Norddeutschen
Rundfunks (33) in der Originalfassung vorgestellt worden. Wirkungsgeschichtlich
in Saarbrücken noch zu früh, in Hamburg - auf dem Höhepunkt des Neuen
Hörspiels - bereits zu spät, so daß weder diese beiden Hörspiele noch
andere Experimente des "Club d'Essai" über die der Rundfunk immerhin
berichtete, (34) in der westdeutschen Hörspiellandschaft direkte Spuren
hinterlassen haben.
Der Club d'Essai und Paul Pörtner
Auf eine indirekte Spur verweist dagegen der "Hörspielführer", wenn
er die "Arbeit" Almuros "etwa mit derjenigen Paul Pörtners" vergleicht,
was allerdings keinesfalls intentional, allenfalls formal möglich ist,
da viele Arbeiten Pörtners ebenfalls "nicht mit Buchstaben, sondern
nur elektronisch aufgezeichnet werden" (35) können. Auf jeden Fall hat
Pörtner, der etwa gleichzeitig mit neuen Spielmöglichkelten des Theaters
experimentierte, seine wichtigsten Hörspielanregungen im "Club d'Essai"
erhalten, um sie dann auf sehr eigene Weise umzusetzen. In einem bisher
unveröffentlichten Gespräch beschrieb er die Eindrücke, die er bei einem
Besuch in der Rue de l'Université 37 empfing:
"Ich kam damals über die Literatur; das Übersetzen, zu Tardieu. Ich
hab' Dokumentationen gemacht. Dada, Expressionismus, kam über Surrealismus
zum Lettrismus, also zu den damals in Paris aktuellen, 'poetisch experimentellen
Bewegungen'. Und die versammelten sich im 'Club d'Essai' Ich bin zufällig
dahineingeraten, wollte Tardieu aufsuchen, der damals Leiter des 'Club
d'Essal' war. Rue de l'Université 37, ein schöner alter Bürgerpalais,
wenn man reinkam, hallte es aus allen Räumen, Versuche mit Geräuschmusik.
Damals hatte der Lettrismus dem Buchstabenalphabet ein phonetisches
Sprechregister hinzugefügt mit 52 neuen Zeichen: das ganze Mundgeschehen,
Räuspern, Schmatzen, Schnalzen, Röcheln, Brummen, Ziepen, die Ähäms
und Ah/ms - alle diese Geräusche der Stimme, die sich ins Reden einschieben,
nicht nur Pausen füllen, nicht nur Verlegenheit und Nachdruck markieren,
sondern die vielfältigsten Bedeutungen haben können.
Ich fand in diesen unterschiedlichen Ansätzen - bei Tardieu und bei
den Lettristen - einen wichtigen Hinweis auf die unterschiedliche Bedeutung
von Sprech- und Schreibsprache, auf die Ausdrucksweisen der menschlichen
Stimme, die über diese wortlosen geräuschhaften Äußerungen viel mehr
transportiert, als man gemeinhin annimmt, wenn man vom Schreiben ausgeht.
Also lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf die akustische Qualität von
Sprache, kam damit - auch über die musique concrète - die ja auch im
'Club d'Essai' entwickelt wurde, zu einer ersten Beschäftigung mit dem
Medium Radio." (36)
Diese Erinnerung Pörtners illustriert recht anschaulich, in welchem
Umfang eigentlich fast alle bisher genannten Spuren nach 1945 im "Club
d'Essai" zusammenlaufen. Während im deutschen Rundfunk ein sogenanntes
Hörspiel der Innerlichkeit, die Hörspielvorstellung vom literarischen
als dem eigentlichen Hörspiel (Heinz Schwitzke) bedeutende Hörspielansätze
der Nachkriegszeit zurückdrängen, (37) werden im "Club d'Essai" experimentelle
Traditionen fruchtbar gemacht, treten bisher getrennte Tendenzen einer
akustischen Literatur, der Geräusch- und Klangkompositionen, technisch
erzeugter Musik zu Rundfunkeigenkunstwerken zusammen.
