Atilas Farben-Kosmos

von Max Bense


Sie wissen, daß ich kein Kunstmetaphysiker, kein Kunstphilosoph, kein Kunsthistoriker bin, sondern daß mich die Kunst vom Standpunkt möglichst positivistischer Wissenschaften her interessiert, das heißt also, keine Deutung, kein Gefallensurteil werden Sie von mir hören. Ich spreche nach Möglichkeit nur über das, was ich auf den Bildern wahrnehme.

Ich rede also von einem theoretischen Standpunkt aus; das heißt es ist für Sie vielleicht etwas ungewohnt, aber ich habe meine Ausführungen nach pädagogischen Gesichtspunkten geordnet und die Theorie, von der aus ich meine Konzeption entwickle, beruht, wie wir sehen werden, im wesentlichen auf drei Kategorien des Malers: seinen "Mitteln", seiner "gegenständlichen Orientierung" und seiner Konzeption des "Bildzusammenhangs". Was Sie hier sehen: Quadrate, Rechtecke und dergleichen, das sind alles Flächen, die schon in der griechischen Mathematik eine ganz besondere Rolle spielten, und zwar im Zusammenhang mit einem weiteren Begriff, den Sie wahrscheinlich auch kennen, obwohl er manchmal eine widerliche theologische Färbung angenommen hat; die "Epiphanie" - das, was erscheint! Und wo erscheint? Auf der Fläche erscheint!

Das ist eine besondere Art von Realität, um die es sich hier handelt, nämlich die ästhetische Realität. Aber daß nun die ästhetische Realität eigentlich auf dieser Leinwand das Kunstwerk ausmacht, das muß ja bestimmt werden, d.h. die ästhetische Realität ist genau so abhängig von gewissen Voraussetzungen wie etwa die physikalische Realität.

Aber es kommt immer darauf an, daß derjenige, der über Kunst spricht und besonders eine Einleitung über eine solche Masse von Bildern macht, im Stande ist zu sagen, wodurch sich etwa solche Bilder von einer Maschine unterscheiden. Wenn man das nicht kann, wenn man nicht eine ästhetische Realität von einer physikalischen oder mathematischen Realität unterscheiden kann, dann kann man nicht über Kunst sprechen.

Nun kann ich natürlich die vollständige oder genaue Theorie hier nicht auseinandersetzen, das ist viel zu kompliziert. Sie arbeitet mit relativ hohen bzw. tiefen Mitteln der neueren Mathematik, also mit Topologie, mit Algebra, mit algebraischen Kategorientheorien, mit allem, was Sie vielleicht gehört haben auf der Universität oder der Schule. - Aber das lasse ich alles weg.

Ich beziehe mich zunächst auf die "Mittel" der Palette. - Und, wenn diese Palette existiert, dann heißt das, die Palette ist das Mittel, von dem aus das erzeugt wird, was auf der Bildfläche erscheint. - Und dann ist natürlich noch eines zu beachten: Neben diesem Repertoire, das jedes Kunstwerk voraussetzt - jedes Kunstwerk setzt zunächst Repertoires voraus, und jede Theorie über ein Kunstwerk muß mit der Beschreibung der Repertoires beginnen. Dinge wie die unmittelbaren Elemente des Repertoires, Repertoire der Namen, Repertoire der Partikel oder Repertoire der Farben, die sind eigentlich dazu da - jetzt muß ich mich sehr vorsichtig ausdrücken -, nicht nur Objekte herzustellen auf der Leinwand, sondern neben Objekten Andeutungen von Objekten, oder einer Farbe den Charakter eines realisierbaren Objektes zu geben.

Wir wissen es ja alle, natürlich sind die Farben real. Aber wie sollen wir den realen Zustand bezeichnen wenn er nicht unmittelbar in einem Objektzusammenhang steht? - Zunächst gar nicht. Die Farbe tritt als das auf, was sie auf der Palette darstellt. - Ein optisches Phänomen, eine Epiphanie. Eine Epiphanie, die auf der Fläche erscheint. Deswegen das große Lob, das bei Plato auftaucht und bei Euklid auftaucht und bei Aristoteles auftaucht: die mathematische Fläche. Und es gibt keine Kunst, keine Malerei ohne Fläche. Es gibt keine Malerei - wenn ich das Zeichnen jetzt mit einschließe - die nicht die Fläche benötigt.

Die Fläche ist jedoch ein Faktum der elementaren Mathematik, über das Euklid schon sehr schöne Regeln formuliert hat und die Regeln des Euklid in der Epiphanie. Es ist alles in der Fläche. Die Fläche ist die Voraussetzung für diese Würfe der verschiedenen Farben aus dem Repertoire. Man kann auf einer Fläche im allgemeinen malerisch nicht mehr hervorbringen als das, was die Palette hergibt. - Es ist aber eine Tatsache, auch wenn ich die Farben mische, so stammen diese Farben von der Palette. Ich kann einfach eine "ästhetische Realität" nicht unabhängig von der Palette machen. Atila hat also das Problem, daß die Farben, die auf der Leinwand sind, zumindestens in einem Punkt die Palette oder die Farben auf der Palette übersteigen: Die Anordnung ist neu.

