Reinhard Döhl | Vorläufige Anmerkungen zu
den neuesten Arbeiten Günther C. Kirchbergers *) [1978 | 1981]
*)Der erste Teil des Essays verwendet Gedankengänge, die ich
als Thesen für ein Dazwischengespräch im November 1978 in
der Galerie Geiger anläßlich der Ausstellung der Arbeiten
Günther C. Kirchbergers vorgetragen habe, der zweite Teil war gleichzeitig
Katalogtext zur Ausstellung Sindelfingen 1981].
Zweifache Realität
1977/1978 stellte sich für Günther C. Kirchberger und mich
immer nachdrücklicher die Frage, ob das, was bisher zu seinen Arbeiten,
seiner geistigen Entwicklung und ihrer ästhetischen Ausformung
gesagt worden war, als Annäherung an die ästhetische Welt
und Wirklichkeit seiner Zeichnungen und Bilder bzw. als deren Beschreibung
überhaupt ausreiche. Diese Fragen wurden ausgelöst durch eine
Irritation, durch die Beobachtung, daß bei den obligaten Eröffnungen
von Kunstausstellungen die Rede in der Regel nicht
über ästhetische und stilistische Erörterungen und Perspektiven
(auch historischer Art) hinausging. Man war zwar bemüht, immer
wieder das Bild als Gegenstand zum geistigen Gebrauch zu betonen, hervorzuheben,
daß die ausgestellten Bilder auch für sich veränderndes
Bewußtsein stünden. Man konnte aber oder wollte nicht erklären,
daß und wieweit dieses auch ein sich veränderndes gesellschaftliches
Bewußtsein, ein sich veränderndes Bewußtsein von Gesellschaft
war. Die Diskussion der Frage Realismus oder Realistik, die sich im
Anschluß an neue realistische Malversuche, an den sogenannten
Fotorealismus stellte, an Tendenzen, die oft nur schlechte Reprise einer
neuen Sachlichkeit waren und auf der Basis einer kruden Widerspiegelungstheorie
die Wirkung der Kunst auf die Reproduktion von schon Erkanntem verarmten,
- die Diskussion der Frage Realismus oder Realistik trieb die Irritation
zusätzlich weiter. Für Günther C. Kirchberger und mich
gewann damals eine Erkenntnis des Ästhetikers und Philosophen Karel
Kosik Bedeutung, die besagte, jedes Kunstwerk habe einen Doppelaspekt,
es sei Ausdruck von Wrklichkeit, aber es bilde auch eine Wirklichkeit,
die nicht neben dem Werk und vor dem Werk,
sondern gerade nur in dem Werk existiere. Für die Diskussion der
Frage Realismus oder Realistik formte sich uns diese Erkenntnis um zur
These, daß man es bei jedem Kunstwerk mit einer zweifachen Realität
zu tun habe: mit einer sich in diesem Kunstwerk auf welche Weise auch
immer spiegelnden konkreten
gesellschaftlichen Wirklichkeit und mit einer eigenen, eigengesetzlichen
Realität des Kunstwerkes selbst. Jedes Bild, jede Zeichnung, folgerten
wir, ist also als eigenständige Realität Teil einer gesamtgesellschaftlichen
Realität, auf die es eigengesetzlich reagiert. Zwischen ästhetischer
Realität und
gesellschaftlicher Wirklichkeit bestehen demnach Wechselwirkungen, besteht
ein dialektisches Wechselverhältnis. Nur wenn es gelingt, dieses
Wechselspiel annähernd genau einzusehen, beginnen wir ein Kunstwerk
komplex zu verstehen, kommen wir von der Bildexegese zur Bildhermeneutik.
