Helmut Heißenbüttel:
Kunst in Stuttgart? Skepsis und Aufforderung

Kunst in Stuttgart. Kunst in Stuttgart? Wer die Beiträge dieses Bandes gelesen hat, hat gesehen, wie vielfältig und differenziert sich Bezüge zwischen diesen beiden Wörtern: Stuttgart und Kunst, über das ganze zwanzigste Jahrhundert hinweg, hergestellt haben und weiterhin herstel1en. Eine Stadt wie Stuttgart, nach dem Wegfall jener Metropole, die Bonn für die Bundesrepublik Deutschland bis heute nicht hat ersetzen können (und nach menschlichem Ermessen nie ersetzen wird), eines der Zentren, in denen pluralistisch und multipel Kultur eine neue Heimstatt gefunden hat; Stuttgart, neben München, Nürnberg, Frankfurt, Köln, Düsseldorf, Hamburg, Hannover, Bremen, um wahllos nur eine Reihe von bundesdeutschen Städtenamen zu nennen, die für kulturelle Aktivität nach 1946, genauer: nach 1949 als zuständig angesehen werden: eine Stadt nicht unter vielen, sondern unter mehreren, und Berlin: das ich mit Bedacht ausgelassen habe, auch nur ein Städtename unter mehreren; Stuttgart, eine Stadt der Architektur vor allem, aber ebenso der Malerei, der Plastik, der Literatur, der Musik, eines der Sammelbecken kulturellen Neubeginns und kultureller Blüte nach dem Ende der faschistischen Barbarei; Stuttgart, eine Stadt, wie es dieser Band zeigt, von Kunst durchdrungen, durchsetzt, durchsäuert wie der Brotteig vom Sauerteig.

Stuttgart durchdrungen von Kunst? Dennoch die Gegenfrage, die nicht vermindern soll, was Verdienst ist, nicht schmälern, was historisch sich angereichert hat, die jedoch auf das Problem aufmerksam machen soll, um das es geht, nicht nur in Stuttgart, aber auch, und in mancher Hinsicht besonders, in Stuttgart. Diese Gegenfrage nämlich: Bedeutet eine solche Zusammenstellung wie: Kunst in Stuttgart nicht in Wahrheit bloß eine Addition, und müßte die Formel nicht korrekt heißen: Stuttgart und Kunst oder, schärfer noch: Stuttgart plus Kunst? Hier diese Stadt, geprägt in vielerlei Hinsicht noch immer von der Zeitspanne, in der sie Residenz eines deutschen Teilstaates war, geprägt nicht minder jedoch von einer ganz spezifischen industriellen Struktur, eine Stadt mit immer noch ländlichem Einschlag: und dort Kunst, so etwas wie Kunst, Künstler, einheimische, aber auch zugewanderte, hinzugefügt zu Residenz, Industriezentrum, Bürgerstadt und, in gutem Sinne, Provinzstadt; hinzugefügt, aber nicht in gleichem Maße prägend wie Residenz oder Industrie?

Was ich meine, ist etwas Komplexes. Ohne dieses Komplexe ins Auge zu fassen, wäre jede Schilderung und Analyse der Rolle, die ein Phänomen wie Kunst in einem Gemeinwesen der Gegenwart spielt, bloß Beschreibung, bloß Ansammlung und Einordnung von Daten. Das Komplexe, so scheint mir: beginnt bereits damit, daß die beiden Seiten der Formel: Stuttgart und Kunst heute nicht als so selbstverständlich genommen werden können wie noch bis ins achtzehnte, vielleicht sogar bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hinein. Nicht selbstverständlich, das heißt: Stadt ist heute eher so etwas wie ein bloßer Ballungs- und Konzentrationsraum von vielen Menschen, nicht mehr (oder nur im äußerlichen Sinne einer administrativen Aufarbeitung von statistischen Daten) eine Organisation. Städte, die aus einer organisierten Mitte heraus historisch gewachsen sind, sind von einem bestimmten Moment an in Gefahr, zu Wucherungen aus Vororten und Eingemeindungen zu werden; Beispiel: Bonn. Oder die Organisation verliert an organischem soziologisch-politischem Motiv-Zusammenhang; so erscheint West-Berlin heute fast wie eine dicht aufeinandergerückte Ansammlung von Mittel- und Kleinstädten: was früher Viertel oder Quartier war, läßt sich nur schwer mehr in einen Gesamtverband einbinden. Stuttgart besitzt in dem Oval, das vom Neckar bis zum Hang Westbahnhof - Botnanger Sattel reicht und seitwärts von wechselnden Hängen begrenzt wird, so etwas wie einen geschlossenen Stadtgrund. Auf diesem aber ist nur ein begrenzter, immer noch den Stadtgrenzen um 1840 entsprechender Teilbereich als Stadtkern zu bezeichnen; die eigentliche Ausdehnung verläuft in nur assoziierten Stadtteilen, wie etwa Ostheim-Gablenberg oder Cannstatt, und Vororten, die sich ins umgebende Landgebiet ausdehnen. (Erschien noch vor zwanzig Jahren Sillenbuch als Stadtaußenbezirk, so hat sich diese Vorstellung heute bis Heumaden gedehnt oder, in einer anderen Richtung: von Degerloch und Möhringen bis nach Echterdingen und Leinfelden usw.) Diese Situation des relativ eng begrenzten Stammgebiets mit sozusagen zerflatternden Außenbezirken teilt Stuttgart mit anderen Städten, sie ist hier insofern besonders ausgeprägt, weil sich eher ein ländlicher Zug, der von außen bestimmt wird, erhalten, als ein besonderes Stadtbewußtsein entwickelt hat.

