Vom Concreten zum Mythos
Reinhard Döhl
Die heutige Ausstellung präsentiert das Werk des Malers Atila auf mehrfache Weise. Zum einen stellt sie die von ihm bevorzugten Malweisen der Zeichnung, des Aquarells, des großen Ölbildes in einer zum Verständnis seiner Malerei ausreichenden Menge vor. Zum anderen versucht sie, indem sie in einem Fall eine Zeichnung neben dem späteren themengleichen Ölbild plaziert, etwas für Atilas Arbeitsweise Bezeichnendes sichtbar zumachen, Zum dritten läßt sie - wie ich meine - auch die Thematik seines bisherigen Oeuvres hinreichend erkennen. In einer Eröffnung der Ausstellung gehalten, die Beschreibung dieses scheinbar hermetischen Werkes in wenigen Sätzen zu versuchen, wäre Folgendes herauszustellen: 1. Atila bevorzugt Malweisen der Zeichnung, des Aquarells des großformatigen Ölbilds. Diese Malweisen begegnen in seinem Werk - was ihre Inhalte betrifft - ungleichzeitig. In der Regel gehen dem Ölbild die unabhängig voneinander entstehenden zahlreichen Aquarelle und Zeichnungen oft bis zu fünf Jahre voraus. Für sich genommen selbständig, sind sie im Arbeitsprozeß des Künstlers zugleich Durchgangsstufen der malerischen Ausformulierung dessen, was Atila gezeichnetes Gedankenkonzept nennt. Als Durchgangsstufen lassen sie einen Abbau von anfänglich oft starken Gefühlswerten, eine schrittweise Zunahme an Abstraktion erkennen, wobei es bei der endgültigen Umsetzung ins Ölbild schließlich zu vor allem farblichen Verhärtungen kommt (deutlich ablesbar etwa dem Weiß der ausgestellten Arbeiten). Der Übergang zum Ölbild, das eigentlich immer das Ziel Atlas ist erfolgt in der Regel erst, wenn die Abstraktion in der Grafik nicht weitergeführt wird. 2. Die hier ausgestellten Arbeiten zeigen ein grundsätzlich dialektisches Wechselspiel von Figur und Grund. Da beide ihre Farben der in jedem Bild vorhandener Palette des Regenbogens entnehmen, kann die Figur vor den Grund und der Grund vor die Figur treten, kann die Figur Grund und der Grund Figur werden. Die Bilder erhalten dadurch eine für das Werk Atilas bezeichnende flache Scheinräumlichkeit oder besser vielleicht: Zweischichtigkeit. Das Verhältnis von Grund und Figur hält sich dabei in etwa die Waage. Diese Konstanz läßt vermuten, daß sich hier im Ansatz auch die Thematik der Atilaschen Bilder fassen läßt. 3. Der Regenbogen ist auf diesen Bildern nicht nur Farbrepertoire, er ist im Farbverlauf - Atila selbst spricht von Farbprogression - zugleich strukturierendes und inhaltliches Element der Bilder. Keinesfalls ist er in irgendeiner Form Abbild von Natur, vielmehr - wovon noch zu sprechen sein wird - Anspielung eines mythologischer Kontextes, mythologisches Zitat. 4 Ähnliches gilt für die Figuren, die sich innerhalb der Farbprogressionen, zwischen den Flächen der Farbdurchläufe andeuten, vorzeigen oder zurücknehmen. Atila hat für sie einmal vorn Aufquellen gesprochen. Eine Behelfsüberlegung kann deutlich machen, was gemeint ist, Kinder lieben es, dort, wo Farbe Tropfen bildet, mit den Fingern einzugreifen, die Farbfläche weiterzumalen. Sie versuchen dabei, die verwischte, verschmierte Farbe in etwas Erkennbares zu überführen, das sie an etwas erinnert, das sie freut, aber auch, das sie schreckt. Ähnlich könnte man auch von den Figuren Atilas als Versuchen derartiger Erinnerung sprechen. So gesehen sind Atilas Figuren keine deformierte Realitätsabbildung, Realitätsfragment wie auch immer, vielmehr Zitat von etwas fast Verlorenem, oft Zitat ferner Kulturen und Mythologien des indischen Kulturbereichs ebenso wie des indianischen. Darüber hinaus können sie angedeutetes Bildzitat sein, etwa einer Antesfigur, einer Miróform, eines Picassoauges - nicht in einem wörtlichen Sinne, vielmehr so, daß sie sich im Augenblick des Erinnerns zugleich wieder entziehen, fremd werden. Diese Beobachtung gilt eigentlich für die ganze Figürlichkeit der Atilaschen Bildwelt, wobei die erinnernd angedeuteten Figuren augenscheinlich zumeist mythologische Qualität haben. 