Konkret hieß dies, daß fast alles, was bisher zu Kirchbergers
Arbeiten gesagt worden war, allenfalls mehr oder weniger Beschreibung
ihrer Eigengesetzlichkeit, ihrer ästhetischen Herkunft blieb; daß
die Aussage,
Kirchbergers Bilder seien Spiele mit der Seherfahrung, sollten in differenziertes
Sehen einüben und damit auf Erweiterung und Veränderung unserer
Seherfahrung einwirken, daß eine solche Aussage das skizzierte
Wechselverhältnis kaum hinreichend beschrieb. Schon Anfang der
70er Jahre hatte ich vermutet, daß eine nur ästhetische Bestandsaufnahme
der Kirchbergerschen Bilderwelt nicht ausreiche. Kirchbergers Zeichnungen,
vermutete ich damals, leisten eine über das Visuelle hinausweisende
Täuschung und Ent-Täuschung. Natur, Landschaft, Himmel geben
sich auf den Bildern den Anschein. Aber was wir erwarten, sehen wir
nicht. Sind Bilder Gegenstände zum geistigen Gebrauch, stellen
Kirchbergers Zeichnungen nicht nur unsere Seherfahrung und -erwartung
in Frage, sondern stellen auch Fragen. Zum Beispiel sehen wir Natur,
Landschaft, Himmel überhaupt richtig, wenn wir sie sehen, wie wir
sie sehen? Nicht gemalte realistische Appelle, eher die Fensterbilder
Kirchbergers schienen mir deshalb sinnvoller ästhetischer Beitrag
zum Thema Ökologie. Diese Vermutung auf ihre Richtigkeit zu überprüfen,
hieß zu versuchen, Kirchbergers Zeichnungen und Bilder über
ihre ästhetische Eigengesetzlichkeit hinaus auch inhaltlich als
zeitgenössische Malerei zu begreifen. Geht man von den Bildgegenständen/inhalten
aus, die man zwischen 1970 und 1978 auf den Arbeiten Kirchbergers immer
wieder zu erkennen glaubt, lassen sich Fenster, später Türen,
Wolken (mit und ohne Regenbogen), sehr abstrahierte Landschaft in unterschiedlichster
Ausformung, Kniee, Schranken und schließlich Leuchttürme
aufzählen, aber auch Gebilde, Figuren, die Kirchberger selbst durch
den Bildtitel dem Bereich Biblis zugewiesen hat. Alle diese Bildgegenstände/inhalte
treten einzeln, als Doppelfigur, in mehrfacher Spiegelung und Wiederholung,
in den verschiedensten, farbig oft überraschenden Konstellationen
bzw. Konfigurationen auf. Farbigkeit, Doppelfigur, Spiegelung, Wiederholung,
überraschende Konstellation bzw. Konfiguration sind gleichsam die
Grammatik und Syntax des Malers, und über die ist Ausreichendes
gesagt worden. Die Frage ist aber auch, warum Kirchberger bei seinen
Bildgegenständen/inhalten diese Grammatik, Syntax
verwendet, was Grammatik und Syntax mit diesen Gegenständen/Inhalten
zu tun haben. Sieht man die aufgelisteten Bildgegenstände/inhalte
einmal genauer an und fragt, für was sie zeichenhaft stehen, erscheinen
sie formal als das Allgemeinste, was man an heutiger Wirklichkeit, was
man heute an
Wirklichkeit zeigen kann. Der Kontext zu der von Kirchberger häufig
variierten Knie-Figur ist zum Beispiel in unserem sexuell determinierten
Werbealltag leicht zu finden. Leuchttürme sind auffallende (phallische)
Formen in einer Flachlandschaft, gelegentlich auf felsigen Küsten,
gegen den Horizont gut wahrnehmbar, die als Orientierung für die
Schiffahrt funktionieren. Zum Leuchtturm gehören der Horizont,
die Ferne, in die ich fahren, die Fremde, aus der ich sicher zurückkehren
kann. Das Gegenteil signalisieren die Schranken, die man nicht nur von
Sonntagsspaziergängen her kennt: das Ausgrenzen, das Aussperren,
das Fernhalten zum Beispiel der Autos von Forstwegen oder Privatstraßen.
