Helmut Heißenbüttel:
Eröffnung der Ausstellung Attila Biro, G.C. Kirchberger, Georg-Karl Pfahler, Friedrich Sieber


Meine Damen und Herren,

wenn man vor etwa fünf Jahren von jüngeren Malern oder Schriftstellern sprach, meinte man damit die Vierzig- bis Fünfundvierzigjährigen. Heute hat sich diese Grenze, wie es scheint, bereits verschoben. Man meint wenn man von Jüngeren spricht, die Fünfunddreißigjährigen. Sollte diese Verschiebung im gleichen Tempo weitergehen, kann man sich leicht ausrechnen, wann wir bei den auf anderen Gebieten schon heute so beliebten Teenagern angelangt sind.

Jedenfalls, in diesem oder einem anderen Sinne, kommt es heute abend darauf an, vier jüngere Maler vorzustellen, deren genaues Alter Sie leicht im Katalog feststellen können. Drei lieser Mater, Sieber, Pfahler und Kirchberger, leben in Stuttgart. Der vierte, Biro, in Paris. Diese Maler haben sich zu einer Gruppe zusammengeschlossen. Als Gruppe haben sie Ausstellungen veranstaltet unter anderem in London, Brüssel und Rom. Nicht in Stuttgart. Es kommt heute abend nicht nur darauf an, diese Maler ganz allgemein vorzustellen, es kommt darauf an, sie in Stuttgart und für Stuttgart vorzustellen. Damit soll nicht irgendeiner Art von Lokalpatriotismus gedient werden, sondern es soll denjenigen, die sich für die Kunst unserer Zeit interessieren, gezeigt werden, wo hier, in unmittelbarer Nähe, lebendige Impulse gegeben werden. Es soll einer Meinung entgegengetreten werden, die allzu leicht geneigt scheint als repräsentativ für das Stuttgarter Kunstleben die Auktionen des Hauses Ketterer anzusehen. Ist Stuttgart konservativ? Wohl nicht mehr als andere westdeutsche Städte auch. Es muß jedoch gesagt werden, daß das öffentliche Echo, auf die Versuche, Neues und Unerprobtes vorzuweisen, immer wieder durch die Berichterstattung in höchst eigentümlicher Weise gedampft wird. Dabei wird weniger etwas angegriffen, als vielmehr das, was versucht wird, mit achselzuckender Ignoranz übergangen und nicht zur Kenntnis genommen.

Was wird nicht zur Kenntnis genommen? Kurz gesagt und auf die heutige Ausstellung bezogen: Die Situation der Malerei, wie sie sich seit mindestens zehn Jahren nicht nur in der westlichen, sondern auch in Teilen der östlichen Welt herausgebildet hat. Diese Situation war zunächst gekennzeichnet durch Schlagworte wie Tachismus, gegenstandsloser Expressionismus, informelle Malerei oder action painting. Diese Schlagworte entstammen im Grunde dem technisch-malerischen Bereich. Die neue Malerei wurde gewertet als Gegenschlag gegen eine Malerei, die sich geometrischer Formelemente bediente. Nun kann jedoch etwas wirklich Neues nicht dadurch entstehen, daß einfach einem stilistischen Entwicklungsgang gefolgt wird. Das Neue ist nicht neu und aktuell einfach deshalb, weil es anders ist als etwas, das historisch vorausging. Sinnvoll können neue Versuche, neue Entwicklungen nur dann sein, wenn sie einem Bedürfnis entspringen, das mit einer veränderten Situation des Menschen, des menschlichen Lebens und des menschlichen Bewußtseins überhaupt zusammenhängt - wenn sie dem Orientierungswillen einer Welt dienen, die an den überlieferten Orientierungsmöglichkeiten zu scheitern droht, Überlegungen, die sich lediglich an das Technische, an das Stilistische oder das ästhetische Fingerspitzengefühl halten, Müssen dabei an der Oberfläche stecken bleiben. Die Maler zeigen etwas auf ihren Bildern, etwas, das unbekannt war. Nenne man es nun Faszination oder Kalkulation, Imagination oder Inspiration, was den Maler treibt; sein Ziel ist es, etwas sichtbar zu machen, was es so, wie er es sichtbar macht, bisher nicht gab.

