Der Maler Attila

von Max Bense


Ich sah kürzlich in der Fondation Maeght in Saint-Paul eine Ausstellung zum Gedächtnis des 1956 viel zu früh in Antibes verstorbenen französischen Malers russischer Herkunft Nicolas de Stael. Diese Ausstellung, großartig in ihrem Arrangement, hatte mich auf die Bilder Attilas, des in Paris lebenden Architekten und Malers, der eigentlich Attila Biro heißt, ungarischer Herkunft ist, in Deutschland geboren wurde und in Stuttgart Architektur und Philosophie studiert hatte, vorbereitet. Meine Wahrnehmung ästhetischer Zustände war durch Nicolas de Stael auf Farben eingestellt worden und genau diese Intention ist die Voraussetzung für Betrachtungen vor den Bildern Attilas.

Man hat es hier also im wesentlichen mit radikaler, gewissermassen mit hochwirksamer Malerei zu tun, der die Kontur nichts, die Fläche alles bedeutet; mit distributiven Systemen bunter Farben, die nach Möglichkeit rein, aber nicht getrennt gehalten werden und die fast nur als Okkasion, zufällig oder beiläufig,

ein Auge, eine Nase, eine Stirn, ein Gesicht entstehen lassen, aber im übrigen jede angedeutete oder verschwindende Körperlichkeit bereits als Obstruktion suggerieren. Man wird sofort daran erinnert, daß Farbe, selbst wenn oder gerade weil sie nie unabhängig von einer Fläche auftreten kann, stets nur unter zwei Aspekten ausgebreitete Selbständigkeit, materiale Autonomie, voller Lüsternheit wie ein Blick oder voller Bescheidenheit wie ein Blatt am Baum und mit allen Werten der Daseinszufälligkeit dazwischen, gewinnen kann im Kontrast oder im Konfinium, an einer Grenze oder in einem Übergang. Nur in diesen Zuständen des topologischen Raumes existieren Farben frei von Bedeutungen gegenständlicher Art als pure extensionale Materialitäten, als System ausgebreiteter, offener Mengen, in Häufungen und Umgebungen, in Konvergenzen und Zusammenhängen wie die Begriffe der Mathematiker lauten und wie sie in der Farbwelt Attilas demonstriert werden.

Doch sind beide [de Stael und Atila, R.D.], deren Verwandtschaft im Hinblick auf die Verarbeitung gewisser Prinzipien der Malerei, nicht deren ästhetischer Beurteilung hier zur Diskussion steht, keine Graphiker, sondern eben Maler. Denn beide haben verstanden, daß Farben stets flächige Gebilde sind, Mengen von Elementen, die letztlich nur Flächen, einschließlich linearer Teilflächen bilden können. Aber genau damit stoßen wir auf die Unterschiede: Die Farbflächen Nicolas de Staels gehören der metrischen Raumstruktur an, sie haben bestimmte, verhältnismäßige Größen und definieren Distanzen, Grenzlinien, Strecken endlicher Länge wie die Gegenstände, zu deren Formen sie gehören; es sind geschlossene Flächen, farbige Polygone, meist rechteckiger oder trapezförmiger und in selteneren Fällen auch quadratischer Provenienz, ganz ohne Illusion von Körperlichkeit oder Tiefe. Hingegen verweisen die kontinuierlichen Farbflächen Attilas sofort auf eine topologische Raumstruktur, in der die Farbzusammenhänge, die verschwimmenden Konfinien, doch nicht die diskreten Formen, die schweren Häufungen neben den zärtliohen Andeutungen blühen. Maurice Fréchet, der den topologischen Raum als Medium einer géometrie de caout-chouc verstand, in der die Formen beliebig stetig deformiert werden könnten, wenn nur der Zusammenhang ihrer Punkte, aus denen bestehend sie gedacht werden können, erhalten bleibt, würde es wohl zulassen, daß man auch in den leichtesten Farbwolken Attilas, in seinen verschwimmenden Himmeln noch die Konfinien und in diesen die offen gewordenen Flächen verschwundener Farbformen erkennt.

Vergegenwärtigt man sich nun die grundlegende These der abstrakten Ästhetik, daß nur die unwahrscheinlichen von der gewohnten Norm abweichenden Zustände der Verteilung eines Repertoires von materialen Elemente als ästhetische Zustände wahrnehmbar und deutbar sind, dann wird es klar, daß es nicht die Unwahrscheinlichkeit des Präzisen ist, die Attilas Farbkontinua in einen ästhetischen Zustand versetzt, sondern gerade eine konträre Fixierung, nämlich die Unwahrscheinlichkeit des Unbestimmten, des Nicht-Präzisen, die Ambivalenz der Konfinien, was die Akzentuierung einer wahrnehmbaren, wenn auch nur kleinsten abgrenzenden Kontur angeht.

Man muß aber auch erkennen, daß diese feinen leuchtenden Farbkonfinien materialer Farbelemente, auch wenn sie dicht zusammenhängende Farbflächen extremer Unbestimmtheit möglicher Ränder oder Konturen sind, dennoch fast geordnete Konfinien darstellen, Folgen von Farben und Folgen von Folgen von Farben, in denen mindestens partiell ein spektrales Anordnungsprinzip dominiert, zu dessen Konvergenz dann plötzlich das Dunkel, das Schwarz einer Augenbraue, eines Gesichtszugs gehören kann. Aus den statistischen Wortapproximationen Shannons an wirkliche Sätze sind hier Farbapproximationen in Konfinien an Spuren von Bedeutungen, wie Georg Nees sagen würde, geworden.

Ich habe verglichen und Vergleiche sind stets unvollständig wie jedes Schema der Wahrnehmung; ich habe auch beschrieben und zwar in der abstrakten Terminologie einer Topologie der Farbästhetik. Jede solche Terminologie erfaßt nur die platonischen Gründe einer Wirklichkeit, auch wenn sie wie in unserem Falle die Wirklichkeit selbst präpariert. Aber daß der Maler Attila eine solche tiefliegende Anregung zu geben vermag, spricht für ihn.

[Katalog: attila biro. malerei. Studiengalerie des Studium Generale der Universität Stuttgart 1973]