Dies nur rekapitulierend. Die Entwicklung der Architekturszene und der städteplanerischen und restaurierenden Unternehmungen im zwanzigsten Jahrhundert geben Anschauungsmaterial genug. Stadt, so möchte ich etwas zugespitzt sagen, eine Stadt wie Stuttgart, erscheint heute nicht mehr als etwas, das man so eindeutig definieren kann wie vor 200 Jahren. Dem entspricht die Veräußerlichung des Bezugs, den die Einwohner der Stadt zur Stadt haben, wie ebenso ein nur vages und oft nur ganz äußerlich mit städtischen Merkmalen verbundenes Bewußtsein von Stadt. Das scheint, wenn man andere Städte vergleicht, dort gefestigter, wo alte Bau- und Stadtplansubstanz noch bestimmend ist, wie etwa in München oder Köln, zeigt jedoch da, wo eine dem Altbestand fremde Struktur die Stadt durchdringt, wie etwa in Frankfurt, ganz offene Zerfallsmerkmale. (Zwar hat sich gerade in Frankfurt der Versuch mehr als anderswo angeboten, in die entstehende Lücke so etwas wie eine neue kommunale kulturelle Initiative hineinzuschieben. Es muß aber gefragt werden, ob dieser Versuch nicht besonders deutlich gezeigt hat, wo Mangel herrscht.) Auf der anderen Seite scheint dort die Konzentration des Stadtbewußtseins ungezwungener integrierbar, wo die Arbeitsbereiche untrennbar mit der Stadt koordiniert sind, wie zum Beispiel in Hamburg, wo Hafen und Industrie ins Stadtbewußtsein hineinzureichen vermögen. Wo wiederum Schwierigkeiten liegen, wenn Wohngebiete als Anhängsel zum Arbeitsbereich erscheinen, zeigen alle Städte des Ruhrgebiets. Vom Stadtbewußtsein dieser Städte aus könnte man sogar sagen, daß es eher ein Gesamtempfinden für die Einheitlichkeit des Raums gibt, der von Duisburg bis Dortmund, von Essen bis Wuppertal reicht. (Der Schnitt liegt zwischen Düsseldorf und Duisburg oder zwischen Köln und Solingen.)