Daß dieser Schritt nicht frei von Unsicherheiten war, läßt sich leicht
mit den Vielfachen surrealistischen Elementen belegen, mit denen er
durchsetzt wurde. Doch war in der Nachkriegszeit eine Verbindung von
technischem Element und surrealistischer Gedankenwelt naheliegender,
als der heutige Abstand vermuten läßt, war Max Bense 1949 sogar von
einem ursächlichen Zusammenhang überzeugt:
"Die Technik erzeugt eine surreale Welt und die surreale Welt kann
nur in der verfeinerten Sprache einer Surrationalität ausgesprochen
werden. In jedem Falle ist die Kunst, die etwas, irgend etwas von dieser
Technik berichtet, eine Kunst, die teilhat in ihr; die ein Element von
ihr ist, die nicht portraitiert, sondern instrumentiert, also doch wohl
eine surrealistische Kunst." (38)
Innerhalb der Arbeit des "Club d'Essai" von besonderer Bedeutung wurde
die Annäherung von konkreter Musik und lettristischer Sprachbehandlung
in Pierre Schaeffer/Pierre Henrys "Symphonie für einen einsamen Menschen"
(Symphonie pour un homme seul, 1950) in ihrer Verbindung von musikalischen
- ein mit Hilfe eines präparierten Klaviers erstelltes Element wird
bezeichnenderweise "Cage" genannt - und Sprechelementen. Von "sinngelöstem
und lediglich phonetisch aufgefaßtem Sprachgeräusch", von einem "an
das neue Alphabet der Lettristen" angelehnten "Schallmaterial" (39)
spricht Prieberg, während Schaeffer selbst pointiert:
"Der Mensch ist ein Instrument, auf dem man nicht genug spielt. Es
handelt sich doch nicht mehr um Worte, pfui! Es handelt sich um eine
Musik des Menschen. Ein Mensch singt, potztausend, er schreit, das ist
besser, er pfeift, er pustet in die Hände, und zwar so: ffft! Er stampft
mit den Füßen, schlägt auf seine Brust, kann selbst den Kopf gegen die
Mauer schmettern [...] (40)
Besonders das "neue Alphabet der Lettristen", die durch seinen erweiterten
Umfang gewonnenen kompositorisch-artikulatorischen Möglichkeiten haben
Pörtner zusammen mit den im "Club d'Essai" auch erfahrenen geräuschkompositorischen
Möglichkeiten in einer Entwicklung bestätigt, die ihn vom geschriebenen
Wort weg zur gesprochenen Sprache führte, der er mit seinen Theaterimprovisationen
bereits auf der Spur war. So blieb für ihn die Begegnung mit dem Lettrismus
nicht nur Begegnung mit einem neuen, erweiterten Alphabet, sie führte
ihn gleichsam zu einem Sprachwechsel, von den Festlegungen, den Fixierungen
der geschriebenen zur gesprochenen Sprache, "vom Lesen zum Hören, von
der abstrakten Vermittlung der Buchkultur zur konkreten Unmittelbarkeit
des Sprechens".
"In den Veranstaltungen der Lettristen - in den 50er Jahren - traten
die 'sonoren Poeten' meist in Gruppen auf und trugen ihre Sprechgedichte
mit chorischen oder geräuschhaften Begleitungen vor. Die Aufzeichnungen
dieser unmittelbaren Produktionen im Studio des 'Club d'Essai' gaben
der Mikrophontechnik und der Bandaufzeichnung eine neue Bedeutung: die
Hervorbringungen der meschlichen Stimmen werden als akustische Phänomene
verfügbar für eine weitere Bearbeitung, die unter dem Aspekt der musique
concrète zu einem konkreten Hörspiel oder einer akustischen Poesie führt.
So erklärt sich auch die enge Zusammenarbeit von Musikern und Dichtern
des Hauses, z.B. zwischen Pierre Henry und Francois Dufrêne ('B47' z.B.).
Für mich jedenfalls war diese Mögllchkeit einer Arbeit, die zugleich
die spontane und direkte Kunst des Sprechens und der Stimmgebärden wie
auch die Technik der Aufzeichnung und der musikalischen Bearbeitung
durch Schnitt und Überblendung umfaßt, damals etwas Neues und attraktiv,
sozusagen eine Form, um Theaterarbeit und Schreibarbeit zu verbinden
in einem anderen Medium." (41)
Schallspielstudien
Eine Konsequenz, die Paul Pörtner aus diesen Erfahrungen zog, waren
Hörspielexperimente, denen er den Namen "Schallspiele" gab. Da von ihnen
im folgenden ausschließlich die Rede sein wird, sie andererseits nur
einen kleinen Teil der zahlreichen Rundfunkarbeiten Pörtners darstellen,
ist ein kurzer Überblick angebracht.
Pörtner hat bei seinen bis heute über 50 Rundfunkarbeiten auch relativ
konventionelle Hörspiele/Theaterstücke (die Grenzen sind hier fließend)
geschrieben, vor allem in den 80er Jahren "Die Sprechstunde" (42), "Mensch
Meier" (43) und "Was sagen Sie zu Erwin Mauss", (43) von denen er sich
aber relativ früh löste. Bereits 1969 schrieb er sich als einer der
ersten mit "Treffpunkte" (44) in die Geschichte des Originalton-Hörspiels
ein, um sich 1973 - ähnlich vorzeitig - für den Dialekt im Hörspiel
zu interessieren: "Gew et Sengen draan" (45). Er experimentierte im
Umfeld des "variablen Spiels" oder mit sogenannten "Hörerspielen" (46)
und versuchte in "Stimmexperimente" (47) die künstlerische Therapie
Alfred Wolfsohns und die Schreitherapie Daniel Casriels, in anderen
Spielen das Psychodrama Levy Morenos, die Gestalttherapie Fritz Perls
für das Hörspiel fruchtbar zu machen. (48) Er hat für den Westdeutschen
Rundfunk in einer Reihe "Stereophone Literatur" (49) auf vergessene
literarische Experimente, vergessene Avantgarde-Literatur akustischer
Provenienz aufmerksam gemacht, den "Ubu" Alfred Jarrys in Erinnerung
gebracht (50) und in einer von ihm initiierten Reihe "Thema Radio" (51)
im Norddeutschen Rundfunk zentrale Fragen des Mediums ansatzweise zu
klären begonnen. Innerhalb derartiger Vielfalt von Interessen sind die
"Schallspiele" Pörtners wichtige Vorstufen zum und Varianten des Neuen
Hörspiels. (52)
Diese von Pörtner so genannten "Schallspiele" oder "Schallspielstudien"
entstanden - von den Produktionsdaten her gerechnet - in den Jahren
1963 bis 1969 und damit im zeitlichen Vorfeld eines Neuen Hörspiels.