Hinter diesen Schranken kann sich eine Knie-Form (auf optisch verblüffende
Weise oft mit der Schranke verbunden) befinden oder - wie bei den Fensterbildern
- eine auf die Formel reduzierte Landschaft. In beiden Fällen erscheinen
die Schranke, das Fensterkreuz als optische Sperren, aufhebbar allenfalls
im
ästhetischen Spiel durch eine optische Täuschung. Die Landschaft
selber, die Natur, für die sie steht, bleibt ausgegrenzt, bleibt
Ausschnitt in einer fast schmerzhaften Abstraktion und Vereinfachung,
höchst künstlich überdies und im Grunde genommen eigentlich
gar nicht vorhanden. Andererseits: ist die Natur, die wir so nennen,
in der wir uns realiter bewegen, die Kulturlandschaft nicht auch von
Menschen geformte, von Menschen für Menschen verfügbar gemachte
und damit künstliche Natur? Diese künstliche Natur und Kulturlandschaft
wird heute unter anderem bedroht durch jene Atomreaktoren und Schnellen
Brüter (der Euphemismus ist schlagend!), die in ihrer eigentümlich
schönen Synthese von Form und Funktion eines Tages vielleicht ebenso
als Kulturdenkmal unseres spätkapitalistischen Zeitalters gelten
werden, wie die Pyramiden für das alte Ägypten. Mit dem feinen
Unterschied freilich, daß die Pyramiden Gräber waren, architektonischer
Ausdruck eines komplexen, weltanschaulichen Sinngefüges, in dem
der Tod lediglich ein Durchgangsstadium war, während die Schnellen
Brüter allenfalls Gräber schaffen und in ihrer Synthese von
Zweck und Form über die Sinnentleerung der nurmehr materiell orientierten
gesellschaftlichen Systeme, die sie hervorgebracht haben, kaum hinwegzutäuschen
vermögen. Die Vervielfältigung der Biblis assoziierenden Form
auf einigen Bildern und Zeichnungen, Schranken und starke Untergliederung
der Fensterbilder ("9er") halluzinieren Raumperspektiven, die ausweglos
scheinen wie Gefängnisse. Da Kirchbergers Bilder und Zeichnungen
in keinem Fall krude Abbildungen wirklicher Vorlagen oder Uberführungen
realer in ästhetische Gegenstände sind, entziehen sich Bildgegenstand/inhalt
jeder eindeutigen Identifikation. Kirchbergers Bilder und Zeichnungen
bilden nicht Gegenstände außerhalb des Bildes ab, sie zeigen
vielmehr Bildgegenstände/inhalte, die im Formwissen des Malers
wie des Betrachters Entsprechnungen haben, Erinnerungen abrufen. Denn
unser Formwissen hat nicht nur Bilder von realen Gegenständen gespeichert,
sondern gleichsam in abstrakter Form auch das Wissen um ihre Bedeutung
und Funktion. So gesehen ließe sich bei Kirchbergers Figuren durchaus
auch von reduzierten
archetypischen Formfiguren sprechen, die in ihrer Konstellation bzw.
Konfiguration aus dem Unterbewußtsein des Betrachters das Wissen
um Einschränkung, Aussperrung, Bedrohung abrufen. Kirchberger hat
mehrfach einen Satz des englischen Mathematikers und Philosophen Alfred
North Whitehead von 1953 zitiert: "The teleology of the universe is
directed to the production of beauty". Man könnte sagen, daß
die Bilder und Zeichnungen seit 1970 diesen Satz zunehmend kritischer
reflektieren, wenn die in ihnen gezeigte Schönheit in einer zweiten
Schicht die Bedrohtheit, die Gefährdung vernünftiger Teleologie
zeigt: konkret durch die Zunahme an Unfreiheit, ökologische Gefährdung,
architektonische Gefängnisse, Schranken, zunehmende Zerstörung
der Natur, in die wir schon einmal irreparabel eingegriffen haben. Hier
ziehen, ließe sich pointieren, die Fensterbilder Kirchbergers
aus dem Fortschritt vom Dürerschen Rasenstück zum Kunstrasen
gewissermaßen auch noch die ästhetische Konsequenz des Kunsthimmels
mit Kunstwolken, bei dem eine angedeutete Iris auf Regenbogen und damit
auf ursprüngliche Sinnzusammenhänge verweist. Umgekehrt signalisieren
die auf den ersten Blick oft freundlichen Leuchttürme vor diesen
künstlichen Himmeln durchaus Bedrohung, wenn man bei genauerem
Hinsehen entdeckt, wie tief als Röhren sie schon in den Boden ragen.
Günther C. Kirchberger ist Maler. Seine Möglichkeiten, gesellschaftliche
Irritation und persönliche Verunsicherung auszudrücken, sind
durch die Eigengesetzlichkeit seines Handwerks bestimmt und begrenzt.
