Über natürliche und künstliche Poesie


von Max Bense

aus: Theorie der Texte. Eine Einführung in neuere Auffassungen und Methoden, Köln 1962, S. 143ff.


Es kann jetzt zur Erhellung eines allgemeinen Poesiebegriffs beitragen, wenn man zunächst zwischen natürlicher und künstlicher Poesie unterscheidet. In beiden Fällen arbeitet man mit Worten, ihren Derivationen, die als Deformationen in Bezug auf einen zugrundegelegten Wortraum gedeutet werden können und ihren Folgen, die linear oder flächig angeordnet sind. Für unsere Gesichtspunkte bleibt jedoch die Differenz in der Art der Entstehung das Wesentliche.

Unter der natürlichen Poesie wird hier die Art von Poesie verstanden, die, es ist der klassische und traditionelle Fall, ein personales poetisches Bewußtsein, wie es Hegel schon nannte, zur Voraussetzung hat; ein Bewußtsein, das Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle, Erinnerungen, Gedanken, Vorstellungen einer Einbildungskraft etc., kurz, eine präexistente Welt besitzt und ihr sprachlichen Ausdruck zu verleihen vermag. Nur in diesem ontologischen Rahmen kann es ein lyrisches Ich oder eine fiktive epische Welt geben. Das poetische Bewußtsein in diesem Sinne ist ein prinzipiell transponierendes, nämlich Seiendes in Zeichen, und den Inbegriff dieser Zeichen nennen wir Sprache, sofern sie metalinguistisch eine Ichrelation und einen Weltaspekt besitzen. In dieser natürlichen Poesie hört also das Schreiben nicht auf, eine ontologische Fortsetzung zu sein. Jedes Wort, das sie äußert, folgt den Welterfahrungen eines Ichs nach, und selbst der ästhetische Rang, der jenem dabei erteilt wird, könnte noch als ein Reflex dieser Welt aufgefaßt werden.

Unter der künstlichen Poesie hingegen wird hier eine Art von Poesie verstanden, in der es, sofern sie z. B. maschinell hervorgebracht wurde, kein personales poetisches Bewußtsein mit seinen Erfahrungen, Erlebnissen, Gefühlen, Erinnerungen, Gedanken, Vorstellungen einer Einbildungskraft etc., also keine präexistente Welt gibt, und in der das Schreiben keine ontologische Fortsetzung mehr ist, durch die der Weltaspekt der Worte auf ein Ich bezogen werden könnte. Infolgedessen ist auch aus der sprachlichen Fixierung dieser Poesie weder ein lyrisches Ich noch eine fiktive epische Welt sinnvoll abhebbar. Während also für die natürliche Poesie ein intentionaler Anfang des Wortprozesses charakteristisch ist, kann es für die künstliche Poesie nur einen materialen Ursprung geben.


Selbstverständlich gelten die angeführten Differenzen in erster Linie nur idealtypisch. Wirklich existent sind jedoch wahrscheinlich nur die Annäherungen. Z. B. können infolge der Präzision, mit der Rhythmus und Metrum gehandhabt werden, auch in der intentionalen natürlichen Poesie materiale Züge einer künstlichen auftreten. Was nun die Beispiele realisierter künstlicher Poesie anbetrifft, die, z. B. durch maschinelle Selektion, den Wortprozeß ausschließlich material und sukzessiv ablaufen läßt, wie ich schon sagte, so empfiehlt es sich, dabei einfach von „Texten“ zu sprechen, um mit diesem Begriff die generalisierte Form der Poesie anzudeuten, die in ihnen erreichbar ist. „Text“ bezeichnet dabei jede Wortfolge bzw. jede Wortanordnung, die selektiv und kontigent in Bezug auf einen zugrunde gelegten Textraue. (Wortschatz) aus diesem hervorgeht und gewisse Deformationen am einzelnen Wort zuläßt.

Programme für die Realisierung solcher Texte in künstlicher Poesie lassen sich vor allem in drei Richtungen entwickeln: statistisch, strukturell und topologisch. Statistisch ist das Programm, sofern es zur Bildung der selektierten Wortfolge bestimmte Häufigkeitsverteilungen der Worte ausnützt, diese Häufigkeitsverteilungen also programmiert; strukturell ist das Programm, wenn es die selektierte Wortfolge (makrolinguistisch) strukturiert, in ihr also nur ganz bestimmte Wortklassen, Verben, Substantive, Adjektive usw. zugelassen werden oder gewisse Anordnungen der selektierten Worte auf der Fläche vorgegeben sind, und topologisch nennen wir das Programm, wenn Worte auf Grund eingeführter Nachbarschaftsverhältnisse oder Deformationen1, bzw. Deformationsklassen ausgewählt werden.