Ihnen 1961 vorausgegangen waren die gegen ein landläufiges Hörspielverständnis
gerichteten und formulierten Überlegungen Friedrich Knillis über "Mittel
und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels", die die oppositionelle
Entwicklung des Hörspiels Mitte/Ende der 60er Jahre wesentlich mitprägen
halfen.
Wie häufiger in der wissenschaftlichen Hörspielliteratur der Nachkriegszeit
ist auch die Begrifflichkeit Knillis bereits vorgeprägt, der Terminus
"Schallspiel" bereits 1924 nachweisbar als Bezeichnung für "ein Spiel
[...], dessen Zustandekommen wesentlich auf der Wirkung eines akustisch-elektrischen
Vorgangs beruht". (53) Statt des Epithetons "total" verwendet die frühe
Hörspieldiskussion wiederholt das Adjektiv "absolut", in den Verbindungen
"absolute Radiokunst" bei Kurt Weill (54) oder "absolute Funkkunst"
bei F W. Bischoff (55), der im gleichen Zusammenhang von einem "Kunstprodukt"
spricht, "das Wort und Musik" zusammenfüge "und in letzter endgültiger
Totalität sich als akustisches Kunstwerk, als reines Hörspiel" darstelle.
(56) Hansjörg Schmitthenner, der selber das Etikett "Radiokunst" (57)
bevorzugt, hat, allerdings ohne genauen Beleg, die Erfindung auch dieses
Begriffs Bischoff zugeschrieben. (58)
Da Pörtner Knilli persönlich kannte - Knilli trat um 1960 wiederholt
als Moderator von literarischen Avantgarde-Veranstaltungen auf und moderierte
auch eine Ulmer "Mit-Spiel"-Veranstaltung Pörtners (59) -, ist es wahrscheinlich,
daß Pörtners Hörspielexperimente ihren Namen dem Buch Knillis verdanken,
von dessen Thesen sie sich intentional jedoch deutlich unterscheiden
lassen. Primär waren sie für Pörtner der Versuch, sich vom Schreibtisch
(als Autor) ebenso Wie von der traditionellen Inszenierung mit Schauspielern
(Theater) oder Sprechern (Rundfunk) zu lösen durch ein elementares Arbeiten
mit den sprachlichen und musikalischen Materialien.
"Ich suche immer das Spezifische eines Mediums zu benutzen, und für
mich ist alles, was durchs Radio vermittelt wird, primär Schall. Dieses
Wort gefällt mir, denn es stammt aus der Physik und ist technisch definierbar.
Ich gehe nicht von literarischen oder dramaturgischen Voraussetzungen
aus, sondern von dem Material, das mir zur Verfügung steht. Kraß gesagt,
ließe sich das zuerst einmal als unartikuliertes Geräusch bezeichnen,
das allerdings erst erträglich wird durch eine Bearbeitung. Dann ist
aber auch alles drin: von Musik bis zur Sprechsprache läßt sich alles
aus diesem Schall herausholen. Wenn ich im Radio eine Stimme höre, so
ist das Schall, wenn ich gesprochene Worte vernehme, so vernehme ich
sie als Schallfiguren, also akustische Zeichen, die auf ganz bestimmten
physikalischen Werten beruhen. Dieses Umdenken, also nicht vom geschriebenen
Text her zu konzipieren, sondern vom akustischen Material, dem Schall
her zu komponieren, erfordert eine ganz andere Arbeitsweise als die
eines Autors, der schreibt, oder die eines Regisseurs, der mit Schauspielern
umgeht. Der Umgang mit der Technik, das Arbeiten aus dem Hören und das
Umwandeln des Klanges nach eigenen Vorstellungen erschien mir der Praxis
des bildenden Künstlers näher als der des Literaten, und die Teamarbeit
in Experimentalstudios war für mich sehr anregend, da ich anders als
beim Schreiben von Texten hier ständig überprüfen konnte, wie das poetische
Gebilde wahrgenommen und gedeutet wird." (60)
Für dieses Spielen mit Schall, für ein aus solchem Spielen zu gewinnendes
Erfahren und Erkennen - und dies ist ein der ganzen Hörspielart Pörtners
eigentlich innewohnender Prozeß - mußten die Voraussetzungen erst einmal
gegeben sein. Sie ergaben sich fast zufällig.
