Reinhard Döhl | Es hat den Anschein


Als Günther C. Kirchberger 1964 seine letzte umfassende Einzelausstellung in Stuttgart zeigte, hielt Harolde de Campus für den Katalog fest, daß das Moment der Konstruktion, des disziplinierten Bewußtseins schrittweise die informelle organische Geste zu überwiegen beginne und der Maler dabei sei, eine dritte Phase seiner dialektischen Malerei zum Abschluß zu bringen.

Die jetzige Ausstellung macht deutlich, wie sehr dieser Abschluß zugleich Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung war; wie überhaupt die Malerei Günther C. Kirchbergers als konsequenter Entwicklungsprozeß, ohne formale und/oder thematische Sprünge und Brüche, zu charakterisieren wäre: als ein Prozeß, der in seinen Ergebnissen jederzeit einsehbar und durch den Betrachter kontrollierbar geblieben ist.

Die von Haroldo de Campos seinerzeit beobachtete immer strengere Bildgliederung führte Günther C. Kirchberger nach 1964/1965 zur Umkehrung seines ursprünglichen Problems der Farbe vor der Form zum Problem der Form vor der Farbe. Damals entstandene variable Bilder, beziehungsweise Bildobjekte, die "Spielbilder" und sogenannten "Küchenborde" (1965) erweisen sich - von heute gesehen - als wesentliche Schritte auf einem konsequenten Reduktionsweg bis an jene Grenze, an der sich sinnvoll die Frage stellte, ob Bilder dieser Art nicht beliebig machbar seien von jedem, der die Technik hat und die Regeln kennt. Das 1966/1967 von Günther C. Kirchberger zusammen mit Hansjörg Mayer und mir durchgeführte "programm typografie 2" hat eine Antwort darauf versucht und Beispiele dafür geliefert in Form von Bildern, auf denen - von einem festgelegten Raster (Quadratnetz) ausgehend - innerhalb dieses Rasters nur ein beschranktes Maß an konstruierbarer Figur zugelassen und möglich war.

Daneben entstanden Arbeiten, die dem Problem her Scheinperspektive, des vorgetäuschten Raumes gewidmet waren. Gleichzeitig griffen kleine Objekte aus Plexiglas-Röhren mit austauschbaren farbigen Pingpong-Bällen in einer weiteren Dimension noch einmal auf die Variabilität der "Spielbilder" zurück. War hier die damals von Günther C. Kirchberger bevorzugte, an Röhre erinnernde Scheinfigur konkrete Röhre, hoben größere Objekte aus farbigen Plexiglas-Scheiben die Scheinräumlichkeit der Bilder plastisch auf. Die
"Faltobjekte" aus farbig bedrucktem oder beklebtem Karton von 1968 versuchten, soweit sich ihre endgültige Gestalt nicht nur material aus den Möglichkeiten des Faltens selbst ergab, beides: Ersetzung der Scheinräumlichkeit des Bildes durch Objektraum, Ersetzung der Scheinfigur des Bildes durch konkrete Figur.

Dennoch lassen sich diese Objektreihen Günther C. Kirchbergers kaum als Plastiken interpretieren. Man sollte sie vielmehr ebenso wie die etwa gleichzeitig entstandenen Metall-Faltungen oder die später entstehenden Reliefs als mit den Bildern korrespondierende Versuchsanordnungen sehen, als jeweils mögliche Lösungsvorschläge des Malers für seine Bildproblematik der Scheinperspektive, der Scheinräumlichkeit, der Scheinfiguration.

Darüber hinaus haben sie fraglos auch ihren Stellenwert im Zusammenhang einer zunehmenden Abwendung Günther C. Kirchbergers von den mit Öl-, dann vor allem mit Acrylfarben gemalten Bildserien, deren collagierte Vorarbeiten sich seit 1967 immer mehr verselbständigen, um dann die künstlerische Produktion der Folgezeit wesentlich zu bestimmen.

