Schrift & Bild
Sammlung Cremer III im Museum am Ostwall, 30.10.1994

von Reinhard Döhl



Es ist immer problematisch, eine Ausstellung zu eröffnen, in der man selber vertreten ist. Ich hatte deshalb eine kleine szenische Vernissage vorgeschlagen, die sich allerdings tech- nisch nicht realisieren ließ. Sie ist Vorwort des Katalogs geworden, und ich muß nun doch den Versuch unternahmen, ein paar einleitende Worte zu einer Ausstellung zu finden, die zu- gleich Teil der umfassenden "Sammlung Cremer" ist, einer Samm- lung, deren erste Teile bereits 1991 in diesem Hause vorge- stellt wurden.

Überschrieben ist dieser dritte Teil mit "Schrift und Bild". Das gibt ihm innerhalb der Sammlung eine gewisse Selbständig- keit. Da aber eine sinnvoll angelegte Sammlung in der Regel mehr ist als die Summe ihrer Teile, verweisen einige der heu- tigen Exponate gleichzeitig zurück auf das bereits Gezeigte, auf Arbeiten und Künstler, die sich auch den Tendenzen bzw. Stichworten "Noveau Réalisme", "Zero", "Kinetik" und "Décol- lage" zuordnen lassen. Ich will dies andeuten mit drei Hinwei- sen.

1. Die Einladungskarte bildet die "Poetry Clock" von Ken Cox ab. Für diese "Poetry Clock" sind auf den Spitzen von drei Zeigern die Buchstabean P, O, E und an ihren Enden entspre- chend die Buchstaben T. R, Y montiert. Diesen sechs Buchstaben entspricht ein sechseckiges, vertikal getreiftes Zifferblatt, vor dem sich diese Buchstaben im Kreis bewegen, Buchstaben also, deren Distanz zueinander sich je nach Geschwindigkeit der Zeigerbewegung ebenso verändert wie die Buchstaben in ihrem Durchlauf vor bzw. mit dem gestreiften Zifferblatt zu unterschiedlichen Formen zusammentreten, wobei die Buchstaben in der grafischen Konstellation ihren Eigenwert nahezu verlieren. Eine Schrift, deren permutationelle Verwendung auf die konkrete Poesie verweist, löst sich im Bild auf: Die Grenzen zwischen Schrift und Bild, zwischen Kunstwerk und Poesie verwischen sich im kinetischen Objekt. 2. Der Museumsbesucher wird in der heutigen Ausstellung und dem sie begleitenden Katalog Arbeiten von Künstlern finden, die bereits 1991 in Ausstellung und Katalog vertreten waren, so z.B. Albrecht/d., André Thomkins, Herman de Vries oder mich. Einen Namen lasse ich hier noch aus, da ich später auf ihn zu sprechen komme. Andere Künstler wie Rolf Gunter Dienst, Franz Mon hätten bereits in der Ausstellung von 1991 Platz nehmen können, umgekehrt in der heutigen Ausstellung Arbeiten von George Brecht, John Cage, Johannes Cladders, Reinhold Koehler [vgl. Döhl: Contrecollagen und Décollages-Imprimes], Diter Rot und anderen. Das erklärt sich zum einem aus dem für die Moderne signifikanten Phänomen der Doppelbegabungen, läßt sich zum anderen und vielleicht sinnvoller damit begründen, daß die "Sammlung Cremer" bevorzugt Künstler umfaßt, deren Intentionen und damit Produktion sich nicht mehr in traditio- nellen Gattungen, Kunstarten und Ausdruckweisen artikulieren ließen. Doppelbegabung und Mischformen also, ein immer neu ansetzendes Suchen nach Artikulationsmöglichkeiten und damit eine Teilhabe an den unterschiedlichsten Tendenzen der zwei- ten Avantgarde charakterisieren folglich einen Großteil der von Siegfried Cremer zusammengetragenen Arbeiten. Damit komme ich zu meinem 3. Hinweis: auf den Sammler. Der Sammler hat sich nämlich auch als Künstler in seine Sammlung hineingenommen, undzwar in Ausstellung und Katalog sowohl 1991 wie 1994. Das ließe sich böswillig so auslegen, als brauche der Künstler Siegfried Cremer den Kontakt seiner Sammlung, um sich standesgemäß zu exponieren. Daß dieses genau nicht der Fall ist, daß dieses Hereinnehmen eigener Arbeiten in seine Sammlung ganz anders zu verstehen ist, darauf hat 1991 bereits Johannes Cladders in seinem Katalogvorwort aufmerksam gemacht. [Nebenbei be- merkt: auch er eine jener Doppelbegabungen dieser Sammlung, wobei sich in seinem Fall Theorie und Praxis, Museumsmmensch und Künstler wechselseitig ergänzen.] Unter den Stichworten "Produzent und Koproduzent" hat Johannes Cladders nämlich nicht nur deutlich gemacht, daß und wie sehr sich die von Siegfried Cremer versammelten Arbeiten "auf den gemeinsamen Nenner 'Realität'" bringen lassen, sondern er hat auch ein- sichtig gemacht, daß in ihrem Fall der sammelnde und die von ihm versammelten Künstler zusammengesehen werden müssen. "Es liegt in der Natur der Sache", formuliert Johannes Cladders dies 1991, - "Es liegt in der Natur der Sache, daß Künstler einen unmit- telbareren Zugang zu künstlerischen Produkten haben. Sie ste- hen in einem kollegialen Austausch, der auch in einen Aus- tausch von Arbeiten, in Korrespondenz und Widmungen und ins- besondere in das Bewahren und Aufbewahren von Dingen führen kann, die dem allgemeinen Kunstmarkt und damit dem Nur-Kunst- sammler meist entzogen sind. Solche Sammlungen sammelnder Künstler erweisen sich oft als höchst interessant und in vie- ler Hinsicht äußerst aufschlußreich. Zumal wenn es sich nicht nur um willkürliche, ungeordnete Konvolute, sondern um syste- matisch zusammengetragene und geordnete Bestände handelt. Bei der von Siegfried Cremer aufgebauten Sammlung ist letzteres der Fall."