Pörtner hatte einen Lehrauftrag an der Hochschule für Gestaltung in
Ulm, als der Geschwister-Scholl-Stiftung ein kleines elektronisches
Studio übergeben wurde. Da die Filmemacher, denen es eigentlich zugedacht
war, zunächst keine Verwendung dafür hatten, stand es plötzlich Paul
Pörtner und seiner aus zwei Schülern bestehenden Klasse "Information"
zur Verfügung.
Pörtner nahm dieses Angebot, diese technische Herausforderung an und
begann sofort mit einer ihm eigenen Intensität zu spielen, spielerisch
zu erproben, was sich z.B. mit einem Vocoder alles anstellen läßt, wie
er Sprache umsetzt, was für Verfremdungen, Umformungen, Modulationen
möglich sind. Es lag nahe, nachdem erst einmal die Fülle der Möglichkeiten
entdeckt war, die Variationsbreite in einem kleinen Spiel systematisch
zu erproben. Damit war der Anlaß für die erste "Schallstudie" fast zwanglos
gegeben, entstand ein Hörspiel, dessen Ausgangspunkt und Durchführung
Pörtner wie folgt beschreibt:
"Eine normale kurze Hörspielszene wurde zuerst mit der üblichen Studiotechnik
aufgenommen: Fieberphantasien einer Frau im Krankenbett. Eine Szene,
die aus gesprochenen Sätzen und Geräuschen besteht und einen konkreten
Inhalt hat. Wichtig war für mich, daß in den nun folgenden Versuchen
ausschließlich das in dieser Szene vorgegebene Material verwendet wurde,
also nichts hinzugefügt wurde, keine Musik, kein Geräusch, sondern an
dieser Vorgabe schrittweise eine Veränderung aufgezeigt wurde: in drei
Versionen eine immer radikalere Übernahme der üblichen Gestaltungsmittel
von akustischen Zeichen, also Schallgestalten, ausprobiert wurde. Die
zweite Variation veränderte die Ausgangsszene durch eine Verlagerung
des Ausdrucks von Worten auf Geräusche, die an Stelle der gesprochenen
Sprache gesetzt wurden, durch Frequenzumsetzung rhythmisch-klangliche
Werte gewannen. In der dritten Variation wurden die gesprochenen Worte
allmählich zerstört, d.h. es wurden Phoneme herausgeschnitten, es wurde
mit Überlagerungen und rhythmischen Wiederholungen gearbeitet und schon
eine Modulation angelegt, die Sprache als Geräusch erscheinen ließ.
In der vierten Version wurde dann die elektronische Bearbeitung so weit
getrieben, daß Sprache gänzlich von Klängen übernommen wurde, die aus
ihr stammten oder aus der Verschmelzung von Sprache und Geräusch. Eine
Verkürzung der Szene war bei den drei Variationen erfolgt, die zum Schluß
bis zu einer Verknappung auf eineinhalb Minuten ging." (61)
Experimente, auch im Hörspiel, haben nur dann einen Sinn, wenn sie
für Fragen stehen, auf die eine Antwort gesucht wird, oder wenn sie
Fragen klar stellen. Anders als beim naturwissenschaftlichen Experiment
ist beim Hörspiel der Hörer als Adressat in die Überlegungen mit eingeschlossen.
Nur so erklärt sich die didaktische Anlage, die so unterschiedlichen
Versuchen wie Walter Benjamins "Hörmodellen" (62) auf der einen oder
Pörtners "Schallspielen" auf der anderen Seite durchaus gemeinsam ist.
Im Falle Pörtners ging es um die Frage, ob eine spezifische menschliche
Situation ("Fieberphantasien einer Frau im Krankenbett"), die in einer
traditionellen Hörspielsequenz durch Worte und Geräusche dargestellt
wird, durch deren Hilfe sie der Hörer als solche erkennt, ob eine solche
Situation sich auch mit anderen Mitteln, mit Hilfe rein akustischer
Zeichen darstellen läßt.
"Verdichtet", formuliert es Pörtner, "oder verflüchtigt sich die Anteilnahme
durch die Abstraktion? Oder anders: Wenn ich mich von der sprachlichen
Aussage entferne und mich dem musikalischen Ausdruck nähere, wo überschreite
ich die Grenze des Hörspiels?"