Aber nun gibt es verschiedene Arten, die Farbe auf das Bild zu bringen, aber doch stets mit einem Hauch oder mit einer kleinen Nuancierung zum Gegenstand zu machen. Das Bild als Ganzes oder mindestens in einzelnen Pinselzügen ist in jedem Falle ein zufälliges Ereignis, das nach dem Willen und unter den Händen des Malers entsteht. Diese relative Zufälligkeit, oder Unwahrscheinlichkeit machen die Einmaligkeit und die Anfälligkeit für Störungen der "ästhetischen Realität" des Kunstwerks aus.

Sie sehen, die Mehrdeutigkeit der Objekte auf der Leinwand spielt für Atila eine große Rolle. Die Mehrdeutigkeit vorgegebener pragmatisch verwendbarer Objekte auf der Leinwand, das ist das, was das künstlerische Objekt zum ästhetischen Zustand" macht. Fotos sind keine ästhetischen Zustände, sie sind quasi ästhetische Zustände in seltenen Fällen, und das kann man formelmäßig sehr gut zeigen.

Sie haben im strengen Sinne keine echte Palette und keinen echten Pinsel, sie sind auch keine hoch-zufälligen "Erscheinungen", sondern strahlenoptische Reglementierungen. Obwohl auf den Bildern Atilas immer wieder Objektbezüge bis hin zum Erkennbaren vorhanden sind, bleiben diese - und zwar in Farbe und Form der Realitätsthematik fotografischer Kunst weit entrückt.

Diese schweren betonten Streifen, an denen Sie vielleicht noch etwas anderes sehen werden, das sind expressive Elemente (und die hat er ganz gewiß). Einmal hat er mehr Kraft, ein andermal ist er ein bißchen malad oder lustlos, dann tritt die Expression wieder zurück oder es erscheinen nur leichte Andeutungen. Er ist auch kein Perspektivist. Er ist Perspektivist in einem nicht-euklidischen Sinne, daß die Perspektive aus der Fläche nicht den Raum hervorholt, das ist ganz selten der Fall, sondern nur eine wiederum mehr oder weniger offene oder geschlossene ebene Konfiguration.

Er unterläßt die Perspektive nicht vollständig. Aber er experimentiert mit ihr, und wir wissen alle, wer auf der Schule neben der elementaren Geometrie auch perspektivische Geometrie oder darstellende Geometrie getrieben hat, der weiß ganz genau, daß man die Perspektive so handhaben kann, daß man die singulärsten Effekte zustande bringt.

Und wenn dann noch Einflüsse von Seiten dessen, was ich als seine Farbumgebungen oder überhaupt seine Farbentopologie nennen möchte, dazu kommen, dann übersteigt die Topologie fast gänzlich die Perspektivität um einen weiteren Grad der Repräsentation des malerischen Kosmos Atilas, der wie aus dem Raum der Satelliten in ein Zimmer zurückgekehrt ist.

Will man optisch, wahrnehmend bleiben, könnte man sagen, Atilas Landschaften bestünden aus Zimmern, Zimmer-Landschaften, erfüllt mit Andeutungen von Gestalten und ihren Schatten, mit Figuren, die sich in Konfigurationen verstecken mit Köpfen und Gesichtern, Augen und Gliedern, deren Sinnlichkeit nur Gestik oder Erstarrung, dynamisch nach den Gesetzen der Masse oder der Kraft bewegt oder gemäß der Idee des Gleichgewichts statisch beruhigt. Zuweilen sieht man in Gesichter, die wie "Porträts" gerahmt sind oder hinter Glas, im Auto sitzend, wie Blick-Konzentrate wirken. Atila malt nicht "Aus-dem-Fenster-Blicke" sondern "In-die-Fenster-Blicke", wenn ich es so ausdrücken darf. Aber zum "Fenster-Blick" gehört Helligkeit und Atilas Helle, die das Bild erleuchtet, ist nicht das immer beschattete Tageslicht, sondern das gemeinsame Leuchten der Farben; Farblicht - Farblicht als ein Seinsmodus "ästhetscher Realität", die sogar eine innere abstrakte "geometrische Realität" einfachster Formen wie Quadrate, Rechtecke, Parallelen, Kreisbögen oder Kegelschnitte erkennen läßt wie das Bild "Espace du Silence que je te remonte" von 1985.

Zur Urgeschichte und Wirkungsgeschichte der Malerei gehört also auch zweifellos die Urgeschichte der Mathematik, d h. der Figuren und Zahlen. Frühzeitliche geometrische und topologische Wahrnehmungsformen sind sicherlich als Gestaltungsformen in die Frühzeit der Malerei eingegangen und haben in Prozessen der Konkretion und Abstraktion, der Impression und Expression ihre ursprünglichen Möglichkeiten subtil in eine Geschichte der Kunst verwandelt, deren Theorie so wichtig ist wie die Vielfalt ihrer Werke.

[Galerie Geiger, Kornwestheim 1985. Druck in: Kunst Handwerk Kunst 1966]