Etwas sichtbar machen - was heißt das vom Standpunkt des Jahres 1959 aus, was heißt das bei den Bildern, die Sie hier sehen? Überblickt man die Malerei der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so hat man das Gefühl, einem grandiosen Zerfallsprozeß beizuwohnen. Dem Zerfallsprozeß des menschlichen Sehbildes in der Malerei. Die Spiegelungen der Umwelt auf der menschlichen Netzhaut werden als Objekte der bildhaften Darstellung aufgelöst, abgetragen und reduziert. Eine Fülle großartiger und einmaliger Werke verdankt diesem Prozeß ihr Dasein. Man kann jedoch heute feststellen, daß dieser Prozeß abgeschlossen ist. Die Malerei hat sich entschieden neuen Aufgaben und neuen Themen zugewandt, nicht aus Stilzwang, nicht aus Neuerungssucht, nicht aus irgendeinem Provokationsbedürfnis, sondern den Impulsen folgend, die jedes Zeitalter neu bereit hält.

Wie läßt sich das, was sichtbar gemacht wird, bezeichnen? Ich lasse die Schlagworte beiseite und auch die üblichen Kriterien der offiziellen Kunstkritik, die häufig in nichts anderem bestehen als in einem Rückzug auf Gefühlsäußerungen, auf vage Gegenstandsassoziationen, auf ein gewisses anthropologisches Vokabular und eine interessengefärbte konventionelle oder subjektive Qualitätsentscheidung.

Als Brücke möchte ich vielmehr eine bestimmte Art von Erfahrung oder Erlebnis benutzen, wie sie vielleicht der eine oder der andere von Ihnen auch schon gehabt hat. Man blickt durch ein Fenster, an das der Regen schlägt und an dem er herabrinnt - man sieht bestimmte Bruchformationen auf einem Straßenpflaster, Auswerfungen an einem Wandverputz, Kinderkritzeleien, Strukturfelder in mikroskopischen Detailaufnahmen oder makroskopischen Weltraumfotos. Man sieht dies, und indem man sich des Anblicks bewußt wird, meint man zu wissen oder zu ahnen, daß es mit dem bloßen Anblick nicht getan ist, sondern daß das, was man da, in einer bisher nicht wahrgenommenen Sicht sieht, etwas bedeuten müsse, etwas, das hinter dem faktisch Erkennbaren verborgen oder ihm eingeboren ist. Das heißt, man versucht eine Bedeutung in etwas hineinzuprojizieren, das von sich aus offenbar eine solche Bedeutung nicht besitzt, dessen Sinn sich vielmehr, nüchtern betrachtet, ganz im Physikalisch-Materiellen zu erschöpfen scheint. Welcher Art könnten die Bedeutungen sein, die man projiziert? Sie wären wohl nicht assoziativ zu verstehen, etwa im Sinne der Histoire naturelle von Max Ernst, bei der aus den Strukturen abbildhafte Anklänge herausgeschält werden. Die Bedeutung würde vielmehr in den Formel-. Farb- oder Strukturfeldern selbst zu suchen sein. Man würde versucht sein, darin Darstellungen von bestimmten Bezügen, übergeordneten Verhältnissen, Bau- und Entwicklungszusammenhängen zu erkennen. Geistige oder psychische Landschaften, Verschlüsselungen zeitlicher Abläufe und so weiter.