Pörtners "Schallspielstudie 1" war bereits von ihrer Anlage her geeignet,
vorzuführen, daß hier das Hörspiel schnell an seine Grenzen stoßen würde,
daß zwar - wie in den elektronischen Studios erprobt - eine Annäherung
elektronisch erzeugter Klänge an die Sprache, nicht aber ihre Umkehrung
sinnvoll sein kann, so daß es für Pörtner bei diesem einen, hörspielgeschichtlich
dennoch wichtigen Versuch - wie z.B. der Einsatz von Vocoder-Stimmen
in Max Benses/Ludwig Harigs "Monolog der Terry Jo" (63) belegt - geblieben
ist, Pörtner für seine weiteren "Schallspielstudien" von anderen Materialien
ausging, auch andere Intentionen verfolgte.
Es spricht von einem damals erstaunlichen Mut zum Experiment, daß es
1964 der Bayerische Rundfunk, d.h. der Leiter seiner Hörspielabteilung,
Hansjörg Schmitthenner, wagte, diese "Schallspielstudie" zu senden.
(64) (Der Westdeutsche Rundfunk nahm sie z. B. als Übernahme erst 1967
in sein Programm.) Und dennoch erscheint Schmitthenners Mut so verwunderlich
nicht, wenn man sich das Engagement vergegenwärtigt, mit dem er sich
Ende der 60er Jahre Für eine konkrete Literatur, der er eine Wanderausstellung
aufbaute, (65) vor allem aber für eine "Radiokunst" (66) einsetzte,
als die er alle "Kunstarten" ausgewiesen wissen wollte, "die nur mit
Hilfe der Rundfunktechnik verwirklicht werden können". (67)
Als eine solche "Radiokunst" subsumierte Schmitthenner 1969 Hörspiel
und elektronische sowie konkrete Musik, aber auch bestimmte Formen des
Feature, "deren Montagetechnik gleichfalls mit ästhetischen Maßstäben
gemessen werden" (68) müssen. "Dazu kommt in jüngster Zeit eine neue
Kategorie der Radiokunst, radiophonische Klangbilder [...], Schallspiele,
Kompositionen aus akustischen Elementen der verschiedensten Art: aus
Sprache, Sprachpartikeln, aus Geräuschen und Klängen, die bald original,
bald auf mannigfache Weise technisch manipuliert verwendet werden. Solche
Kompositionen können, obwohl sie zum Teil sprachlichen und literarischen
Ursprungs sind, in ihrer Entstehungsgeschichte nur bedingt mit der Literaturgattung
Hörspiel in Zusammenhang gebracht werden. Ihre Auswirkungen auf die
Entwicklung des Hörspiels aber sind von größter Bedeutung." (69)
Im gleichen Jahr nahm Johann M. Kamps in das Hörspielheft der Zeitschrift
"Akzente", das er unter das Motto Franz Mons - "Die Möglichkeiten eines
zeitgenössischen Hör-Spiels lassen sich nur vermuten" - gestellt hatte,
auch "Schallspiel-Studien" Paul Pörtners auf, veröffentlichte Klaus
Schöning in der Anthologie "Neues Hörspiel. Texte Partituren" Pörtners
drittes "Schallspiel" "Alea" (70), das mit der "Schallspielstudie II"
(71) durch das Ausgangsmaterial, Stephane Mallarmés berühmten "Würfelwurf"
(Un coup de dés jamais n'abolira le hasard), verbunden, in seiner Realisation
aber knapper und vor allem konsequenter war.
Beiden Realisationen vorausgegangen war die Entdeckung des späten Mallarmé,
ein Versuch Pörtners, "Un coup de dés" zu übersetzen. (72) (Wobei einmal
zu fragen wäre, wieweit auch die beiden "Schallspiel"-Realisationen
noch als Übersetzungen, als Interpretationen durch Über-Setzen ins andere
Medium gehört werden können.) Pörtners Entdeckung des späten Mallarmé
bringt noch einmal den "Club d'Essai" in Erinnerung, speziell die Rolle,
die die Lettristen in ihm gespielt haben. In seiner Chronologie der
"evolution du matériel poétique" wird von Isou auch Mallarmé aufgeführt:
Baudelaire: la destruction de l'anecdote pour la forme du
POÈME.
Verlaine: annihilation du poème pour la forme du VERS.
Rimbaud: la destruction du vers pour le MOT.
Mallarmé: l'arrangement du MOT et son perfectionnement.
Tzara: destruction du mot pour le RIEN.
lsou: l'arrangement du RIEN - LA LETTRE - pour la création de l'anecdote.
(73)
Für Pörtners Einschätzung der Bedeutung des "Coup de dés" kam zweierlei
zusammen. Zunächst durch die erste "Schallspielstudie" die Erfahrung,
daß ein reines Geräusch- oder Klangspiel nicht seine Sache sei, wohl aber
die Sprache in Auseinandersetzung von "Sprechlaut" und "Lautgebärde",
von "Stimmklang" und "Sprechklang".
Mit dieser Erfahrung traf sich zweitens, daß Mallarmé seinen Text als
Partitur deklariert hatte, daß bei ihm die Buchstaben in ihrer unterschiedlichen
Größe, daß seine Typographie akustische Qualität haben und seine weißen
Stellen als Pausen zu interpretieren sind. So lag der Versuch, eine
solche Partitur im akustischen Medium Rundfunk umzusetzen, sie gleichsam
akustisch zu erproben, eigentlich nahe.