Was ich sagen will, und die Beispiele sollen nur konkrete Andeutungen liefern, nicht aber argumentative Beweise, läßt sich in den Satz zusammenfassen: Städte am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts haben ganz bestimmte Schwierigkeiten in der Identifikation mit sich selbst. Das schien leichter unmittelbar nach 1945. Was jedoch damals leichter schien, hat sich heute entweder als Selbsttäuschung oder als Problematik erwiesen. Die Schwierigkeit der Selbstidentifikation schließt ein die Schwierigkeit der Stadtbewohner, jeweils einzeln oder gruppenweise sich mit der Stadt zu identifizieren. Die Schwierigkeit der einzelnen Bewohner aber, sich zu identifizieren, läßt sich nicht durch Planungen, Maßnahmen und Aktivitäten auflösen. Die Entfremdung, wenn ich so sagen kann, läßt sich nicht zurücklenken auf eine Art neu geplantes städtisches Heimatgefühl. Der Verlust der Selbstidentifikation der Städte heute findet keine selbstverständliche hilfreiche Gegenbewegung in Versuchen der Bewohner, eigener Entfremdung zu steuern; beides hat oft die Tendenz, sich zu steigern. Zwar wird das Negative gefühlt. Nur so sind Aktivitäten wie kommunale Unternehmungen, Fußgängerzonen, Stadtteilfeste, Bürgerhäuser usw. zu verstehen. Aber alle diese neuen und durchaus weiter zu treibenden Versuche sind Mangelsymptome, sie haben überdies in den verschiedensten Städten mehr Ähnlichkeiten miteinander, als daß sie Ausprägungen entwickeln, die sich auf das Spezifische gerade dieser einen konkreten Stadt beziehen. Die Anlagen der neuen öffentlichen Verkehrsmittel, auch ein Beispiel, lassen mich von ihrem Erscheinungsbild völlig im unklaren, ob ich mich in Stuttgart, in Frankfurt oder in München befinde.

Wenn aber Stadt mehr sein soll als nur eine Ansammlung von Häusern, in denen bestimmte Mengen von Menschen wohnen, die im Bereich dieser Ansammlung von Häusern Arbeits- und Lebensmöglichkeit gefunden haben, so müssen sich Akzente setzen lassen, die mit dem Namen dieser Stadt benennbar sind. Diese Akzente waren zu definieren als das, was man städtische Kultur nennen kann. Kultur im weitesten Sinne, nicht schon Kunst: nicht schon spezielle künstlerische Ausdrucksformen. Auch aus Arbeitsplätzen oder Industrieanlagen läßt sich ein kulturelles Element ableiten. So ist das Erscheinungsbild des Hafens für Städte wie Hamburg oder Rotterdam bereits auch kulturell bezeichnend, weil sich daraus bestimmte Lebensformen ergeben. Aber wäre Stuttgart in diesem Sinne eine Stadt mit Mercedes-Kultur, Bosch-Kultur, Porsche-Kultur, um nur drei bekannte und beliebte Schlagworte zu nennen?

Die Beantwortung der Frage erübrigt sich; Kultur als ein Vielfältiges aus Lebensrhythmus, tageszeitlichen und jahreszeitlichen Gewohnheiten, Aktivitäten, die über das bloß materielle Interesse hinausgehen, von Modeakzenten, Gaststätten- und Kneipengewohnheiten bis zu religiösen Bräuchen, von sogenannter Wohnkultur bis zu musikalischen Darbietungen, Kunstangeboten und dem Angebot der in der Stadt ansässigen Massenmedien, wäre Stadtkultur in einem ausgezeichneten Sinne ja nur dann, wenn sie sich unverwechselbar als zu diesem Stadtnährboden zugehörig erwiese. Kultur kann als solche, so ist unser Verständnis davon, nur lebendig sein, wenn sie unlösbar mit ihrem Nährboden aus Topographie und Sozialstruktur verbunden ist. So hat es im Altertum, in China oder im Mittelalter unverwechselbare Stadtkulturen gegeben. Ist der Vergleich zur heutigen Situation noch möglich? Ist kulturelles Leben heute nicht zugleich etwas, das die verschiedenen möglichen Nährböden uniform überspielt und sich vereinzelt bis in die Abgeschlossenheit kleiner Cliquen und Zirkel? Etwas, das ebenso vage ins Globale strebt (in Äußerungen, die in Südamerika wie in Japan, in den USA und in Sowjetrußland vorkommen können), wie es gleich vage ins verengt Regionale drängt (in das Besorgtsein um das Blühen und Gedeihen gerade dieses Konzerthauses, dieses Kunstvereins oder dieser Anhängerschar gerade dieses Malers oder Autors)?