Die Programme gehen also jeweils von Häufigkeitseigenschaften, von Klassen- und Anordnungseigenschaften und von Nachbarschafts- und Deformationseigenschaften aus. Charakteristische Texte einer statistischen Programmierung sind z. B. die bekannten Shannonschen Text-Annäherungen; die Selektion der Wortfolgen zu Textstücken geht stufenweise vor, indem sie jeweils auf Repertoire verschiedener, aber immer mehr einem wirklichen Text entsprechender Häufigkeitsverteilungen zurückgreift; der Text besteht also aus einzelnen Textstücken, deren erstes völlig willkürlich und deren letztes am wenigsten willkürlich erscheint. Es handelt sich also um stochastische Textfolgen, die die statistische Struktur der Markoffketten aufweisen. Charakteristische Texte eines strukturellen Programms sind die seriellen Wortfolgen Gertrude Steins und Helmut Heissenbüttels oder auch die flächigen Wortkonstellationen der Konkreten Poesie Eugen Gomringers und der brasilianischen Gruppe der „noigandres“. Charakteristische Texte eines topologischen Programms schließlich sind, was die Selektion bestimmter Nachbarschaftsverhältnisse anbetrifft, sowohl in den Di-, Tri-, Tetragramm-Auswahlen der Shannonschen Approximationen als auch in der der seriellen (Gertrude Stein) und der konkreten Poesie („noigandres“) anzutreffen; Texte, deren ästhetische Programmierung bewußt auf texttopologischer Deformation beruhen, sind vom Autor publiziert worden. Selbstverständlich sind solche Programmierungen nur idealiter getrennt zu halten. Im Rahmen der faktischen Realisierung künstlicher Poesie, gleichgültig ob durch menschliches oder maschinelles Schreiben (Selektieren), überwiegt zwar die eine oder andere Programmierung, bezieht aber sofort noch mindestens eine weitere ein.

Wir können solche Programme materiale Programme nennen, sofern ihre „Themen“ ganz und gar der Eigenwelt des Materials, also dem aus Worten als Elementen bestehenden Textraum, angehören. Das trifft auf die Bildungen von „Folgen“, „Serien“, „Annäherungen“, „Häufigkeiten“, „Klassen“, „Deformationen“ usw. deutlich zu. Die entstehende Poesie kann auch als mathematische bezeichnet werden, sofern die Programmierung mathematisch vorgeht, d. h. durch mathematische Bestimmungsstücke wie „Folgen“, „Klassen“, „Häufigkeiten“, „Mengen“, „Teilmengen“, „Boolesche Verbände“ usw. festgestellt ist. Der Terminus kybernetisch ist für die künstliche Poesie dann angebracht, wenn die Selektion, also das „Schreiben“, maschinell, also mit Hilfe programmgesteuerter elektronischer Rechenanlagen vorgenommen wurde. Beispiele für speziell kybernetische künstliche Poesie sind in Heft 6 der Serie „rot“ veröffentlicht worden.

Es scheint mir nun möglich, auf weitere Unterschiede zwischen natürlicher und künstlicher Poesie hinzuweisen. In der natürlichen Poesie genießen- gewisse Wortklassen, z. B. Substantive, Verben und Adjektive eine gewisse Vorzugsstellung im Hinblick auf die Bildung des semantischen Gehaltes, der meist als Träger des ästhetischen auftritt. In der künstlichen Poesie hingegen, In der die materiale Realisation der Worte bzw. der Wortfolge mit der ästhetischen zusammenfällt, der semantische Gehalt also unberücksichtigt bleibt, sind apriori alle Worte gleichberechtigt. Darüber hinaus ist noch folgendes festzustellen: Natürliche Poesie kann und muß interpretiert werden, weil zumeist erst mit der Interpretation die Ichrelation der Worte einerseits und ihr Weltaspekt andererseits apperzipierbar wird und der kommunikative Vorgang auf diese Weise erst zum Abschluß kommen kann. Da nun das Wesen der Interpretation in erster Linie in der Herstellung der Ichrelation und des Weltaspektes eines Textes besteht, d. h. also im Rekurs auf das, was wir „ontologische Fortsetzung“ nannten, diese jedoch in der künstlischen Poesie nicht besteht, hat für diese eine Interpretation keinen Sinn. Künstliche Poesie enthält demnach im allgemeinen viel mehr nichtkommunikative Bestandteile als natürliche Poesie, zumindest jedenfalls, was die realisierte Information anbetrifft.