Dennoch glaube ich sagen zu dürfen, daß Kirchbergers Bilder
und Zeichnungen im Laufe der 70er Jahre zunehmend ästhetische Spiegelungen
des Bewußtseins einer Gesellschaft sind, die sich ihre radikale
Gefährdung und Bedrohung selbst geschaffen, die hinter der schönen
Fassade einer Synthese von Funktion und Form ihren Untergang schon programmiert
hat. Kirchbergers Zeichnungen und Bilder brauchen diese selbstmörderische
Wirklichkeit gar nicht abzubilden, sie spiegeln vielmehr - und das unterscheidet
sie grundsätzlich von jeder realistischen Malerei - die Gebrochenheit
menschlichen Bewußtseins auf einer ästhetischen Reflexionsebene.
Hier finden Syntax und Grammatik des Anscheins ihre gesellschaftsbezogene
Erklärung, läßt sich eine Ende der 70er Jahre oft irritierende
Farbigkeit als ästhetische Verfremdung verstehen, als eine dem
Maler. dem Zeichner zur Hand gegebene Möglichkeit, seine Arbeiten
einer nur ästhetischen Auslegung zu entziehen.
[1978]
Raum Umraum Sinnraum
1978 begann Günther C. Krchberger eine erste Ägyptenreise
vorzubereiten, nachdem er sich die Jahre zuvor vor allem in Mittel-
und Südfrankreich intensiv mit der Architektur, Plastik und Malerei
der Romanik (und Gotik) beschäftigt hatte. Was ihn dabei über
Jahre reizte, die Begegnung mit einer Kunst, die wesentlich Ausdruck
eines geistigen Sinngefüges (eines geistigen Weltgebäudes)
war, wurde auch zum wesentlichen Impuls seiner jetzt folgenden jährlichen
Ägyptenreisen: ein Vorwissen um das hohe Ordnungsgefüge der
altägyptischen Kunst, ihre Sinnbildlichkeit bis hin zur Systematisierung
und damit ihrer Programmierbarkeit. Eine oberflächliche Wahlverwandtschaft
zwischen jeder Kunst hohen Ordnungsgrades und Kirchbergers methodischer
und konsequenter Werkentwicklung darf sicherlich angenommen werden.
In einer solchen Wahlverwandtschaft ist sogar ein wesentlicher Grund
der Frankreich- und seit 1979 der Ägyptenreisen zu sehen, deren
erste etwa mit dem Ende jener Entwicklung zusammenfällt, die wir
einleitend skizziert haben. Erst jetzt war der Blick frei geworden für
das Ordnungsgefüge einer Kunst, in der Inhaltliches formal durchgeführt,
in dem Form immer Inhalt, und das heißt Sinnbezug ist. Die Bedeutung
ägyptischer Kunst und Wissenschaft für das abendländische
Denken ist bis heute nur annähernd beschrieben und erkannt worden.
Der Bogen dieser teilweise nur vermuteten, teilweise bewiesenen Wirkung
reicht - ohne daß ich mich hier auf eine Diskussion strittiger
Fragen einlassen kann - von "Gesetzgebung und Staatswesen" (der sogenannten
"Doppeldoktrin") über die Orphischen Mysterien, die Philosophie
und Mathematik der Griechen bis in die Literatur des 20.Jahrhunderts.
Der erste Historiker des Abendlandes, Herodot, wurde in Ägypten
zum Priester geweiht. Rolle und Bedeutung Ägyptens in der bzw.
für die Geschichte des Juden- und Christentums sind wohl jedem
bekannt. Und als schließlich - in Folge von Ausgrabungen - zunächst
im angelsächsischen Raum das altägyptische Totenbuch und damit
ein umfängliches Corpus altägyptischer Literatur bekannt wurde,
griffen wiederholt Autoren der Moderne zitierend oder anspielend darauf
zurück, im 20. Jahrhundert so gewichtige wie James Joyce oder Ezra
Pound. Das Totenbuch und die erst seit kurzem zum ersten Mal vollständig
zusammen mit Proben verwandter Texte veröffentlichten Unterweltbücher
sind auch wesentliche Hilfsmittel, um die Konsequenzen zu erkennen,
die Kirchbergers Ägyptenreisen für sein Werk hatten. Vordergründig
sind dies eine Fülle von ldeenskizzen, die einmal im Skizzenbuch
gesammelt, von deren einige wichtige aber auch in einer schwarzen Kladde
notiert sind. Aus diesen Skizzen hat Kichberger eine durchgezeichnete
Serie von inzwischen über 50 Postkarten entwickelt, die also zugleich
so etwas wie die erste zeichnerische Formulierung darstellen. Gleichzeitig
sind sie Vorstufe für die spätere größere Zeichnung.