Auf der anderen Seite, und damit kehre ich nach langer Abschweifung zur Formel zurück, von der ich ausgegangen bin: Kunst in Stuttgart, Stuttgart und Kunst, dieser Begriff, diese Vorstellung, diese immer noch für vorhanden gehaltene Erscheinung: Kunst. Auch hier eher Unbestimmtheit, Vagheit, Unsicherheit, Problematik, Identifizierungsschwierigkeit als eine klare und klar abgrenzbare Definition. Deutlicher als alles andere hat der Einschnitt der nationalsozialistischen Kunstpolitik, die ja ihrerseits historische Wurzeln
gehabt hat, gezeigt, daß es im zwanzigsten Jahrhundert keine normative Festlegung von Kunst mehr geben kann. Eher wäre das als künstlerisch interessant zu bezeichnen, was immer wieder versucht, gegen die überkommenen normativen Abgrenzungen anzugehen, sie auszuweiten, sie zu überspielen, sie außer Kraft zu setzen, ja sie in ihr Gegenteil zu verkehren. Wenn etwas als Kennzeichen dafür angesehen werden kann, was im zwanzigsten Jahrhundert künstlerisch lebendig ist, dann eher das, was im Dritten Reich als entartet
gebrandmarkt wurde, als das, was bis heute an traditioneller Ableitung versucht wird. Es geht dabei nicht um Schlagworte. Es geht darum, daß Kunst, vom Material wie vom Gegenstand, vom Gehalt wie von der Ideologie her, sich in Bereiche verlagert hat, die mit einer positiven Ästhetik nicht einzuholen sind. Ob dabei der Begriff der Kunst selber sich zersetzt oder, gemessen an der historischen Überlieferung und deren ästhetischen Vorstellungen, seine Brauchbarkeit verloren hat, ist eine offene Streitfrage.

Aber es wird musiziert, gemalt gestaltet, geschrieben. Es werden Konzerte gegeben, Ausstellungen veranstaltet, Bücher geschrieben, verlegt, verkauft und gelesen. Hat so etwas wie Kunst, unbefragt, sich durchgesetzt? Empfinden nicht Menschen nach wie vor das Verlangen, Musik, Malerei oder Literatur zu konsumieren? Feuilletons berichten täglich über künstlerische Ereignisse, Rundfunksender verbreiten rund um die Uhr künstlerische Erzeugnisse, und seien es nur die der Popmusik. Soli man es nicht einfach so unbefragt lassen und lediglich berichten, was es überhaupt gibt, denn es gibt ja, wie ein praller Band wie der vorliegende bezeugt, eine ganze Menge davon? Was es, zum Beispiel, in Stuttgart gibt?

Gemeint ist aber offenbar doch nicht die bloße Addition eines Städtenamens mit dem, was ganz allgemein heute so unter Kunst verstanden wird oder was sich an städtischen Institutionen in bezug auf so etwas wie Kunst, wie fragwürdig das auch immer sein möge, vorfindet. Findet es sich nur vor, gibt es das nur so neben anderem, neben Boutiquen, Kaufhäusern: Hotels, Bundesgartenschauen, Sängerfesten, Straßenmusikanten, Stoßverkehr, Rotweintrinkern in öffentlichen Anlagen? Oder läßt sich doch irgendwo ein Punkt finden, ein Begriff, eine Vorstellung, die beides: Stadt und Kunst notwendig, zwingend, überzeugend aneinander bindet? Manches scheint sich nur einfach so weitervererbt zu haben: Museen, Akademien, Hochschulen, die Liederhalle, das Gustav-Siegle-Haus; das zur letzten Bundesgartenschau neu errichtete Planetarium gilt als eines der erfolgreichsten Europas. Warum? Weil es die meisten Besucher hatte. Fragt man an anderer Stelle, kommen ähnliche Auskünfte, Rekordbesuche bei dem und dem Konzert, überwältigende Zahlen, was die Stauferausstellung betrifft. (Ähnlich war es 1979 in Köln mit der Parlerausstellung; wobei zu fragen sein könnte, was hatten denn die Staufer mit Stuttgart öder die Parler mit Köln zu tun?) Aber die Zahlen von Besuchern sind wiederum nur Statistik. Entspricht diese Statistik der bloß statistischen Ansammlung von Menschen zu einer heutigen Stadt? Sollte vielleicht Kunst in einer Stadt heute zum Ziel haben, immer höhere Zahlen von Betrachtern, Besuchern, Zuhörern anzulocken, zu was auch immer?