Hinzu kam die Erfahrung des Übersetzers, daß sich um die einzelnen
Wörter und/oder Silben der Vorlage herum Bedeutungsfelder auftaten,
die sich in einer Buchübersetzung kaum, in einer akustischen und überdies
stereophonischen Umsetzung als Wortbündelung, als "Wortexplosion"(Pörtner)
dagegen relativ leicht und einleuchtend realisieren ließen.
Alea
Es ging also Pörtner bei seiner zweiten und dritten "Schallspielstudie"
letztlich ganz einfach darum, Mallarmés gelegentlich auch als Vorstufe
visueller Poesie mißverstandenen "Coup de dés" hörbar zu machen in der
Vielzahl seiner Bedeutungsfelder und Valenzen, um einen "Textvollzug
im Hören".
"Der Vollzug des Textes findet im Hören statt, im Sprechen des Textes,
im Hören des Textes. Ich vertraue bei der dirigierten Lektüre, also
dem simultanen Sprechen des Textes aus vier verschiedenen Positionen
der kombinatorischen Phantasie des Hörers, einem Wahrnehmen der Beziehungen,
die zwischen den gesprochenen Wörtern entstehen: nicht so sehr die Sinnverknüpfungen
durch Satzgebilde, sondern die Vieldeutigkeit der Assoziationen und
Assonanzen regt den Hörer an. Durch den Vollzug der schwingenden und
singenden Bezüge des vielstimmigen Hörtextes wird der Hörer an einer
sprachschöpferischen Bewegung beteiligt: er rückt in die Nähe des Autors."
(74)
Ganz offensichtlich wurden hier für Pörtner Erfahrungen aus der Pariser
Zeit, die simultanen Sprechübungen im "Club d'Essai", aberm auch seine
Kenntnisse von Versuchen simultaner Produktion bei den Dadaisten fruchtbar.
Zugleich aber deutet sich ein Dilemma an, dem Pörtner bei seinen "Schallspiel"-Versuchen
nie ganz entgehen konnte: der Widerspruch nämlich zwischen dem gewollten
simultanen Sprech-Hör-Erlebnis während der Aufnahme und dem Nur-Hör-Erlebnis
beim Abhören der fertigen Produktion, so daß man pointieren darf: Die
eigentliche Bedeutung der zweiten und dritten "Schallspielstudie" liegt
im Prozeß ihres Entstehens, und zwar für ihre Operateure und Produkteure.
Pörtners eigener Bericht über die Entstehungsgeschichte von "Alea" macht
dies deutlich.
"Zuerst einmal: ich ging von einem Text von Mallarmé aus: 'Un coup
de dés n'abolira jamais le hasard'. Und ich nahm die Aufforderung wahr,
dieses grandiose offene Gedicht für mich zu erschließen, so wie es in
Mallarmés 'Livre-Konzeption beschrieben ist: d.h. ich lernte das Opus
durch Operationen kennen, die jeweils Auszüge aus dem Textangebot realisierten.
Ich ging ziemlich frei mit der literarischen Vorlage um. Es ergaben
sich in meiner Version vier Lesarten des Textes, die von vier Lektoren
vorgetragen wurden. Ich nannte diese vier Sprechpositionen: Alter Meister,
Igitur, Sirene, Epistula. Wohlverstanden, es waren dies keine Rollen
oder Figuren, eher Konfigurationen der Lektüre. Und ich inszenierte
diese meine Version des Werkes mit vier Sprechern zuerst im Studio.
Und obwohl ich dann schon die wortlosen Stimm-Expressionen von Roy Hart
einbezog, war das noch eine Hörspielinszenierung im üblichen Verstand.
Damals, 1964/65, begannen ja die Versuche mit der Stereophonie, die
sich gerade im Bereich des Sprachspielerischen, also der Öffnung eines
mentalen Raumes und einer Hörbarmachung simultaner Sprechverläufe, als
brauchbar erwies. Wenn diese Fassung des "Würfelwurfes" von Mallarmé
gesendet worden wäre, so wäre das ein literarisches Hörspiel gewesen,
eine 'dirigierte Lektüre'.
Ich nahm diese erste Produktion aber als Material für eine elektronische
Bearbeitung. Dadurch wurde dieses erste Ergebnis sozusagen hinweggearbeitet,
was die Schauspieler auch geärgert hat, denn von ihrem sprecherischen
Ausdruck blieb wenig erhalten. Es lag mir daran, diese Sprechpartien
zu depersonalisieren, ihnen Natürlichkeit und persönliche Färbung zu
nehmen und wieder die Prägungen der Letternschrift zurückzugewinnen,
die bei Mallarmé im Sinne einer Partitur in Kursiv oder Majuskeln, in
den verschiedensten Graden und Abständen gesetzt sind.