Da unsere Museen von ihrem gesellschaftlichen Auftrag her nicht nur die Aufgabe der Präsentation von wirklichen oder auch deklarierten Meisterwerken haben, sondern in gleichem Maße den Auftrag der wissenschaftlichen Aufbereitung, des Aufspürens und Sammelns von "Quellen und Zuflüssen", wie Cladders es genannt hat, - da unsere Museen auch eine der klassischen Philologie vergleicbare Aufgabe haben, sind systematisch aufgebaute Sammlungen sammelnder Künstler für sie von besonderem, weil grundlegendem Wert, da ihnen stets noch ein Stück Atelier innewohnt, weil sie sich lesen lassen als Künstlerdialog, weil sie, um hier ein letztes Mal Johan- nes Cladders zu zitieren, "Quellen und Zuflüsse katogra- phieren".

Das ist zugleich der Aspekt, unter dem auch der heutige Ausstellungsteil der "Sammlung Cremer" gesehen werden muß. Wenn Siegfried Cremer und das Museum am Ostwall ihn "Schrift und Bild" überschreiben, beziehen sie sich ausdrücklich auf eine der zentralen Wanderausstellungen der frühen 60er Jahre, die von Stedelijk Museum Amsterdam erarbeitete, dann von der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden übernommene Ausstellung "Schrift und Bild". Diese Ausstellung verzeichnete neben klei- neren Unternehmen, die ich hier vernachlässigen darf, erstmals eine damals virulente Tendenz der Kunstszene, beschrieb sie als international und leitete sie ansatzweise historisch her, von den Kubisten einerseits, die als erste die Schrift ins Bild aufnahmen, und von Künstlern wie Kurt Schwitters anderer- seits, der Collagen so klebte, daß sie gelesen werden mußten, der Texte so schrieb oder setzen ließ, daß sie Bild wurden. Als Siegfried Cremer Mitte der 60er Jahre nach Stuttgart kam, kam er in einen Künstlerkreis, der sich literarisch, ty- pografisch und bildkünstlerisch für konkrete Poesie, ihre Übergänge zu Musik und bildender Kunst, oder allgemeiner für Schrift, Partitur und Bild vorrangig interessierte: die Stutt- garter Schule/Gruppe um Max Bense, aber auch ihr näher oder ferner stehende Künstler [vgl. Döhl: Die 60er Jahre in Stutt- gart]. So nimmt es kaum Wunder, wenn ein Großteil der hier und heute zu besichtigenden Künstler ihren Wohnsitz in Stuttgart haben oder zeitweilig hatten. Gleichzeitig hatten andere Künstler engere Verbindungen zur damaligen Stuttgarter Kunst- szene, wurden dort gedruckt und ausgestellt, wenn auch weniger wahrgenommen, wie umgekehrt Stuttgarter Künstler nicht nur in den 60er Jahren mehr international als regional präsent waren. Genau dieses nun, ein Zentrum Stuttgart mit einer Kunstsze- ne, der der Künstler Siegfried Cremer alsbald angehörte und die zugleich international verflochten war, dokumentiert sich auch in der heutigen Ausstellung. Und zugleich dokumentiert sie mehr, wie intensiv damals die experimentellen Verbindun- gen, ja Grenzverletzungen zwischen Schrift und Bild, Typogra- phie und Malerei gesucht wurden in einer Umwelt, die zunehmend von Schrift überwuchert wurde. "Unser Leben", notierte dies 1962 Manfred de la Motte - "Unser Leben ist überwuchert von Schrift in jeder Form, es gibt keinen Moment des Alltags, der nicht von Schrift, Zeichen und Signal bestimmt ist. Es beginnt mit der Morgenzeitung, dann überkommt uns die Vielfalt der Reklame, vom Etikett bis zum Plakat, von