Die Frage ist zynisch und ernst zugleich. Denn umgekehrt müßte ich, wollte ich etwa das Interesse an einer kleinen Galerie, die sich für sogenannte progressive Kunst einsetzt, statistisch abmessen, einen Prozentsatz einsetzen, der gegenüber der Besucherzahl der Stauferausstellung vollkommen irrelevant wäre. Spielen denn diejenigen, die an heutiger Kunstausübung, aktiv und passiv, beteiligt sind, überhaupt eine Rolle im Bild einer Stadt? Sind es Außenseiter, Störenfriede, gar eine bloße Lobby, die mit Hilfe der Medien einen bestimmten Aufmerksamkeitsgrad künstlich wachhält? Wer hat denn von den Normalbesuchern der letzten Bundesgartenschau de Plastiken, die hier und da am Wegrand aufgebaut waren, wirklich dort stehen haben wollen? Und dienen nicht selbst die erklärbaren Plastiken des Bildhauers Hrdlicka, die der Besitzer, die Galerie Valentien, fleißig von jeder neuerlichen farbigen Verunreinigung säubern läßt, schließlich nur kessen Backfischen zu gewagten Scherzen? Erinnert man sich nicht an den Volkszorn, den die Werbezeitung "Wochenblättle" bei Gelegenheit einer in öffentlichen Anlagen postierten Moore-Plastik entfachte? Nein, wenn die Firmen Bosch oder Mercedes oder Porsche, um meine schon einmal genannten Beispiele ein wenig einfallslos zu wiederholen, bestimmenden Einfluß auf Stuttgart ausgeübt haben, direkt und indirekt, so kann man das von der Kunst die heute gemacht wird, gewiß überhaupt nicht im gleichen Sinne sagen. Alte Kunst vielleicht. Aber wenn Oskar Schlemmer, Willi Baumeister oder Ida Kerkovius als Namen von Stuttgarter Malern über die Grenzen Stuttgarts hinaus, ja international mit dieser Stadt in Zusammenhang gesehen werden: Wie viele Bewohner dieser Stadt kümmert das? Und was bewirkt das anderes als ein verborgenes Geraune von Subgruppen oder eine Notiz im Feuilleton der ortsansässigen Zeitungen und in den Kulturberichten des Süddeutschen Rundfunks? Kunst in Stuttgart, Stuttgart und Kunst, das ist eine Addition, weil Kunst heute überall und immer bloß eine Addition ist, weil sie nichts bewirkt außer ein bißchen Bewußtseinsveränderung, vielleicht sogar ein klein wenig Lustgefühl im Inneren von ein paar Verschrobenen? Ist das die Antwort?

Was ich aufrufen möchte, ist das Gegenteil von Stolz und Selbstgefälligkeit. Was ich aufrufen möchte, ist Skepsis und Mißtrauen auch gegenüber dem, was doch offenbar in breiter Fülle, schilderbar, vorhanden ist. Stuttgart ist dabei nur ein Beispiel. Wollte man: was die Skepsis betrifft, auf Spezifisches eingehen. so müßte man sagen, daß die Durchdringung dieser Stadt eher mit ländlichem als mit städtischem Bewußtsein sich häufig als latenter Widerstand einer bodenständigen konservativen Einstellung zeigt. Das Fortschrittliche ist hier, stärker als anderswo, zwar vorhanden, aufgrund einer gewissen Neugier, aber doch überher, zusätzlich. Daß Weißenhofsiedlung und Gegensiedlung des Architekten Schmitthenner sich zu friedlichem, pluralistischem Beieinander zusammengefunden haben, das ist charakteristisch. Hat nicht auf dem Gebiet der Architektur Stuttgart überhaupt eine prägende künstlerische Note erhalten? Aber was prägt7 Der restaurierte Schloßplatz? Der Bonatzsche Bahnhof? Liederhalle oder Rundfunkgebäude von Gutbrod? Was zeigt sich am Nebeneinander gerade der Gutbrodschen Bauten im Park der Villa Berg mit der alten Villa? Was in der Verbindung eines mit Kupfer verkleideten Betonmassivbaus einer Versicherungsgesellschaft mit der "restaurierten" Calwer Straße? Pöseldorf in Hamburg, der Schnoor in Bremen oder das Altstadtprojekt in Köln haben doch nicht solche Kontraste.

Wenn eine Stadt, richtig verstanden, in sich Kunstwerk sein könnte und sein wollte, ich denke an antike, orientalische oder mittelalterliche Städte, vielleicht sogar an London, Amsterdam oder Stockholm: dann kommt mir Stuttgart heute wie ein Versuchsgelände vor, auf dem mancherlei unternommen worden ist, aber immer nur eins sich durchsetzt, die Längsachse der Talausdehnung, die stets die Tendenz hat, begehbare Stadtgrundfläche zu zerteilen wie eine Schichttorte. Vielleicht liegt hierin gerade ein Vorteil, etwas, das dennoch Lockerheit erlaubt und, vielleicht, Zukunft? Denn was so unstabil, so nebeneinander geworden ist, hat möglicherweise die Chance, auch weiterhin offen zu sein. Ist es so?