Wir stoßen damit auf die ästhetische Diskussion unseres Problems. Offenbar zeichnet sich jede ästhetische Realisation durch spezifische nichtkommunikative Bestandteile aus. Wahrscheinlich sind gerade sie für den Aufbau der originalen ästhetischen Information charakteristisch. In der Informationsästhetik wird gezeigt, daß ästhetische Information im Unterschied zur semantischen nicht kodierbar, nur realisierbar ist. In der künstlichen Poesie, so kann man sagen, erscheinen die ästhetischen Informationsbeträge, da sie im idealen Fall keine semantischen Träger im üblichen Sinne (Aussagen, Vorstellungen etc.) vorgegeben erhalten, als pure Realisationsbeträge. Jedenfalls ist künstliche Poesie als reine, absolute Poesie möglich, sofern in ihr keine präfixierten Bedeutungen, die hervorrufenden Charakter haben, vorausgesetzt werden können; sie hat gewissermaßen, wie die Zahlen, nur eine existenzsetzende, keine essentielle Kraft, sie realisiert die Worte und ihre Konnexe als linguistische Materialien, nicht als sprachliche Bedeutungsträger. Damit ist aber völlig klar, daß die künstliche Poesie im Prinzip infolge ihrer nichtkommunikativen Bestandteile pure Realisationspoesie ist. Denn nur Bedeutung ist übertragbar (und demgemäß kodierbar), nicht aber Realisation.

Eine Interpretation kann somit nie mehr sein als die Ableitung einer Information aus einer Information, und zwar aus ihren kommunikativ zugängigen, semantischen Bestandteilen. Interpretation bezieht sich auf redundante Merkmale. Das Zurückführen einer selektiv realisierten Information auf ihre redundanten (hochfrequenten) Bausteine, auf ihre Bedeutungsträger, ist der Sinn der Interpretation. Das Zurückführen auf Bedeutungen ist die reduzierende Funktion jeder Interpretation. Eine Interpretation der ästhetischen Bestandteile einer Information (d. h. also eine ästhetische Interpretation) müßte die Herstellung einer semantischen Information aus einer ästhetischen sein, demnach die Übertragung innovativer (niederfrequenter) Merkmale der selektiv realisierten Information in redundante (hochfrequente), was einer Aufhebung der ästhetischen Information gleichkäme. Seinsgerecht könnte also eine ästhetische Information nur dadurch interpretiert werden, daß aus ihr eine andere ästhetische Information abgeleitet würde. Doch kann hier nur der Begriff der ästhetischen Interpretation im eigentlichen Sinne gewonnen, aber nicht untersucht werden. Nur auf eines möchte ich noch aufmerksam machen. Es ergeben sich selbstverständlich in der künstlichen Poesie (etwa der Markoffketten-Texte) Wortfolgen, die einen Sinn zulassen. Meyer-Eppler sprach dabei von einem „wirklichen Text“. Künstliche Poesie kann durchaus die Züge der natürlichen annehmen.

Für den Begriff der Interpretation ergibt sich daraus die Unterscheidung zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Bedeutungswelt. Jene ist von einem interpretierenden Willen abhängig, diese nicht; jene war präfixiert, diese nicht. In diesem Sinne ist auch jede fiktive epische Welt willkürlich wie die reale Welt des lyrischen Ich. (Vgl. hierzu K. Hamburger, Logik der Dichtung, 1958) Aber was auch immer in der künstlichen Poesie eine episch fiktive oder lyrisch reale Weit andeuten mag, beide bleiben unwillkürlich. Durch den Modus der Unwillkürlichkeit unterscheidet sich die aus der künstlichen Poesie präparierbare Welt von der aus der natürlichen Poesie präparierbaren.


1 Unter Deformation ist dabei jede Veränderung eines Wortes im Verhältnis zu seinem Vorkommen im ursprünglichen, zugrundeliegenden Wortraum (Wörterbuch des Wortschatzes) zu verstehen.