Gleichzeitig zeigen diese "Collagen" eine wieder zunehmende Bildkomplexität und spielen bis etwa 1970 mit ihren in vorgegebenen Netzen (Rastern) durch Wiederholung, Inversion, Spiegelung ermittelten Figuren aus Quadraten, Rechtecken, Rauten, angeschnittenen Kreisen gleichsam ein ganzes Einmaleins von räumlich perspektivischen Täuschungsmöglichkeiten durch. Ich verweise zum Beispiel auf eine an Wäscheklammer erinnernde bevorzugte Figuration der "Collagen", auf eine Schraube assoziierende Bildfigur, die Günther C. Kirchberger auch als Relief realisiert hat.

Beide Beispiele zeigen, daß Schließung zur Figur erreicht wird im einem bewußten Verstoß (etwa durch Drehung eines Teilstücks) gegen eine Logik der ursprünglichen Anordnung (etwa in einer wiederholenden Reihung). Beide Beispiele machen aber auch deutlich, daß es sich hier nicht um einen Anschlußversuch an eine wieder möglich gewordene gegenständliche Malerei handelt, wie eine Behelfsüberlegung weiter verdeutlichen kann. Ein Maler wie Konrad Klapheck zum Beispiel würde, von einer realen Schraube
(beziehungsweise von ihrer Realität)ausgehend, diese Schraube während des Malvorgangs in einen Bildgegenstand überführen und damit der Realität bewußt entfremden. Ganz anders läßt Günther C. Kirchberger in seinem Spiel mit der Erinnerungstäuschung eine Assoziation an den Gegenstand Schraube
bewußt zu, stellt aber diese Assoziation durch die Scheingegenständlichkeit seiner Figur zugleich wieder in Frage.

Es ist diese bewußt provozierte Täuschung der aus anerzogener Seherfahrung resultierenden Seherwartung, die auch den Arbeiten der letzten beiden Jahre wesentlich eigen ist, wenn sich jetzt nach Scheinraum, nach Scheinfigur und Scheinkörper auf den "Fensterbildern" gleich ganze Scheinlandschaften auftun.

Diese "Fensterbilder" zeigen darüber hinaus, daß die Arbeiten Günther C.Kirchbergers nicht nur im Formenbestand, sondern auch in der Farbe wieder zunehmend komplexer werden. Was die Skizzen bereits andeuten in ihrem Übergang von der Filzstiftzeichnung zur Zeichnung mit Farbstift, wiederholt sich jetzt in einem Nebeneinander von mit Lack gespritztem und mir Farbstift gezeichnetem "Fensterbild". Die dabei möglich werdende Anschattierung der Farbfläche schafft wechselnde Körperformen und unterstützt überdies die beabsichtigte Scheinräumlichkeit. Dabei überspielt eine dreimalige Drehspiegelung derart anschattierter Farbflächen zunächst  das fast brutal eingezeichnete (Fenster-)Kreuz, des seinerseits im Gegenzug nötig ist, um eine gelegentlich durchaus denkbare Illusionierung von vornherein zu brechen.

Ich habe in Günther C. Kirchbergers Atelier Skizzen gesehen, auf denen das eingezeichnete Kreuz diese Illusionsbrechung kaum noch zu leisten vermag, weshalb Günther C. Kirchberger augenscheinlich zögert, sie als Bild aus- bzw. durchzuführen, obwohl mir hier Ansätze für Künftiges zu liegen scheinen. Was mich an den "Fensterbildern" heute interessiert, ist die gewollte Spannung zwischen dem, was sie zunächst vorzugeben scheinen, also aus der Erinnerung des Betrachters abrufen, und dem, was sie bei genauem Hinsehen konkret zeigen. Günther C. Kirchbergers neuere Arbeiten wecken - möchte ich zuspitzen - den Anschein und fordern die Einsicht.

[Faltblatt der Galerie Behr, Stuttgart, 1972; Nachdruck Katalog Galerie Geiger, 1978; Katalog Kulturamt der Stadt Sindelfingen, 1981]