Hätte ich das durchgehalten, wäre diese Bearbeitung sehr trocken und
starr geworden, aber es ergab sich eine spielerische Form aus unseren
vielfachen Versuchen, das Material elektronisch zu analysieren und neu
zu formulieren. Aus den Schallauszügen wurden z. B. einzelne Buchstaben
und Silben scharf umrissen hörbar, die, in Beziehung zu den vollautenden
Sprechverläufen gesetzt, rhythmische und klangliche Muster abhoben:
eine stereophone Differenzierung wurde so erzielt, die zur Dissoziation
von Laut und Wort oder zu einem Widerspiel der Lautwerte innerhalb desselben
Wortes führte. Also eine lettristische Spielform.
Aber nicht nur abstrakte Übersetzungen des Textes, z.B. in Sinustonkombinationen
oder Sprechklangmodulationen, ergaben sich, sondern auch eine starke
Aufladung des Hörtextes mit musikalischen Mitteln, d.h. expressiven
und emotionalen Werten. So ergab z.B. die Vocoderisierung der Schreie
mit den Wogen und Brandungsgeräuschen eine starke Wirkung, die dann
auch der Sprache aufmoduliert wurde. So kam eine Dramatisierung zustande,
die wohl einigen Kennern Mallarmés unheimlich war: die Distanziertheit
und Purheit der literarischen Vorlage wurden hier aufgehoben. Es war
halt 'meine Version': ich las aus dem Gedicht das Scheitern der Vernunft,
das Enden von Sprache und Orientierung im Todeskampf heraus. Und ich
deutete den Satz: 'Nie wird das Denken den Zufall besiegen' als eine
Sentenz der äußersten Verzweiflung: als Wahrsage einer Katastrophe.
Was dieses Schallspiel durch die Elektronik gewann, war eine Umsetzung
von Sprache und Geräusch zu einer akustischen Einheit, die Rhythmisierung
und klangliche Entfaltung von Lautwerten, die aus dem Sprechen gewonnen
wurden, die Erweiterung des Ausdrucksbereiches vom vorsprachlich Unartikulierten
bis zu abstrakt-lettristischen Zeichen. Vom Rationalen zum Emotionalen,
von der Wortspielerei bis zur Wortleidenschaft und zum Wahnsinn reicht
die Spannweite des Entwurfes, der dieses Schallspiel 'Alea' bestimmte."
(74)
Wie schon die "Schallspielstudie II" stellt auch "Alea" noch keine
definitive Fassung, kein endgültiges Ergebnis der "Schallspiele" dar.
Bei der prozessualen Arbeitsweise, die die "Schallspiele" auszeichnet,
kann jede Fassung nur ein augenblicklicher Zustand sein, Materialzustand
für weitere Schritte. Daß Pörtner aus "Alea" keine weitere "Schallspielstudie"
entwickelte, gibt ihr zwar innerhalb der "Schallspiele" das Gewicht
der bisher geglücktesten Lösung. Es ist jedoch anzunehmen, daß die Arbeit
weitergehen sollte. Überarbeitungen (u. a. Kürzungen), die Pörtner bei
Wiederholungssendungen vorgenommen hatte, (75) deuteten jedenfalls in
diese Richtung.
Zwei hörspielgeschichtliche
und -typologische Überlegungen
Für den Moment bleiben zwei hörspielgeschichtliche und -typologische
Überlegungen bzw. Fragen. Erstens: Pörtner hat mit seinen "Schallspielen"
keine Literatur für den Rundfunk geschrieben. Er hat - ausgehend von
Literatur - mit Hilfe technischer und elektronischer Apparatur Rundfunkliteratur
hergestellt. Vergleicht man das in seiner Konsequenz einmal - falls
dies überhaupt erlaubt ist - mit traditionellen literarischen Adaptionen,
mit Hermann Kessers "Schwester Henriette", Arnolt Bronnens "Michael
Kohlhaas", mit Günter Eichs "Unterm Birnbaum" (76) und Max Ophüls' "Novelle"
(77), die als Musterbeispiele ihrer Gattung gelten, muß man typologisch
deutlich zwischen derartigen literarischen Adaptionen, innerhalb deren
eine weitergehende Differenzierung möglich ist (78), und einer Rundfunkliteratur
unterscheiden, wie sie z. B. Pörtners "Alea", ebenfalls von einer literarischen
Vorlage ausgehend, darstellt. Ja, man wird sich sogar fragen müssen,
ob es nicht statt eines immer wieder geforderten "literarischen Hörspiels"
gerade Spiele wie "Alea" sind, die in exemplarischer Weise jenes "akustische
Kunstwerk" (Bischoff), jenes literarische "Rundfunk-Eigenkunstwerk"
repräsentieren, an das Flesch 1928 in Wiesbaden gedacht hatte (79) und
für das er 1929 anläßlich der Eröffnung des Studios der Berliner Funk-Stunde
forderte:
"Nicht auf den technischen Teil beschränkt, außerhalb der Gesetzlichkeit
physikalischer Formen, jenseits der maschinellen Gruppe Empfänger-Sender-Verstärker-Mikrophon,
erobert sich das Experiment, die Freude am Probieren, auch die Darbietung
selber. Nicht nur das Übermittelnde Instrument, auch das zu Übermittelnde
ist neu zu formen; das Programm kann nicht am Schreibtisch gemacht werden.