Man braucht nun nur anzunehmen, daß ein Maler, sei es bewußt oder unbewußt aus einer bestimmten Faszination heraus, versucht, solche "Bilder" herzustellen. Anzunehmen, heißt das, daß ein Maler Bedeutung, die man in dem erzählten Beispiel nachträglich in das an sich Zufällige hineinsieht, von vornherein mit einfließen läßt, einfach dadurch, daß er malt, daß er herstellt. Und man hätte grundsätzlich eine ganz neue, in der vorangehenden Malerei nicht vorhandene Thematik. Nichts ist falscher als vergleichende Reihen von Fotos und Gemälden aufzustellen, etwas, das immer wieder versucht wird. Der Maler malt, so konnte man sagen, Muster. pattern, in die Erfahrung einfließt, Erfahrung ganz allgemeiner, beispielhafter oder übergeordneter Art. Um das vielleicht etwas deutlicher zu machen, möchte ich versuchen, die Möglichkeiten, die bei der Herstellung solcher Muster gegeben sind, ein wenig abzugrenzen.

Man könnte da zuerst von psychografischen Mustern sprechen. In der Handschrift des Pinselstrichs, in der Verteilung der Farbformationen stellte sich dabei so etwas wie ein Abbild psychischer oder auch psychologischer Vorgänge, Verhaltensweisen ein. Beispiel dafür wären etwa die Bilder von Wols. Unmittelbar daran anschließend könnte man von expressiven Mustern sprechen. Hier wären es gewisse überpersönliche Erregungszustände, überpersönliche innere Bewegungen, die sich im Bild abzeichneten. Beispiel dafür wären etwa die Bilder von de Kooning oder Vedova. Man könnte weiterhin meditative Muster unterscheiden, Bilder, in denen sich eine mehr geistige Entrückung, eine Einstimmung in Welt und Umwelt, eine Art mystische Versenkung abbildet. Als Beispiele würde ich Bilder des späten Hartung oder des Amerikaners Mark Rothko anführen. Eine andere Gruppe ließe sich zusammenstellen aus solchen Bildern, denen gleichsam unmittelbar strukturelle Zusammenhänge abgelesen werden könnten, Modelle von seien es nun soziologischen, kosmischen, funktionalen oder existentiellen Zusammenhängen. Weltmodelle quasi, geistige Landkarten oder ähnliches. Beispiele wären die Bilder von Tobey.

All dies ist versuchsweise und unvollkommen ausgedrückt. Worauf es ankommt, ist lediglich, ein Verständnis dafür zu wecken, daß diese Bilder, daß diese ganz neue Malerei nicht als eine stilistische Entwicklung, nicht als Willkürakt von Progressisten, sondern als Versuche zu verstehen sind, die auch thematisch etwas Neues und Unmittelbares zeigen. Ihre Begründung kann diese Malerei nur in einem finden - in der Veränderung des menschlichen Selbstbewußtseins. Die Orientierung, die die Kunst bietet, kann sich nicht mehr mit der Spiegelung, nicht mit den variablen Interpretationen der Spiegelung des Menschen und der menschlichen UmweIt begnügen. Das Menschliche bewahrt sich nicht mehr im Abbild, auch nicht im zeichenhaft abgekürzten oder im psychografisch gebrochenen, sondern in den geistigen Musterkarten, die die Maler mit Hilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Materialien erstmals zu entwerfen versuchen.

Eines wird dabei sofort deutlich, daß nämlich der Streit um abstrakt - konkret, gegenständlich - nicht gegenständlich, wenn man diese neue Thematik anerkennt, gegenstandslos wird. Die Bilder sind so gegenständlich wie das Material, aus dem sie gemacht sind, sie sind so abstrakt wie die Erfahrung, die unmittelbar in sie eingegangen ist. Eines steht fest, es gibt diese Malerei. Sie ist durch nichts mehr wegzudiskutieren. Sie ist kein Ende, sondern ein Anfang. Sie ist metaphysisch insofern, als sie ihren Sinn im unmittelbaren Hinausgehen über die physikalische Materialität ihrer Mittel findet.

Die Bilder, die Sie hier sehen, sind Beispiele der neuen Malerei. Ich möchte nichts weiter dazu sagen als dies. Sehen Sie sich die Bilder an und versuchen Sie, sich selbst und unsere Welt in ihnen wiederzufinden.

Stuttgart: Galerie Rauls 21.3.1959