Nur vereinzelt hat Kirchberger bisher zu den Zeichnungen parallel auch
die Lösung im Ölbild versucht Und es ist vielleicht kein Zufall,
daß es hier bisher bei Einzelbildern geblieben ist, daß
Kirchberger nicht wie in früheren Jahren Zeichnungen systematisch
und methodisch ins Ölbild umsetzt. Bei der in diesem Katalog vollständig
in Farbabbildungen dokumentierten Postkartenserie, bei den Zeichnungen
und Bildern zum Ägyptenkomplex lassen sich als thematische Folgen,
als zeichnerische Konsequenzen der Ägyptenreisen folgende Schwerpunkte
erkennen:
1. eine Serie von "Scheintüren",
2. die "Pylon"-Serie,
3. die "Chepri"-Serie.
Ferner zwei Serien, die bereits vom Bildtitel her deutlich die Unterweltsbücher,
das Totenbuch anspielen, nämlich
4. "Das mittlere Tor des Binsengefildes",
eine Serie, zu deren Skizzen Kirchberger mehrfach aus den Sprüchen
des Totenbuches zitiert, zum Beispiel, "Ich kenne das mittlere Tor des
Binsengefildes, / durch welches RE im Osten des Himmels hervorgeht" (149,20/21),
und
5. "Weg des Rosetau".
Angesetzt, wenn auch noch nicht sehr weit entwickelt, wurden die Serien
6. "Doppelkrone" und
7. "Memnon".
Lediglich in Form flüchtiger Notation und erster Skizze liegen schließlich
noch einige Versuche vor, die Pyramiden als Raumzeichen, Unermeßlichkeit
zu ermessen, ästhetisch zu deuten. Ich habe schon früher mehrfach
darauf hingewiesen, daß Kirchbergers Werkentwicklung nicht in Sprüngen
verläuft, sondern sich durch das beharrliche Entwickeln des einen
aus dem anderen auszeichnet. Man kann dies auch so ausdrücken und
sagen: Kirchberger hat kein wie auch immer geartetes vorgegebenes Konzept,
auf das er / nach dem er los malt; seine Malerei entwickelt sich und ihre
Ideen aus ihrer Entwicklung heraus. So lassen sich oft bestimmte formal-inhaltliche
Probleme über weitere Zeiträume in unterschiedlicher Ausreifung
beobachten. Entsprechend war auch die Ägyptenreise, das Ägyptenerlebnis
in der Werkentwicklung formal wesentlich vorbereitet, finden sich zu den
Arbeiten nach 1979 bereits beachtlich früher Vorstufen, Entsprechnungen,
die ein Kommentar mitberücksichtigen muß. Das gilt vor allem
für die Serien der Scheintüren und Pylone. Und das gilt speziell
für den auf nahezu allen Ägyptenzeichnungen anzutreffenden Regenbogen.
Regenbogen, bzw. Iris sind auf Arbeiten Kirchbergers seit 1970 anzutreffen
und erfüllen dort verschiedene Aufgaben. Zunächst ohne eigentlichen
Ort wie das Licht, begegnet der Regenbogen zum Beispiel auf den Fensterbildern
als eine Art inhaltlicher Anmerkung in der Nachbarschaft von Scheinwolken.