Wenn ich an die Stadt Stuttgart als an ein Kunstwerk denke, Kunst im weitesten Sinne, wie gesagt, denke ich an etwas ganz anderes. Es gibt eine, wenn man so sagen kann, städtebauliche Eigenheit die mir für Stuttgart charakteristischer scheint als alle Gebäude der Stadt und die auch in dieser Form in keiner anderen Stadt so vorkommen: Das sind die vielerlei Staffeln, die die Unterschiede in der Geländehöhe im Stadtgebiet überbrücken. Für mich ist Stuttgart eine Stadt, die nicht durch Straßen, sondern durch Staffeln strukturiert ist. Aber ich will auch nicht übertreiben. Wenn ich die Staffeln als Strukturelement Stuttgarts hervorhebe, so möchte ich nur den Blick lenken auf das, was aus den Gegebenheiten einer Stadt wie Stuttgart heraus möglich ist, was sozusagen aus der Anlage- und Bausubstanz einer solchen an Hügel angrenzenden und sich über Hügel hinwegbewegenden Stadt von selbst ergibt. Kann man anderes vergleichen? Die Parkanlagen der Villa Berg und des Rosensteinschlosses, Hangbebauungen auf beiden Seiten des Tals, eine gewisse zwanglose Organisation der Hänge, Wohngebiete wie Weinberge, vielleicht das Universitätsgelände, Friedhöfe an den verschiedenen Stellen der Stadt?

Mein Versuch, Skepsis zu verbreiten und, was Kunst in der heutigen Kommunalpolitik betrifft, eher Irritation als Ermutigung, wäre jedoch allzu einseitig, würde ich ihm nicht das hinzufügen, was ich, ganz persönlich, als einzelnen der nicht weiß, wie viele an Gleich- oder Ähnlichgesonnenen er überhaupt zu finden vermag, an Erlebnis und Auseinandersetzung mit Kunst in dieser Stadt Stuttgart erfahren habe. Ich bin ein Zugereister und sehe die Dinge von außen. Gut zwanzig Jahre Aufenthalt machen noch keinen Einheimischen. Das teile ich gewiß mit vielen. Als ich 1954 zum erstenmal nach dem Krieg nach Stuttgart kam, war Kurt Leonhard, der mich in den Bechtleverlag in Esslingen aufgenommen hatte, mein Kunstführer, auch er ein Zugereister, aber bis heute unermüdich, Kunst im Raum Stuttgart zu vermitteln, zu entdecken, vorzustellen. Er nahm mich mit zu einer Geburtstagsfeier bei Ida Kerkovius und brachte mich in die Galerie Herrmann in der Königstraße, die eben Fotos von Walter Renz ausstellte. Wer sich an die Stuttgarter Kunstszene der fünfziger Jahre erinnert, weiß, daß damit gleich mehrere Stichworte gegeben sind. Was mir auffiel (und dieser Eindruck hat sich bis heute gehalten, er ist vielfach bestätigt und kaum widerlegt worden), war, daß Kunstleben, Kunstinteresse in Stuttgart, offenbar mehr als anderswo, eine Sache keiner Zirkel war und ist. Das zeigte sich im Umkreis von Ida Kerkovus, das zeigte sich auch in einer Figur wie Herrmann, beides wies zurück auf frühere Verbindungen. Über Walter Henz, den als Maler allzu Vergessenen, führte der Weg zu Grieshaber.

