Man schickt von einer Reise Ansichtskarten, um den Daheimgebliebenen
zu sagen, daß man sie nicht vergessen hat. Man unterläßt
es, einem Freund, der in bescheidenen Verhältnissen lebt innerhalb
eines Sommers Karten aus Ragusa, Capri und Nizza zu schicken. Auch
wäre es taktlos, einem Bürokollegen eine Karte zu schicken
und einen anderen zu übersehen. Dem Chef und hochgestellten Persönlichkeiten
schickt man nur dann Ansichtskarten, wenn man mit ihnen privat befreundet
ist Man läßt auch nicht zufällige Urlaubsbekanntschaften
ihre Namen auf Karten kritzeln, da diese Leute für die zu Hause
Gebliebenen keinerlei Bedeutung haben. (Gutes Benehmen Dein Erfolg)
1
Es gibt Ansichtskarten und Ansichtskarten. Immer wieder fallen den Leuten
Ansichtskarten ein in meinen Briefkasten mit jeder Postwurfsendung. Immer
wieder muß ich viele Ansichten auseinander halten. Ich habe mir
einen Karteikasten gekauft und eine Systematik gemacht. Ich sammle Ansichten
die mir mein Briefträger zuträgt. In meinem Karteikasten sammeln
sich die Ansichten einer ganzen Welt die sie beschreiben.
2
Ansichtskarten sind Ansichtssache und leicht überschaubar. Man
schätzt ihren Umgang. Sie sind genügsam. Man kann sie sich
an den Hut und hinter den Spiegel stecken. Man kann sie unbesehen zerreißen
verbrennen verlegen. Man kann sie jederzeit vorholen und oberflächlich
betrachten. Man kann sie ganz genau betrachten. An ihren Ansichtskarten
kann man sie erkennen.
Ansichtskarten sind nicht jedermanns Sache.
3
Es gibt schwarzweiße Ansichtskarten, die von den Schwarzweißsehern
verschickt werden. Immer noch verteilen die Schwarzweißseher ihre
gebildete Ansicht. Die schwarzweißen Bilder der Welt sind billig
zu haben. An allen Kiosken der Welt wird eine um die andere Ansicht
für bare Münze gehalten Sie ist wiederholbar für jeden
erschwinglich. Täglich sichten die Schwarzweißseher den Bestand
der verteilbaren Welt und lassen ihn umgehen.
4
Ansichtskarten sind keine kleinen Mädchen die bunt angemalt sind.
Die buntangemalten Ansichtskarten ändern ihre Meinung nicht von
heute auf morgen. Sie hängen ihr Mäntelchen nicht nach dem
Wind Man kann sie erinnern. Ein Kreuz mit Tinte bezeichnet die Stelle
der Wohnungnahme. Viele Leute machen ein Kreuz und möchten sich
hinter verstecken. Ansichtskarten sind keine Regenbögen die bunt
angestrichen sind.
5
Von allen bekannten Blumen sind Ansichtskarten die schönsten Sie
blühen nicht im Verborgenen Sie sprechen von sich aus. Sie sagen
nicht: laßt Blumen sprechen. Und sprechen nicht durch die Blume
oder in Rätseln. Sie sprechen in Bildern. Sie haben sich eine Ansicht
gebildet. Sie haben sich eine genaue Ansicht gebildet. Sie besagen nichts
weiter.
6
Die Ansichtskarten Günther C. Kirchbergers haben eine Ansicht die
sonst niemandes Ansicht ist. Man kann sie keinem Menschen vorlesen.
Man kann sie in keine Sprache übersetzen. Man kann sie nicht vom
Blatt singen. Sie bezeichnen eine Welt die es sonst auf der Welt nicht
gibt. Die es nirgendwo auf der Welt mehr gibt. Und die gezeigte Welt
ist jedesmal eine andere.
7
Die Ansichtskarten sind jetzt alle verteilt, Man hat sich seine Ansicht
gebildet hiervon und davon. Man weiß was auf den Ansichtskarten
drauf ist. Man hat säuberlich die Häuser von den Bäumen
und den Himmel von der Erde geschieden. Man spricht darüber und
läßt es Tag und Nacht werden. Man spricht immer noch darüber.
So ward aus Abend und Morgen ein anderer Tag.
[1963; Druck in Prosa zum Beispiel, 1965, S. 40-42]