Gleichzeitig kann er etwas formal Farbiges sein, das durch eine Öffnung
der Fläche dringt. Das ist etwa der Fall bei zwei "Raumfigur" getitelten
Zeichnungen von 1970, die zugleich zum ersten Mal auch das Thema "Pylon"
anschlagen. Im "Säiger Fensterbild" von 1974 erscheint die Iris im
Fensterrahmen, deutet also Öffnung an, wo keine ist. Die Bildschicht
nach vorn (Fensterrahmen) öffnet sich paradox zu einer dahinterliegenden
Bildschicht (Regenbogen). Hintergründiges wird im Vordergründigen
sichtbar, formal wie inhaltlich. Denn daß ein Regenbogen nicht nur
Iris, formales Spektrum ist, vielmehr ganze Mythologien anspielt, muß
allenfalls unbelehrbaren Formalisten erklärt werden. 1977 treten
an die Stelle der Fensterbilder zunehmend Türenbilder, deren Nähe
zum Fensterbild schon dadurch gegeben ist, daß auf ihnen etwas zu
sehen ist, was eigentlich dahinter sein müßte, am exemplarischsten
vielleicht beim "Türenbild mit Regenbogen" von 1977. Will man dieses
Bild in seiner Bedeutung richtig verstehen, muß man sich die beiden
Bestandteile des Kompositums (Tür - Bild) deutlich machen, die sich
auch als Bild-in(bzw.auf)-dem-Tür-Bild lesen lassen. Denn beim "Türenbild
mit
Regenbogen" zeigt der Bildträger (das Bild) einen Bildträger
(die Tür). Gleichzeitig ist der Regenbogen formale Klammer für
beide Bildträger und zugleich Bildraumerweiterung. Das "Türenbild
mit Regenbogen" zeigt weder Tür noch Bild noch Regenbogen. Tür,
Bild, Regenbogen sind auf ihm gleichsam als formale Idee vorhanden. Auffallend
zeigen die ersten Ergebnisse der Ägyptenreise von 1979, die erste
Serie der Zeichnungen "Scheintüren", geschlossene Türen, die
aufgemalt sind. Auf solche Türen war Kirchberger im Museum in Kairo
und später in den Tempeln und Gräbern immer wieder gestoßen.
Aber was für einen durchschnittlichen Ägyptenbesucher allenfalls
Kuriosum ist, eine Treppe, die vor einer Wand endet, auf der das plastische
Bild einer Tür Unentrinnbarkeit, was den Bereich des Lebens betrifft,
Durchgangsmöglichkeit dagegen für den reisenden Toten andeutet,
- was für den durchschnittlichen Touristen allenfalls Kuriosum ist,
wurde Kirchberger zum entscheidenden Erlebnis: die Einsicht nämlich,
daß Gedanken des Menschen durch jede Tür gehen können,
daß die Tür im Leben eine praktische Funktion, jenseits des
Lebens dagegen einen Sinn hat. Ja. daß es dort der funktionierenden
Tür gar nicht erst bedarf, das ihre Zeichnung, ihre nur ästhetische
Präsenz ausreichen, um den schweren Weg durch die von jeweils drei
Wächtern bewachten Türen des Totenreiches vorstellbar zu machen,
einen Weg. dessen Schwere und gelegentliche Sprünge von Kirchberger
zum Teil in der "Chepri"-Serie angedeutet sind. ("Hügel des Chepri").
Chepre oder Chepri bezeichnet in der ägyptischen Mythologie, die
wesentlich vom Weg der Sonne ausgeht, den Skarabäus, der morgens
die Mistkugel, die er nachts unter der Erde vor sich hergerollt hat, aus
der Erde herausstößt und so den Sonnenaufgang ermöglicht:
Re. Die mythologische Bedeutung dieses Sonnenaufgangs läßt
sich in Tempeln gut studieren, bei denen der Pylon so geplant ist, daß
die aufgehende Sonne das ganze Tempelinnere langsam erhellt. Auch dieses
von festungsartigen Türmen flankierte Eingangstor ägyptischer
Tempel wurde für Kirchberger zu einer Art Sinnbestätigung dessen,
was er in den 70er Jahren immer wieder versucht hatte auf Bildern und
Zeichnungen, auf deren Fläche etwas durchzuscheinen schien. Daß
der Weg des "Rosetau" (oder Rasetjau), "Das mittlere Tor des Binsengefildes"
beim Weg der Seele durch Unterwelt und Totenreich eine Rolle spielen,
verraten bereits die Titel. Auch diese Serien greifen Formales der 70er