(80)
Es scheint jedenfalls kein Zufall, wenn Paul Pörtner auf der für die
neuere Hörspielentwicklung so bedeutenden "Internationalen Hörspieltagung",
1968 in Frankfurt, in seinem Referat über "Schallspiele und elektronische
Verfahren im Hörspiel" (in Unkenntnis übrigens der Forderungen Fleschs)
als Konsequenz vorträgt:
"Wenn ich als Autor; von der Literatur herkommend, mich dem Hörspiel
zuwende, habe ich es nicht nur mit einem Medium zu tun, das Literatur
vermitteln kann, sondern mit einer Produktionsmöglichkeit von akustisch-poetischen
Spielen. Ich vertausche den Schreibtisch des Autors mit dem Sitz am
Mischpult des Toningenieurs, meine neue Syntax ist der Schnitt, meine
Aufzeichnung wird über Mikrophone, Aufnahmegeräte, Steuerungen, Filter
auf Band vorgenommen, die Montage macht aus vielen hundert Partikeln
das Spielwerk." (81)
Was Pörtner - und das ist das zweite, was abschließend anzumerken wäre
- hier immer noch leicht utopisch formuliert, ist nicht Plädoyer für
Experiment und technisches Spiel um seiner selbst willen. Pörtners "Schallspielstudien"
wie seine anderen Hörspielversuche sind keine technischen Glasperlenspiele.
Hinter ihnen allen ist ein Ansatz, eine Erfahrung verborgen, die man
vielleicht als das Zentrale Anliegen und Problem Pörtners bezeichnen
darf, eine existentielle Grundsituation und -erfahrung, die Pörtner
folgendermaßen umreißt:
"Die Wahrnehmung meiner Umwelt wird zum großen Teil von Geräuschen
bestimmt. Wenn ich meine Reaktion auf die mich beeinflussenden, bedrohenden,
durchstimmenden Geräusche darstelle, gehe ich von dieser Erfahrung aus.
Der künstlerische Akt besteht darin, daß etwas Rohes, Formloses, etwas,
das Angst macht, unheimlich ist, umgesetzt wird: Form gewinnt. Durch
die Formulierung rückt das, was zuerst als Störung oder Schrecken oder
Ungeheuer erscheint, in eine neue Dimension: es wird verarbeitet, bewußtgemacht,
vertraut. Diese Aneignung des unannehmbar Erscheinenden, Vernichtenden
ist das eigentliche 'Ereignis der Form'. Und wenn ich nun im Bereich
der Akustik arbeite, habe ich es einerseits mit den schon gereinigten
Klängen der Musik zu tun oder mit den Artikulationen der Sprechsprache,
aber andererseits auch mit dem, was man als Lärm bezeichnet, der ständig
ans Ohr brandenden Geräuschwelt mit ihrem Terror. Das ist ja für Feinsinnige
wirklich zum Wahnsinnigwerden - und macht ja auch Angst Und da einmal
konsequent heranzugehen, das aufzunehmen, das zu bearbeiten und zu fassen
und umzusetzen und in Form zu bringen, das war so mein Ansatz damals,
als ich "Schallspiele" machte. Auch aus dem Geräusch läßt sich etwas
machen, was deutlich Zeichencharakter hat und den Wert von Sprache gewinnen
kann. Indem es formuliert wird in Schallgestalten, spricht dieses Spielen
an - wie es sonst nur Sprache tut oder die bildnerische Form. Allerdings
ist im Bereich des Hörens die Einstellung auf bekannte und gewohnte
Signale, also sprachliche oder musikalische Zeichen, vielleicht noch
stärker als im Bereich des Sehens und damit auch die Abwehr des Ungewohnten
und Unbekannten impulsiver und rigider als in anderen Wahrnehmungsbereichen.
Und deshalb stößt diese Form des Hörspiels auf Widerstand, Abwehr beim
Hörer; der gewohnt ist, Sprache oder Musik zu unterscheiden und Geräusche
abzutun. Denn auch in der gefilterten und geklärten Form hat Schall
immer etwas alarmierend Starkes, Kompaktes, Heftiges - selbst wenn er
sich noch so spielerisch bewegt. (82)
WDR 10.3.1981. Druck in: Klaus Schöning [Hrsg.]: Hörspielmacher. Autorenportraits
und Essays. Königstein/Ts: Athenäum 1983, S. 37 - 58; Das Neue Hörspiel
(Geschichte und Typologie des Hörspiels, Bd 5). Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft 1988, S. 40-59; 21992
Anmerkungen werden nachgestellt