Die Verbindung zu Grieshaber stellte sich ein Jahr später her, damit zugleich zu Margot und Max Fürst und Ludwig Greve. Diese Konstellation ist, bei allen Wandlungen sonst, die Basis geblieben für meine Erfahrung von Kunst und Stuttgart. Der Bezug dieser Stadt, um das Wort Auseinandersetzung zu vermeiden, zu diesem so typisch aus dem Wirkraum dieses Landes herausgewachsenen Werk Grieshabers ist mir immer so etwas wie ein Musterbeispiel geblieben für die Art, in der hier Kunstverständnis ansetzt oder nicht ansetzt, in der einer geachtet oder umstritten oder dann auch hoch geehrt ist. Daß der Intendant des Süddeutschen Rundfunks, ein Badener, sich mit Grieshaber zu einem Gespräch vor geladenen Gästen zusammenfindet, erscheint vielleicht heute nicht ungewöhnlich, wäre es aber vor 25 oder 20 Jahren gewiß gewesen. Dabei spielen nicht nur zunehmendes Alter oder zunehmender Ruhm eine Rolle. Grieshaber ist, so unbequem er bis heute geblieben ist, doch im Hinblick auf anderes Ungewohnte und Verstörende einer von "uns". Er ist eingebaut worden. Etikettiert wie der ältere Jahrgang eines hiesigen Weins, über dessen Qualität man sich, solange er resch war, nicht so ganz einig war.

Der dritte Schritt, den ich in die Stuttgarter Kunstszene tat, war bestimmt durch die Bekanntschaft mit dem Galeristen Hans-Jürgen Müller, die ich 1958 machte auf einem Fest, das Herbert Hajek und Winfried Gaul in Hajeks Wohnung gaben. Das führte zu Aktivitäten in der ersten Galerie Müllers, die noch Galerie Rauls hieß, Kellerräume in der oberen Rosenbergstraße, führte zur Bekanntschaft mit den Malern Kirohberger, Pfahler, Sieber und dem Bildhauer Lenk. Im gleichen Jahr, in dem ich mit Grieshaber in Berührung gekommen war, hatte ich in Ulm, wo ich Eugen Gomringer besuchte, auch Max Bense kennengelernt, dazu Max Bill und Albrecht Falbri. Als ich 1957, zunächst als freier Mrtarbeiter des Süddeutschen Rundfunks, mit Familie nach Stuttgart zog, entwickelten sich über Bense und in seinem Umkreis wiederum andere Aktivitäten, teils literarischer, teils aber auch künstlerischer Art. Die Ausstellungen, die Max Bense in jener Zeit organisierte, bildeten ein Gegengewicht gegen das damals etwas stagnierende Galerieleben der Stadt, denn erst im zweiten Anlauf, mit der Galerie in der Uhlandstraße, gelang Müller das, was er sich vorgenommen hatte.

Ein anderes neues Zentrum bildete die erste Galerie Behr, damals der eben erst bekannt gewordenen Zerogruppe zuneigend. Ich erinnere mich, daß ich sehr früh eine Ausstellung mit Arbeiten von Mack gesehen habe, die mir bis heute gegenwärtig geblieben ist. Eine Verbindung ergab sich zum Malerehepaar Hal Busse und Klaus Bendixen. Über Bense führte der Weg zur Buchhandlung Wendelin Niedlichs, die dann bald auch eine Galerie wurde. Hier habe ich mich viele Jahre am wohlsten gefühlt, vielleicht, weil hier am wenigsten Wert gelegt wurde auf programmatische Begrenzung, dafür umso mehr darauf, Unbekannten ein Forum zu liefern. Die Maler Reiner Schwarz und Jan Peter Tripp habe ich hier zuerst vorgestellt. Was eher zufällig anfing, weitete sich aus, hat mein Leben in Stuttgart begleitet und in mancher Weise auch bestimmt. Dennoch, bei aller gelegentlichen Beteiligung, die hauptsächlich in Versuchen bestand, literarische und künstlerische Methoden auf einen Nenner zu bringen, bin ich Beobachter geblieben, habe ich Stuttgart als einen Ort gesehen, an dem wie in anderen Städten Kunst vorkam, war Stuttgart eines von mehreren Beispielen, in mancher Weise, weil ich hier gewohnt habe, das nächste, in anderer aber auch, infolge der allzu großen Nähe, war ich unaufmerksamer als vielleicht anderswo.