Jahre auf und versuchen zugleich bei einem Minimum an Form ein Maximum
an Inhalt zu fassen. Das signalisieren die Serientitel ebenfalls, aber
auch die den Entwürfen des Skizzenbuches angemerkten Zitate. Hier
läßt sich vielleicht am deutlichsten erkennen, was den eigentlichen
Kern, den eigentlichen Ertrag der Ägyptenreisen für Günther
C. Kirchberger ausmacht: die Erfahrung des Bildes als Sinnbild. Das schrittweise
Vordringen in eine geistige Welt. in der man mit dem Bild die Sache hat,
in der das Bild wichtiger, realer als die Realität ist. Gleichzeitig
sehe ich in Serientitel und zugesetztem Zitat aber auch einen Zweifel
angedeutet, ob ein Bild dies heute noch zu leisten vermag, erinnern mich
- vom Maler unbeabsichtigt - die Zeichnungen der Serie "Das mittlere Tor
des Binsengefildes" mit ihrer Überschrift und den zugeschriebenen
Zitaten an das dreiteilige aus Inscriptio, Icon bzw. Pictura und Subscriptio
bestehende Emblem vor allem des Barock, dessen Gebrauch auf der Überzeugung
beruhte, "das Weltgeschehen stecke voller aufdeckbarer heimlicher Verweise,
verborgener Bedeutungen und verkappter Sinnbezüge", und auf der Vorstellung
vom "Verweischarakter alles Sichtbaren auf einen höheren, inneren,
prinzipiellen Sinn der Weltordnung". So wie es einerseits nicht schwer
ist, zu den Zeichnungen des Ägyptenkomplexes formal-inhaltliche Vorstufen
auszumachen (auch die "Memnon"-Serie ist in einigen Knie-Bildern der Jahre
um 1975 vorformuliert), lassen sie sich andererseits leicht mit Hilfe
der Unterweltbücher, des Totenbuches allegorisch auflösen. Doch
wäre dies ebenso verfehlt wie eine Interpretation, die von der Überzeugung
getragen wird, auf Kirchbergers Arbeiten seien konkrete Gegenstände
in ästhetisierter Form zu beobachten. Was die Ägyptenreisen
neben der inhaltlichen Erfahrung, daß das Bild einen höheren
Realitätscharakter als die Wirklichkeit hat, an ästhetischem
Ertrag einbrachten, war die Bestätigung, die Radikalisierung einer
Malerei, die immer wieder versucht, formale Lösungen für Ideen
zu finden. Genau hier mußte Kirchberger das hohe Ordnungsgefüge
altägyptischer Kunst als wesensverwandt empfinden, mußte für
ihn die in seinen Arbeiten bis 1979 formal vorbereitete Begegnung mit
der altägyptischen Kunst fast zu einem Déjà-vu-Erlebnis
werden. Ihm, dem es nicht um die Abbildung von Tür, sondern um die
Idee Tür gegangen war, mußten die Scheintüren der Tempel
und Gräber zu einer Art ästhetischer Bestätigung und Rechtfertigung
werden innerhalb einer künstlerischen Entwicklung, deren Ausgangsproblem
Raum-Umraum jetzt seine Erweiterung in bzw. um den Sinnraum erfuhr. Andererseits
- und hier darf man sich nicht täuschen lassen - in dem Maße,
in dem Kirchberger in der altägyptischen Kunst Äquivalenzen
zu seiner künstlerischen Entwicklung, zu seinen künstlerischen
Problemen fand, mußte er - wie schon in Mittel- und Südfrankreich
beim Studium der Romanik - auch die Erfahrung machen, daß eine derartige
Deckungsgleichheit von Form und Inhalt, Aussage und Darstellung, Sinn
und Gestalt für den heutigen Künstler nicht erreichbar ist.
Unter diesem Aspekt signalisieren für mich die Zeichnungen und Bilder
der letzten Jahre auch Trauer um einen Verlust, deuten sie mit ihren formal-inhaltlichen
Problemen das Maß dieses Verlustes an. Ägypten, altägyptische
Kunst sind heute allenfalls noch Touristenziel, Wanderausstellung. Was
altägyptische Kunst dem Zeitgenossen war, kann der Tourist nicht
nachvollziehen, der Ausstellungsbesucher nicht erfahren. Vielleicht kann
der Künstler auf dem Wege einer ästhetischen Annäherung
noch etwas davon festhalten und in seinen Bildern wieder zeigbar machen.
[1981] [Druck beider Teile: Katalog
Sindelfingen 1981]