5. Jeder Versuch, die Arbeiten Atilas einer zeitgenössischer Stilrichtung, Tendenz oder ähnlichem zuzuordnen - nahe läge bei oberflächlicher Betrachtungsweise eine Zuordnung zu einem Neusurrealismus - jeder derartige Versuch erweist sich bei genauem Hinsehen als erfolglos. Erfolgversprechender ist auch hier wieder der weitergreifende Rückblick. So erinnert mich die flache Scheinräumlichkeit der Bilder Atilas an die Zweischichtigkeit früher Renaissance-Malerei, so hat Atila den Anstoß, seine Figuren neuerdings gelegentlich bis an den Bildrand zu führen, wie er selbst schreibt, von der byzantinischen Malerei bekommen. Dabei wird man Anstoß sowohl formal als auch inhaltlich verstehen dürfen. Zahlreiche gefüllte Skizzenbücher von zahlreichen Museumsbesuchen, nicht nur in Italien, sprechen von einer für Atila symptomatischen Auseinandersetzung mit Kunst, lassen aber auch Vorlieben erkennen, vor allem für eine Malerei, die Himmel und Erde noch glaubte in Einklang bringen zu können, oder für eine Malerei, die wie der Surrealismus versuchte, die Grenzen zwischen Ding- und Traumwelt aufzuheben Sowohl die formale, wie die farbige, wie die inhaltliche Welt der Atilaschen BiIder muß also auch gesehen werden in Korrespondenz mit kunst- und kulturgeschichtlichen Bezugspunkten, kann verstanden werden auch als Niederschlag eines Dialogs mit ihnen. 6. Die Arbeiten Atlas sind aber nicht nur Dialogmalerei in diesem Sinne, mythologische Malerei, sie sind zugleich psychologische Malerei, entstanden in einer langjährigen Auseinandersetzung, auf einem Wege vom - wie Atila es sagt - Concreten zum Mythos, wobei zunehmend Außenwelt zugunsten einer Innenwelt verdrängt wird, wobei zunehmend das Bewußte immer weiter zurücktritt auf dem Rückzug in die letzten Schlupfwinkel des Unbewußten. Indem die Arbeiten Atlas diesen Weg auch spiegeln, sind sie psychologische Malerei, einsichtiger vielleicht noch, wenn man das, was Atila das Concrete, die Außenwelt nennt, mit Realität übersetzt, der sich die Bilder zunehmend zu entziehen versuchen. Tiefenpsychologisch aufschlußreich hat Atila in diesem Zusammenhang auch von der Abkapselung des Ich wie in der Gebärmutter gesprochen. Doch scheint er mir dabei weniger den Jungschen Archetypen auf der Spur als vielmehr auf der Suche nach einem, nach dem Urmythos. 7. Man muß sich in diesem Zusammenhang noch einmal an Atlas Regenbogen erinnern, daran, daß er nicht als Abbild von Natur, sondern als mythologisches Zitat verstanden werden will. Der Regenbogen spielt in zahlreichen (eigentlich in allen) Mythologien eine besondere Rolle als göttliches Zeichen. Für den christlich-abendländischen Bereich, dem ja auch der Maler Atila zugehört, begegnet er nach der Sintflut als Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen, als Symbol der Verbindung von Himmel und Erde. Er ist aber schöpfungsgeschichtlich zugleich Zeichen dieser Verbindung nach Sintflut und Sündenfall, und damit zugleich Zeichen dafür; daß die Vertreibung des Menschen nicht rückgängig zu machen ist. Ähnlich wäre die Bedeutung des Regenbogens in anderen Mythologien zu erklären. Der Regenbogen ist also, so gesehen, der äußerste Punkt, bis zudem eine Rückkehr noch möglich ist. Eine Rückkehr über den Regenbogen hinaus gibt es nicht. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß Atila parallel dazu ja auch nicht von der Abkapselung des Ichs in der Gebärmutter spricht, vielmehr von der Abkapselung des Ichs wie in der Gebärmutter, damit zugleich andeutend, daß eine konkrete Rückkehr nicht möglich ist, Der Rückzug aus der Realität ist also nicht Realitätsflucht. Die Realität, die Atila als zu hart erscheint, die er nicht verträgt, meint nicht das tagtäglich konkret Begegnende, sondern die tägliche Erfahrung eines radikalen Entfremdungsprozesses, die Erfahrung der weitesten Entfernung von einem im Mythos angenommenen paradiesischen Urzustand. Atilas Bilder könnte man seit spätestens 1964 entsprechend als immer deutlichere Versuche verstehen, malerisch diesen Entfremdungsprozeß bis an die Grenze des Regenbogens aufzuheben. So würden diese Bilder letztlich ihre Spannung auch daraus beziehen, daß sie das Unerreichbare wollen, aber nur den Regenbogen erreichen. [7.5.1996] |