der Streichholzschachtel bis zum Fahrschein, Verkehrszeichen und Signale in aller Form und aus verschieden- stem Material, Akten und Börsenkurse, Briefe, Flugblätter, Propaganda, Transparente, Fahrpläne und Terminkalender, Licht- zeitungen und Kinoprojektoren strahlen ihre Informationen aus, Hinweisschilder regeln unsere Bewegungen, und allerlei Sinn- sprüche begleiten uns, das gestickte 'Ruhe sanft!' auf dem Kissen hat ebenso Anteil an der Schriftumwelt wie Gebäck und Nüdelchen in Buchstabenform, so daß wir uns - im wahrsten Sinn des Wortes - die Schrift sogar einverleiben können." Gegen eine derartige Inflationierung von Schrift wandte sich unter anderem die zwischen Schrift und Bild arbeitende Kunst, indem sie sich einmal durch Buchstabencollage oder -décollage "querstellte" (Mon), indem sie andererseits durch das Isolie- ren von Wort- ja sogar Buchstabenfragmenten auf Sinn bestand. Zweitens stellte sich eine zwischen Schrift und Bild arbeiten- de Kunst aber auch, und hier sind die Überlegungen Manfred de la Mottes zu ergänzen, quer zu einer immer heftigen Visuali- sierung, der Verkürzung der Information ins Ideogramm, ins Bildkürzel auf der einen und auf der anderen Seite zu einer Auffassung, nach der das Bild bereits die Botschaft sei, der Bildschirm die Wirklichkeit zeige. Gegen eine solche als leer empfundene Wirklichkeit, die sich in keiner Form mehr abbilden ließ, galt es eine andere Wirklichkeit zu setzen, die Realität des Kunstwerks. Und diese Realität des Kunstwerks, waren wir damals überzeugt, konnte weder der traditionelle Text noch das traditionelle Bild erreichen.

Neben dem Überschreiten traditionell gesetzter Grenzen, für das ich einleitend als Beispiel Ken Cox' "Poetry Clock" zi- tiert habe, interessierten uns deshalb vor allem Versuche ra- dikaler Reduktion und Transformation, für die ich auf der ei- nen Seite aus dieser Ausstellung Emmet Williams' "Archäologi- sches Gedicht [= archaeological poem]", auf der anderen Seite Hansjörg Mayers "Alphabete" benenne. Emmet Wiiliams' "Archäo- logisches Gedicht" ist ein kleines blaues Aquarell, eine Re- duktion des Gedichts also noch vor den Buchstaben zurück. Ha- nssjörg Mayers "Alphabetenquadratbilder" andererseits überfüh- ren die Buchstaben des Alphabets, die ja ursprünglich Bildzei- chen waren, in einen Zustand jenseits ihrer Zeichenfunktion, nämlich ins quadratische Bild, ein neues superisiertes Zei- chen, das sich als solches einer Indienstnahme für den Trans- port von Bedeutung ebenso entzieht wie Emmet Williams' "Ar- chäologisches Gedicht" einer traditionellen Textinterpreta- tion.

Das sind lediglich mögliche Hinweise auf eine komplexe Aus- stellung, zu der natürlich noch manches und anderes anzumerken wäre. Dafür wäre unerläßlich, sich erst einmal die Ausstellung gründlich anzuschauen , wobei Exponate durchaus in der lage sind, für sich zu sprechen, ein begleitender Katalog Verständ- nishilfen zu geben vermag. Damit bin ich abschließend noch einmal beim Katalog bzw. der szenischen Vernissage, die ich ursprünglich als Eröffnung dieser Ausstellung gedacht hatte. Und da ich als Westfale ein wenig hartnäckig bin, erlaube ich mir, den Text, wenn auch nicht vorzuspielen, so doch vorzule- sen, und setze ein bei der Diskussion des Alphabets.