Aber was habe ich erfahren? Wo finde ich den Standpunkt, den ein zufälliger Einzelner, der durch Begegnungen eine Weile ins Kunstleben hineingezogen wird, heute einnimmt, einnehmen kann? Wenn ich mich dafür interessiere, welche Bilder gemalt, welche Plastiken gestaltet, welche neuen künstlerischen Tätigkeiten in welcher Richtung ausgeübt werden, wenn ich aber gleichzeitig auch daran interessiert bin zu erfahren, welche Wege diese Produkte in die Öffentlichkeit nehmen, welche Institutionen dem entgegenkommen, welche Vermittlungen sich einschieben, welche Motive dabei eine Rolle spielen, programmatische, sachbezogene, ideologische, kommerzielle, Selbstverwirklichung, Ruhm, Geschäft usw., so tue ich das als Einzelner. Wem ich dabei begegne, Künstler, Kritiker, Vermittler, Handeltreibenden, Institutionsangehörigen, begegne ich wiederum als Einzelnem. Von Kurt Leonhard bis Wendelin Niedlich, von HAP Grieshaber bis Jan Peter Tripp, vom Leiter der Staatsgalerie bis zum Galeristen Max-Ulrich Hetzler, es sind Einzelpersonen, die sich hier und da auf etwas stützen können, die man insgesamt vielleicht als eine Gruppierung beschreiben könnte, die aber nicht wirklich die Merkmale einer soziologisch bestimmbaren Gruppe erfüllen.

Sind aber nicht Konzertbesucher, Besucher von Vernissagen, Ausstellungen, Lesungen: Gruppen? Die Frage ist, was für das Verhältnis einer Stadt, einer Stadt wie Stuttgart, zu Kunst, zu der Kunst, die heute gemacht wird, einer höchst umstrittenen und unsicheren Sache, als bestimmend angesehen werden kann. Nicht die statistisch erfaßbaren Mengen, die in Schauveranstaltungen strömen, so verdienstvoll diese auch sein mögen, tragen ja das Kunstinteresse.

Keine Gruppe überhaupt und schon gar nicht die große Zahl der Unbestimmbaren trägt, was an Kunst vorhanden ist. Es sind Einzelne, Vereinzelte meinetwegen, sich einzeln Verständigende, die etwas herstellen und die das Hergestellte schätzen, vermitteln, dazu Stellung nehmen, etwas dafür tun. Kunst, so scheint mir, ist gerade in der Situation des zu Ende gehenden zwanzigsten Jahrhunderts ein Scheidemittei und ein Beweisinstrument, an dem sich der Einzelne noch einmal realisieren kann vor den Gruppen mit unbestimmbaren Rändern und vor der nur statistisch erfaßbaren Zahl. Damit soll nicht einem selbstgefälligen Individualismus das Wort geredet werden. Es scheint mir vielmehr eine notwendige Folgerung, daß Kunst nur so noch Sinn haben kann, sei sie berühmt und hoch im Preis oder anonym und von einem der vielen Heranwachsenden produziert, die anderes wollen als die leere Logik der freien Marktwirtschaft und des Konkurrenzdenkens.

Nimmt man eine solche Folgerung ernst, so erkennt man auch, daß es nicht darauf ankommt, Kunst vorzuorganisieren, auch nicht darauf, Stadtplanung "künstlerisch" zu gestalten. Das Entzücken über die neue Calwer Straße und die dazugehörige Passage gleicht allzu sehr dem Entzücken über ein neues Automodell oder eine neue Kleidermode. Das ist Gruppensache, kann arrangiert werden. Worauf es aber ankäme, wäre. den Freiraum herzustellen, innerhalb dessen eine Selbstrealisation mit Hilfe von Kunst möglich ist, wäre überhaupt erst einmal, das Zutrauen zu entwickeln und zu stärken, daß so etwas nicht nur möglich ist, sondern daß es die einzige Möglichkeit ist, ein Verhältnis zu dem zu gewinnen, was heute noch Kunst sein kann und was in den Museen eher am Rande als im Scheinwerferlicht erkennbar wird.

Kunst in Stuttgart, das ist ein Bericht, aus dem man in vielfacher Weise lernen kann. Kunst in Stuttgart, das ist aber auch eine Aufforderung. "Neue Kunst und alte Tradition", las ich dieser Tage als Überschrift in einer Zeitung. Warum muß Tradition alt sein? Was heißt es, dagegen etwas zu setzen, das Kunst ist und neu? Warum überhaupt diese Alternativen? Etwas ganz anderes. Überkommene Vorstellungen und Begriffe als Provisorium, das jederzeit, sobald sich nur der Fingerzeig einer passenderen Ausdrucksweise zeigt, weggeworfen werden kann. Das Vorläufige, das allzu rasch festzulegen Kafka als den schlimmsten Fehler bezeichnet hatte, vorläufig lassen. Eine Tradition des Vorläufigen verfolgen.

[1979]